19. Abstand
"After all, tomorrow is another day." - Margaret Mitchell
Reed bereute den Kuss. Es gab keinen anderen Entschluss als diesen. Den ganzen Tag hatte ich ihn nirgends in der Schule ausmachen können und als ich Hayden darauf ansprach, meinte dieser nur, dass Reed keine Lust hatte zu kommen. Für mich war die Sache damit ziemlich eindeutig im Grunde und obwohl es mich nicht stören sollte, fand ich sein Verhalten ein wenig verletzend. Erst küsste er mich, dann verschwand er einfach und nun versteckte er sich vor mir? Was dachte er denn, was ich nun mache, dass ich an ihm klebe und denke, wir wären ein Paar? Ich war nicht so naiv und ich war sicher nicht so bedürftig, doch wenn er dieses alberne Spiel spielen wollte, na bitte. Ich würde nicht einem Kerl wie ihm nachtrauern und ihn aufsuchen oder um ein Gespräch bitten, auch wenn er mir eines schuldete! Dieses Mal hatte ich nämlich rein gar nichts falsch gemacht, war keine Nervensäge gewesen oder mal wieder zu neugierig. Das war allein sein Verdienst!
Auf Bitten von Daisy begleitete ich sie nach der Schule mit ins Quartier, da sie so gut es ging es vermied nach Hause zu gehen aber auch nicht unbedingt allein sein wollte. Ich hatte angeboten, dass sie mit zu mir könnte, doch offenbar war es den anderen Eingeweihten lieber, wenn ich meine Nachmittage von nun an auch im Quartier verbringe, solange sie nicht wüssten, was Kellin vorhat und ob er mir schaden wollte.
Es war schon anstrengend genug in der Schule gewesen, wenn ständig irgendwelche Bewacher da waren, es hatte auf jeden Fall genug schräge Blicke von den anderen Schülern gebracht und ich hasste es im Mittelpunkt zu stehen oder zu viel Aufmerksamkeit abzubekommen. Von nun an würden Wachen des Quartiers mich in die Schule begleiten, in den Gängen auf mich warten und mich anschließend eben entweder ins Quartier oder zu mir nach Hause bringen. Ich kam mir vor wie ein Superstar, nur ohne den Ruhm und natürlich war der Strom an Gerüchten enorm, aber ich versuchte sie alle zu ignorieren.
Ein paar Tussen hatten Vermutungen aufgestellt, ich sei die Tochter irgendeiner königlichen Familie, Scott Harvey hatte mich vom Weitem schräg gemustert, aber immerhin dank meines Begleitschutzes großen Abstand gehalten, und Dawson oder Chris hatte ich nicht zu Gesicht bekommen, fragte mich, wo die zwei sich denn aufgehalten hatten den Tag über, doch eigentlich konnte es mir gleich sein.
„Wieso ist Hayden nicht mitgekommen?", fragte ich die Blondine, als wir durch die langsam vertrauten Gänge des Quartiers liefen in Richtung des Großen Saals. Ich war nun schon oft genug hier ein- und ausgegangen, um nicht mehr von allen Seiten entsetzt angesehen zu werden, weil irgendwer dachte, ich wäre Malia. Ich wurde akzeptiert und ich fing an andere Leute langsam auch wiederzuerkennen, Leute, deren Namen ich nicht kannte, doch die auch irgendwie hier arbeiteten, entweder als Wachen, Berater oder weiß Gott, was ihre Aufgaben hier waren.
„Er wollte zu Reed und irgendwas klären", sagte sie, schien selbst nicht mehr zu wissen und auch wenn ich mich brennend dafür interessierte, was die zwei zu klären hatten, fragte ich nicht weiter nach.
„Hast du Lust einen kleinen Umweg durch das Dorf zu machen? Ich denke, du warst noch nicht dort bis jetzt, oder?" Fragend sah ich Daisy von ihren Worten an. Was für ein Dorf bitte?
„Hier gibt es ein Dorf?"
„Ein kleines, für die Wächter. Es gibt dort kleine Häuser, Läden, Tempel, alles Mögliche im Grunde. Es ist wie ein versteckter Ort, wo man unter den Mitgliedern sein kann", sagte sie und ich war verblüfft von dieser Information stehen geblieben. Warum hatte mir bis jetzt niemand davon erzählt? Es gab hier ein ganzes Dorf und ich war bis jetzt nur hier drinnen gewesen?
„Klingt ja mal mega cool."
Ich ließ mich nur zu gern von Daisy also durch einen Umweg in das Dorf führen. Man konnte es durch einen extra Gang erreichen, der bis jetzt mein neuer absoluter Favorit war, denn er war in einem Stil gebaut worden, so dass man sich fühlte, als ob man in einem alten französischen Haus sein würde, es wirkte kuschelig hier drinnen, roch nach Holz und Wald und aufgeregt fragte ich mich, wie dieses Dorf wohl aussehen würde, wie groß es wäre, was mich erwarten würde. Wie viele Leute lebten dort? Wie anders wäre es als gewöhnliche Dörfer dort draußen?
Obwohl ich mir so einiges vorstellte, so übertraf die Realität dann nochmal alles um ein großes Stück. Als der Gang endete und ein Tor nach außen freigab, glaubte ich das erste Mal wirklich, das alles wäre magisch. Vor uns befand sich eine kleine Welt der Magie. Ja, ich konnte es nicht anders beschreiben.
Überall standen kleine Häuser, die einfach niedlich von der Struktur wirkten, ein kleiner Markt war in der Mitte zu sehen. Es waren viel mehr Leute hier als erwartet und die Wege führten bis in die Wälder hinein. Wie hatte ich all das bis jetzt nicht sehen können? Wie wurde das so gut verborgen?
„Hier ist jeder ein Teil der Wächterfamilie oder anderweitig irgendwie eingeweiht. Es gibt so viele Abzweigungen von den Hauptwächterlinien und viele dieser Familien haben seit Jahrzehnten keine eigenen Wächter mehr vollbracht, aber sind dennoch mit allem hier verbunden."
„Und die leben alle hier?", fragte ich, war erstaunt, dass so viele Menschen Teil der Wächter zu sein schienen, hatte immer gedacht, es würde kaum Eingeweihte geben.
„Nein, viele sind auf Durchreisen, andere sind hier, weil es der größte Punkt Europas ist, was die Wächter angeht, man fühlt sich unter Gleichgesinnten wohler und im Grunde sind viele hier auch entfernt irgendwie miteinander verwandt", erklärte Daisy mir, während wir weiterliefen, uns dem Trubel näherten.
An den Seiten standen Musiker, die teilweise schöne, teilweise lebhafte Musik spielten, überall wurden Sachen verkauft, Schmuck, Obst, Kräuter und ich wusste gar nicht, wie mir geschah.
„Aber wenn es so viele Familien gibt, wieso sind dann nur so wenige wirklich Wächter?", fragte ich und dachte an Haydens Familie, wo all seine Geschwister die Kraft geerbt hatten, doch in meiner Familie hatte es seit Malia keiner mehr direkt geerbt.
„Sie gehören nicht zu den fünf größten Familien", meinte sie schlicht. „Also, an sich schon, sie stammen alle von ihnen ab, doch nicht direkt. Die Hauptfamilien sind die Wentworths, die Noirs, die Lundgrens, die Aasen und die Karimis. Wenn du aus einer dieser Familien direkt stammst, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass du ein Wächter bist, anders passiert es seltener." Das ist so krass. Ich wusste es nicht anders zu beschreiben. Dass so viele Menschen Bescheid wussten, Teil von allem waren, es war faszinierend. Vielleicht gab es hier Leute, die über fünf Ecken mit mir verwandt waren? Es war ein eigenartiger Gedanke und doch auch irgendwie aufregend.
Während wir an den Leuten vorbeiliefen, ich mir mit großen Augen die ganzen Verkaufsstände ansah, merkte ich, wie wir viele Blicke abbekamen und ich war etwas überfordert damit. Lag es an den Schuluniformen? An Daisys Schönheit? Gerade, als ich sie fragen wollte, beantwortete sie mir die Frage schon. „Wenn du ein richtiger Wächter bist, behandeln viele einen anders. Viele dieser Leute leben nach alten Bräuchen, das heißt, sie sehen die Wächter noch als die Gesandten der Götter an und wenn du ein Wächter der großen Familien bist, dann bist du etwas Königliches fast schon in ihren Augen. Ist ein wenig schräg, aber man gewöhnt sich daran." Ich sah die Leute nach Daisys Schilderung nun genauer an und tatsächlich wirkten die meisten ehrfürchtig uns zu sehen, eingeschüchtert oder fasziniert. Woher sie wussten, wer wir waren, wusste ich nicht, aber es war wirklich komisch so angestarrt zu werden, weswegen ich versuchte sie auszublenden und die Geschäfte hier eher anzusehen. Ich hatte gerade den Malia Glanz erst abschütteln können, da wollte ich nun nicht so angesehen werden, weil man mich für königlich hielt.
Es gab viele Kräuterläden und Verkaufsstände, die irgendwas mit den Göttern zu tun hatten, dann noch viele gewöhnliche Stände, wo es Obst, Gemüse, Fisch und Fleisch gab, dann aber auch wiederum sehr außergewöhnliche Dinge wie irgendwelche Tränke oder Läden, wo man Tiere zum Opfern kaufen konnte. Man sah recht schnell, dass hier wirklich die verschiedensten Religionen gleichermaßen irgendwie verehrt wurden. Ich erkannte Statuen, die an griechische, römische, nordische Götter gedacht wurden, sah Symbole aus dem Hinduismus, sah Kreuze und Davidsterne. Das war ein unglaublicher Ort
„Das ist alles so viel", staunte ich, als Daisys sich frisches Obst an einer der Stände kaufte und der Verkäufer darauf bestand, dass sie nicht zu zahlen hatte, sich richtig beleidigt fühlte, weil sie es dennoch versuchte.
„Ich finde es wundervoll, deswegen bin ich so viel lieber hier als daheim", sagte sie, verlor schließlich den Kampf um das Geld, behielt es und lief mit mir weiter. „Dort hinten sind die Langzeithäuser und in den Wäldern gibt es die Tempel. In den Legenden heißt es, dass unter dem Dorf ein uralter Tempel noch stehen sollte, dessen Eingang verloren gegangen ist."
„Wie kann man einen Eingang verlieren?"
„Wenn ich das nur wüsste", lachte sie und lief wieder mehr in Richtung des Hauptgebäudes, zurück zu unserem eigentlichen Ziel, dem Großen Saal.
Zu gern wäre ich länger geblieben, hätte mehr gesehen, doch ich war wie sie wohl auch erschöpft von dem Tag, brauchte Ruhe und so folgte ich ihr zurück nach Innen.
Daisy ließ sich wie sie es wohl gern tat einfach in der Mitte des Saals auf dem Boden nieder und seufzend tat ich es ihr gleich.
„Und du verbringst all deine Nachmittage hier?"
„Nicht immer, aber oft. Es ist so ruhig hier, da derzeit nicht sehr viele Leute hier arbeiten, es nicht viele Wächter gibt und weil die meisten es nicht nötig halten oft anwesend zu sein, also hat man viel Ruhe und eine nette Umgebung obendrein, außerdem ist das Dorf immer wieder schön zu besuchen", erklärte sie mir und ich konnte es nachvollziehen. Es war ruhig hier, auch wenn es genug Wachen gab, die für die Sicherheit sorgten.
„Was machen die Wächter selbst hier eigentlich", fragte ich, konnte nicht verstehen, was ein Wächter hier tun würde, wenn er seine Kraft erst einmal im Griff hat.
„Sie müssen nichts tun", erwiderte Daisy schlicht. „Wenn es größere Konflikte gibt, könnten sie eine Hilfe sein, aber es gibt schon lange keine Konflikte mehr, meistens sind sie eher hier, weil sie auch hier arbeiten oder weil ihre Kinder hier wissensmäßig unterrichtet werden oder eben weil man im Dorf immer wieder Bekannte treffen kann."
Tatsächlich hatte ich ab und an bei meinen Besuchen hier kleine Gruppen an jüngeren Kindern gesehen, mein Bruder selbst ging nun auch alle paar Tage hierher, um alles Nötige über die Wächter zu wissen, es war immerhin das Erbe der Familie und es durfte nicht in Vergessenheit geraten werden, außerdem sollte er nicht so planlos sein wie ich, falls es ihn treffen sollte.
„Und hast du mal vor hier zu arbeiten?", fragte ich, versuchte mir vorzustellen, hier einen Job zu haben. Ich wusste mittlerweile, dass mein Großvater bis zur Rente hier tätig war, jetzt immer noch viel mithilft. Es wäre seltsam mit Warren als Chef hier Tag ein Tag aus zu sein, mit unfreundlichen, mürrischen Leuten wie Mr Theodor Spencer oder dem netten, aber auch sehr eigenartigen Mr Norbert.
„Eigentlich nicht", erwiderte Daisy lächelnd. „Auch wenn ich es mir witzig vorstelle, allein um zu sehen, ob Mrs Flores und Warren mal endlich zusammenkommen."
„Mrs Flores und Warren?", fragte ich verblüfft und brachte sie zum Lachen. „Hast du das Knistern noch nicht bemerkt? Er steht total auf sie, erfüllt ihr jeden Wunsch, aber von ihrer Seite ist es schwer zu merken, ob da mehr läuft oder nicht."
„Sie wären ein nettes Paar, aber ist sie nicht verheiratet?", meinte ich, grinste bei der Vorstellung, wie die zwei zusammen wären. Da wäre die nette und gleichzeitig auch so autoritäre Mrs Flores und der einige Jahre jüngere Warren, der im Grunde ihr Vorgesetzter war, auch wenn man meinen könnte, Mrs Flores hat mehr zu sagen als er.
„Nein, dieses Mrs vor dem Namen hat sich irgendwie einfach im Laufe der Zeit ergeben, aber mal sehen, ob es sein soll oder nicht", erwiderte sie und ich wollte etwas darauf erwidern, als wir jedoch unterbrochen wurden. „Daisy", rief ein Mädchen nämlich freudig aus, die den Raum betrat und verwundert drehte ich mich zu ihr, hatte sie noch nie vorher gesehen. Sie hatte langes, dunkles Haar, eine olivfarbene Haut, sah wunderschön aus und kam mir nun, wo ich sie genauer ansah, doch irgendwie vertraut vor. Hatte ich sie nicht doch irgendwo schon einmal gesehen?
„Iran", rief Daisy genauso freudig zurück und sprang auf, um sie kurz in die Arme zu schließen. „Ich habe dich lange nicht mehr hier gesehen."
„Ja, ich war im Sommer in Brasilien und wollte kaum mehr weg so heiß waren die Kerle dort", lachte das Mädchen, das wohl Iran hieß.
„Beneidenswert. Ich sitze hier ja fest", erwiderte Daisy und ich stand auf, als die Neue mich nun richtig bemerkte.
„Das ist also Reeds neue Partnerin", sagte sie und musterte mich kurz. „Du musst starke Nerven haben."
„Ja, ich denke, ich halte nicht mehr lange durch", erwiderte ich freundlich und brachte sie laut zum Lachen. Sie besaß die Art Lachen, die wohl immer überall zu hören waren, die Vögel verscheuchen könnten und einen automatisch ansteckten, so lebhaft klang es.
„Ignoriere ihn so gut es geht, so mache ich es immer, der Typ ist einfach krass bescheuert im Kopf, heiß, aber auch so ein Mistkerl", sagte sie, als sie sich wieder eingekriegt hatte und warf sich ihr dunkles Haar zurück.
„Ich gebe mein Bestes."
„Oh, Iran ist übrigens die ältere Schwester von Nasrin. Sie ist keine offizielle Wächterin aber Teil der Unterweltlinie", klärte Daisy mich darüber auf, mit wem ich es hier zu tun hatte und sofort fiel mir auch wieder ein, wieso sie mir bekannt vorkam. Sie sah ihrer jüngeren Schwester sehr ähnlich. Sie hatte nur eben die erwachseneren Gesichtszüge, war ein wenig größer, aber ansonsten sahen sie identisch aus.
Iran blieb noch eine Weile bei uns, wobei Daisy und sie sich viel zu erzählen hatten, sie mich jedoch geschickt in ihre Gespräche mit verwickelten, worüber ich froh war, sonst hätte ich mich nur wie das fünfte Rad am Wagen gefühlt. Iran schien cool und lässig drauf zu sein, hatte ein sehr loses Mundwerk und sprach gerne sehr frei heraus, hatte eindeutig eine Einstellung drauf, die zeigte, dass ihr die Meinungen der meisten aber völligst am Arsch vorbeiging und ich fand das bewundernswert. Ich wünschte, ich könnte so sein, doch egal wie sehr ich es auch versuchte, so locker würde ich nie sein. Im tiefsten Inneren war es mir irgendwie schon wichtig, was die meisten von mir hielten, auch wenn ich mein Leben nicht danach ausrichten würde.
„Ich habe gestern Holly gesehen, wenn du mich fragst, tüfteln sie und die anderen Schwachköpfe irgendwas aus", sagte Iran abwertend und teilte eine Tüte voll Chips mit uns, die sie dabei hatte und die ich fast schon ganz allein verputzt hätte, so verfressen wie ich war. „Die benehmen sich alle merkwürdig in letzter Zeit."
„Sie sind immer merkwürdig, aber ich bezweifle, dass sie irgendwas machen, ihre Eltern sind die Köpfe des Bösen", erwiderte Daisy und ich hob verwirrt meine Augenbrauen in die Höhe, doch um wen ging es hier bitte?
„Wer ist Holly?"
„Holly Graham, Linie des Krieges, sie ist eine Bitch", klärte Iran mich augenverdrehend auf und ich wurde, wenn es denn ging, nur noch mehr verwirrt. Bitte welche Linie?
„Linie des Krieges? So etwas gibt es? Ich dachte, es gibt nur fünf Wächter?"
„Es sind ja auch keine Wächter, du Depp, es sind die Reiter", sagte Iran und nun verstand ich wirklich gar nichts mehr, was Daisy dazu brachte, erheitert aufzulachen. Was für Reiter bitte? Hatte ich irgendwas verpasst?
„Dir hat keiner davon bisher erzählt, oder?"
„Nein, was denn?", fragte ich.
„Es gibt fünf Wächterlinien aber es gibt natürlich auch noch so viel mehr als das, unsere größten Feinde aber sind die Vier Reiter, wie die Apokalyptischen Reiter aus der Bibel und alles", sagte Iran schmunzelnd. „Die Linie des Krieges, der Hungersnot, der Pest und des Todes."
„Und die haben auch Kräfte?" fragte ich leicht schrill. Ich stellte mir das alles andere als schön vor, sogar eher im Gegenteil. Wenn jemand böse war und aus Linien mit solchen Namen kam, bedeutete das doch nur was Schlechtes.
„Nicht so wie wir, nein. Die Linie des Todes ist ironischer Weise schon seit Jahrhunderten ausgestorben, aber sie sind dennoch gefährlich, wollen die Wächter vernichten, die Welt ins Chaos stürzen und sollen auch an dem Ende der fünften Wächter beteiligt gewesen sein."
„Und diese Leute sind hier in London und wollen uns was? Töten?", fragte ich besorgt, doch warum hatte mir niemand davon erzählt? War es nicht wichtig, dass ich das wusste? Mich verteidigen konnte, gewappnet für das unvermeidbare wäre?
„Quatsch", sagte Daisy beruhigend. „Iran übertreibt gerne und hat ihre persönlichen Differenzen mit Holly, sie ist etwas älter als wir, altern auch etwas anders im Grunde und sind etwas streitsüchtig, aber von den Reitern ist nicht viel Gefahr auszugehen. Sie waren früher sehr mächtig und furchteinflößend, doch seit Jahrzehnten gab es keinen offenen Krieg mehr."
„Das heißt nicht, dass sie nichts planen und denke daran, dass sie trotzdem in krassen Kreisen hier verkehren. Londons Untergrundszene besteht doch praktisch nur aus denen", merkte Iran an. „Ich traue diesen Leuten nicht. Die werden nicht alle plötzlich gut und wollen Frieden, die Sache stinkt, aber keiner will mir ja zuhören."
„Weil man keinen Ärger will. Derzeit gibt es auf der Welt zwischen unseren Gruppen keine sehr starken Kriege, da will man es nicht riskieren", mahnte Daisy sie.
„Mag sein, aber man sollte sie dennoch im Auge behalten, aber wie auch immer, ich muss wohl leider los, es ist ja schon so spät geworden und ich darf jetzt dann Nasrin endlich sehen." Sie sah auf ihr Handy, als sie das sagte, erhob sich von unserem kleinen Kreis, verabschiedete sich von uns und gerne hätte ich noch mehr zu diesen Reitern gefragt, wie viele es gab, wo sie sich aufhielten, was in der Vergangenheit alles geschehen war, doch andere Dinge beschäftigten mich mehr als das und ich würde einfach Mr Norbert dazu ausfragen, wenn ich ihn wiedersehe. Jetzt musste ich aber zuerst einfach jemanden von Reed erzählen, von dem Kuss und Daisy kannte ihn im Gegensatz zu Elin und sie war die einzige weibliche Freundin, die ich hier hatte.
Ursprünglich hatte ich es für mich behalten wollen, doch irgendwie hatte das Reden von Bedrohungen mich nur wieder an Kellin denken lassen und dann kam mir natürlich auch gleich Reed wieder in den Sinn.
„Kann ich dir was sagen, ohne dass du es Hayden oder irgendwem sonst erzählst?" Verwundert sah die Blondine zu mir, nachdem Iran weg war, war gerade dabei gewesen, die leere Chipstüte ordentlich zu falten. Sie legte sie nun zur Seite, um sich einen Apfel aus ihrer Einkaufstüte zu ziehen.
„Natürlich doch", versicherte sie mir und ihre hellen Augen sahen mich besorgt und neugierig zugleich an.
„Es geht um Reed, er... ich weiß nicht, wieso er das getan hat, es ist total bescheuert eigentlich und kam so unerwartet und im Grunde hat er alles damit komplizierter gemacht als es notwendig wäre und..."
„Ganz ruhig, Alice", lachte Daisy und nahm meine Hand in ihre. „Atme erst einmal tief durch und sammle dich. Was hat Reed getan?"
„Er hat mich geküsst", sagte ich und atmete tief durch, wie sie es verlangte und wie zu erwarten, schien sie verblüfft von meinen Worten zu sein. Ihre Augen weiteten sich etwas und sie schien das genauso merkwürdig zu finden wie ich.
„Er hat dich geküsst?"
„Ja."
„Einfach so?"
„Er hat mir sicher nicht seine Liebe erklärt und um ehrlich zu sein glaube ich, dass er selbst nicht einmal wusste, wieso er das tat. Es geschah so plötzlich und unerwartet."
„Sehr unerwartet würde ich sagen. Reed ist, wenn es um solche Dinge geht, laut Hayden, sehr eigen", sagte Daisy erstaunt.
„Ich weiß einfach nicht, wieso er das tut und dann ist er, ohne was zu sagen, abgehauen und nun kommt er nicht in die Schule, was soll das denn?"
„Ich habe keine Ahnung. Es ist sehr untypisch für ihn. Er hält Abstand von der Liebe und soweit ich weiß hat er nur selten was mit Mädchen und wenn dann meistens betrunken auf irgendwelchen Partys", erklärte Daisy mir und ließ meine Hand wieder los.
Ich schüttelte verzweifelt den Kopf, raufte mir meine braunen Haare, doch die Sache machte mich wahnsinnig.
„Ich will das mit uns nicht so ins Chaos stürzen, aber diese Aktion macht die Sache so kompliziert", jammerte ich und mitleidig sah sie mich an. „Was empfindest du denn für ihn?"
„Ich für ihn?", fragte ich irritiert von der Frage. Was empfand ich denn für Reed? Ich kannte ihn kaum und doch waren wir verbunden. Ich war in gewisser Weise fasziniert von ihm, fand ihn gutaussehend und er war mir sicher irgendwie auch wichtig. Mir war bewusst, dass sie jedoch auf was anderes hinauswollte als das.
„Ich liebe ihn nicht. Wie könnte ich? Die meiste Zeit ist er ein gemeiner Arsch und wenn er das gerade nicht ist, dann behandelt er mich wie ein unwissendes, kleines Mädchen."
„Vermutlich ist er einfach überfordert mit deiner Nähe", sagte Daisy lächelnd. „So eine Bindung kann einen durcheinanderbringen und er verbringt plötzlich viel Zeit mit dir, du reißt womöglich alte Wunden in ihm auf, ohne es zu wollen und dann ist es um ihn geschehen."
„Dann soll er doch bitte mit mir darüber reden und sich nicht einfach feige verstecken!", murrte ich und sehnte mich wieder nach meinem alten, friedlichen Leben ohne solche Dramen.
„Ich denke Kerle sind seltsam in solchen Dingen", lachte Daisy auf und ich konnte ihr nur recht geben.
„Ist Hayden denn genau so?"
„Ich denke Hayden und Reed unterscheiden sich innerlich so sehr wie man nur kann", merkte sie erheitert an. „Hayden spricht mit einem, ist nett, herzlich und außerdem schläft er mit allem, was bei drei nicht hoch oben auf einem Baum sitzt."
„Wirklich?", fragte ich erstaunt, hätte ihn so nicht eingeschätzt. Mir war bisher nicht aufgefallen, dass er so ein Player war. Klar war er hübsch und sehr charmant, doch ich hatte ihn nie offen mit einem Mädchen draußen herumturteln gesehen.
„Ist manchmal anstrengend, weil viele sich erhoffen, dass es mehr werden könnte, obwohl er ihnen von Anfang an klar macht, dass er das nicht will und dauernd will er an den Wochenenden auf irgendwelche Partys gehen, es kann sehr anstrengend sein."
„Wer hätte gedacht, dass Hayden der Aufreißer ist und Reed das Sensibelchen."
„So sehr übertreiben würde ich es nun auch nicht, aber ja, die zwei sind ziemlich verschieden", sagte sie. „Dennoch ist Hayden toll, ich werde auf ewig in seiner Schuld stehen dafür, wie sehr er mir geholfen hat, mir immer noch hilft."
„Wie macht es sich bei eurer Linie mit den Kräften erstmals eigentlich bemerkbar? Ich weiß, dass ich aufwachte und alle Pflanzen mein Zimmer verschlungen hatten, aber wie war es bei dir?", fragte ich und versuchte mir vorzustellen aus einer anderen Linie zu stammen und eine spezielle Bindung zum Gott der Unterwelt zu besitzen. Es war erschreckend gruselig.
„So in der Art war es bei mir wohl auch", antwortete sie, ergriff die leere Türe neben sich wieder und fing an die zu zerknüllen, schien eindeutig nicht gern darüber reden zu wollen und ich wollte ihr schon sagen, dass sie es auch nicht müsste, da sprach sie schon weiter. „Ich wachte eines Tages auf und da war ein fremder Mann in meinem Zimmer. Es war so verdammt heiß im Raum, obwohl es mitten im Winter war und ich dachte schon meine Heizung würde überdrehen, bis ich ihn bemerkte." Sie verengte die Augenbrauen in der Mitte, sah mich nicht an.
Hatte er ihr was angetan? Sie verletzt? Ich hatte mir nie viele Gedanken über den Tod, die Hölle oder den Teufel gemacht. Ich wusste nicht so recht, was ich mir hierbei vorstellen sollte. War er ein seltsames Wesen mit Hörner auf dem Kopf? Ein Typ mit einem schwarzen Umhang? Trug er einen Anzug und sah aus wie ein feiner Gentleman? Ich hatte keine Ahnung, doch Daisy wusste es.
„Was hat er getan?", fragte ich vorsichtig und ihre Mundwinkel zuckten leicht, als sie zu mir aufsah. „Er hat mich einfach angesehen", erwiderte sie und ich sah Tränen in ihren Augen glitzern, „und obwohl er ein Fremder war, ich ihn nicht kannte, so konnte ich nichts tun. Ich wollte schreien, doch es war als würde kein Laut meine Lippen verlassen, ich war wie in einem Bann, hatte grauenvolle Angst und doch... es war als wäre ich fasziniert von ihm."
„Hat er..."
„Er hat mir nichts getan, wenn du das wissen willst", beruhigte sie mich und wischte sich ihre Tränen weg. „Aber seine Art, die Aura, die ihn umgab, das Versprechen, das er mir gab... ich will ihn einfach nie wieder sehen müssen und mit Hayden habe ich es unter Kontrolle. Meine Eltern haben gesehen, wie verstört ich war und als sie wussten, was los war, haben sie mich gleich im Quartier ruhigstellen lassen. Sie alle waren so besorgt darüber, was für eine Wirkung er auf mich haben könnte, ob er mir schaden würde, mich ausnutzen würde, irgendwas dergleichen, es gab ein riesiges Drama und dann war da Hayden, mein einziger geeigneter Partner, der mir half." Sie lächelte glücklich bei der Erinnerung und ich lächelte ebenso. Auch wenn diese Gottheit ihr nicht geschadet hatte, ich wollte sie gewiss auch niemals in der Nähe von ihm sehen müssen. Daisy schien so rein und unschuldig zu sein, in den Händen von so jemanden... ich wollte es mir nicht vorstellen müssen.
„Ihr zwei harmoniert perfekt zusammen", sagte ich, beneidete die zwei, doch Reed und ich würden uns nie so gut verstehen. Wir zwei waren viel zu unterschiedlich dafür, waren aus anderen Welten. Er war dieser Typ, der so viel erlebt hatte und nur seine Ruhe wollte und dann war da ich, ich naives, ahnungsloses Ding.
„Reed und du, ihr werdet euch sicher auch irgendwann gut verstehen", munterte sie mich auf und stand auf, wo sie mir auch auf die Beine half.
„Ich hoffe es doch."
Daisy wollte noch unbedingt Mrs Flores aufsuchen gehen und ich hatte eine Nachricht von meiner Mum bekommen, dass sie da wäre, um mich abzuholen. Ich machte mich also auf den Weg in die Eingangshalle, verabschiedete Daisy unterwegs und wollte nur noch Heim, hörte jedoch schon von weitem den Streit zwischen meiner Mutter und Mrs Wentworth, der Mutter der Zwillinge.
„Du hast doch keine Ahnung, wovon du überhaupt sprichst", zischte diese gerade abwertend an meine Mutter gerichtet und ich sah, wie sie daraufhin empört auf keuchte. „Bitte? Das ist immer noch meine Tochter, Rosa!"
„Und ich sage dir-"
„Störe ich?", unterbrach ich die beiden Frauen, bevor sie sich weiter anschreien konnten und daraufhin sahen sie beide verschreckt zu mir. Meine Mutter schuldig und Mrs Wentworth kurz irritiert, ehe sie mich genauer musterte.
„Nicht im geringsten, Liebling, lass uns gehen", sagte meine Mutter, die ihre Hand nach mir ausstreckte.
„Ich finde, wir sollten vorher noch offiziell vorgestellt werden", mischte sich Mrs Wentworth jedoch ein, schenkte mir ein strahlendes Lächeln, als sie auf mich zulief. „Ich bin Rosa, die Mutter von Hayden und Reed, und du bist also Alice."
„Ja, die bin ich", sagte ich, wusste nicht ganz, was ich von ihr und der ganzen Situation halten sollte.
„Hayden spricht in den höchsten Tönen von dir", merkte sie an und mich wunderte es nicht, dass Reed wohl nichts dergleichen erwähnte. Idiot.
„Ja, Hayden ist auch wirklich nett, ich weiß ihn sehr zu schätzen."
„Du scheinst aber auch einen bleibenden Eindruck auf Reed hinterlassen zu haben", sagte sie, nun deutlich vorsichtiger.
„Ok, ich denke das ist genug", sagte meine Mutter harsch und bekam einen kalten Blick von Mrs Wentworth dafür ab. „Was? Unsere Kinder sind Partner, ich denke, da sollte man Feindschaften untergraben, Cecilia."
„Sollte man das also?", fragte meine Mutter angriffslustig und ich wollte nicht wirklich weiter beteiligt an diesem Streit sein müssen, wollte nur nach Hause.
„Na gut, ich denke, wir sollten gehen, Mum", meinte ich deswegen besänftigend und zog sie weg von ihrer Feindin.
„Wir sehen uns sicher bald wieder und können weiterreden, Alice", verabschiedete Mrs Wentworth sich noch freundlich von mir, ehe sie weiterlief und ich es schaffte, meine Mutter mit nach außen zu ziehen, froh war weg zu kommen. Was war nur mit den beiden? Worüber stritten sie sich denn ständig? Die waren ja schlimmer als Reed und ich.
„Was war das denn?", fragte ich sie auf dem Weg zum Auto.
„Nichts, wir zwei verstehen uns nur nicht gut."
„Habe ich gesehen. Willst du mir auch verraten, worum es in eurer Diskussion ging?", fragte ich und stieg auf der Beifahrerseite ein.
„Belangloses im Grunde. Wir beide stehen etwas auf Kriegsfuß miteinander, seit ihr Sohn Malia entführte. Ich habe ihr klargemacht, wie wenig ich diesen Reed in deiner Nähe wissen will, während sie denkt, je näher er dir wäre umso besser."
„Wieso denkt sie das bitte?", fragte ich, konnte mir nicht vorstellen, dass er das auch so toll finden würde. Wusste er denn Bescheid über das Vorhaben seiner Mutter? Er wollte sicher kaum noch öfters bei mir sein als notwendig.
„Wenn ich das nur wüsste. Anscheinend ist deine Nähe gut für ihn, aber ich will dich nicht öfters in der Nähe von diesem Jungen sehen als notwendig, verstanden Alice? Er bringt nur Ärger, diese ganze Familie bringt nur Ärger." Tadelnd sah sie mich an, als sie den Motor startete und ich nickte gehorsam, hatte eh nicht vor weiter in seiner Nähe sein zu müssen, glaubte nicht, dass er je wieder in meine Nähe kommen würde, nicht so wie im Irrgarten zumindest.
Wörter: 4838
Aloha :) Kein Reed aber im Nächsten kommt er dann ja wieder vor. Ich hoffe euch hat das Kapitel dennoch gefallen xx
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