15. Geliebter Bruder
"You can close your eyes to the things you don't want to see, but you can't close your heart to the things you don't want to feel." – Johnny Depp
Das restliche Wochenende hatte ich friedlich verbracht. Ich hatte Zeit mit Dari verbringen können, versucht etwas für die Schule zu tun und meinen Kopf ansonsten frei von allem, was mit den Wächtern zu tun hatte, gehalten. Elin versuchte nicht mehr mich anzurufen, hatte es aufgegeben mir zu schreiben und ich fühlte mich grauenvoll sie so zu ignorieren, weswegen ich ihr gestern eine Nachricht schrieb, in der ich meinte, mich bald zu melden, nur dass mein Leben gerade noch schräger geworden ist, als ich es je hätte vorausahnen können. Sie hat darauf nicht geantwortet, doch ich nahm es ihr nicht übel sauer zu sein, ich wäre stinksauer gewesen, wenn sie mich so lange einfach ignorieren würde, aber bevor ich nicht wusste, wie ich ihr das alles sagen sollte, bevor ich nicht selbst besser mit allem klarkam, so würde ich schweigen. Ich müsste mir die Sache richtig zurechtlegen, konnte kaum einfach mit der Sache herausplatzen, sie würde doch denken, ich wäre irre. Ich würde zumindest denken, sie wäre irre, wenn sie mir solche Dinge berichten würde, doch hierbei war auch rein gar nichts normal. In so kurzer Zeit hatte mein Leben sich so drastisch verändert, es war verwirrend.
„Ich verstehe nicht, wieso Lehrer schon gleich am Anfang des Schuljahres so übertreiben müssen mit dem Schulstoff", seufzte Hayden genervt, der sich auf der Bank vor der Schule niederließ, wo wir meistens unsere Mittagspausen verbrachten, wenn es nicht gerade am Regnen war. Es war komisch, wie ich nach einer Woche hier schon einen geregelten Ablauf annehmen konnte, doch es war irgendwie so normal mittlerweile hier zu sein, fühlte sich gar nicht mehr so fremd an. Vor einer Woche noch hatte ich mir nichts Schlimmeres vorstellen können als hier zu sein und nun war es so, als ob ich schon eine Ewigkeit hier wäre, kaum etwas normaler wäre.
„Das ist unser Abschlussjahr, was hast du bitte erwartet?", fragte Daisy, die ihr Mathebuch aufgeschlagen in der Hand hielt und sich irgendein Kapitel davon durchlas. Woher sie diese Motivation nur nahm, war mir schleierhaft. Ich aß derweil einen Keks, den meine Großmutter gebacken hatte und versuchte meinen immerzu hungrigen Magen etwas zu beruhigen mit dem süßen Zeug, das meine Laune wenigstens etwas anheben konnte. Es war zwar einfacher hier geworden, die Schule war aber immer noch ätzend und die Sache mit Reed nervenaufreibend.
„Mehr Entspannung?", fragte Hayden theatralisch und ich verdrehte die Augen. „Musst du das alles nicht schon tausende Male gemacht haben und eigentlich können?", fragte ich und wie jedes Mal, wenn ich ihn wegen seines Alters ansprach, wirkte er empört. „Langsam glaube ich, du denkst, ich wäre tausende Jahre alt. So oft war ich nun auch wieder nicht in der Schule. Das ist gerade einmal das dritte Mal, dass ich das durchziehe", verteidigte er sich. „Und das letzte Mal ist ein paar Jährchen her."
„Sein Alter ist ein sehr sensibles Thema", warnte Daisy mich schmunzelnd, zog ihre Beine zu sich auf die Bank hinauf und fixierte dabei weiter ihr Buch, knabberte gedankenverloren am Ende ihres Kugelschreibers herum.
„Ich merke es."
„Hey, ich finde es nur sehr diskriminierend, wenn man mich für alt schätzt, ich bin jung und sexy", schnaubte Hayden und entriss Daisy ihr Buch, klappte es für sie zu, woraufhin diese versuchte es wieder zu ergattern und beide in eine kleine Zankerei verfielen, die ich amüsiert beobachtete, so gar nicht bemerkte, wie sich ein blondes Mädchen neben uns stellte.
„Was hat Hayden nun schon wieder getan?", fragte sie und schaffte es, dass die anderen beiden sie nun wie ich auch ansahen, doch anders als ich, schienen Daisy und Hayden sie zu kennen.
War diese Bank hier der Ort, um neue Leute kennen zu lernen? Erst Nasrin und nun sie.
„Feyre", rief Daisy erfreut aus die Blondine zu sehen und umarmte sie sogleich. „Du lässt dich auch mal in der Schule blicken."
„Ich kann nichts dafür, dass ein Sturm den Flugverkehr so gestoppt hatte", verteidigte diese Feyre sich und schloss nun auch Hayden in die Arme.
Wer war das bitte? Sie hatte helles Haar, nicht so hell wie Daisy aber dennoch heller als die meisten anderen Blondinen es hätten. Sie war recht groß, hatte eine sportliche Figur, dafür jedoch dickere Wangen, die sie freundlich aussehen ließen.
„Alles Ausreden", neckte Hayden das Mädchen, das lediglich die Augen verdrehte und nun zu mir sah. „Und du bist die Neue also. Alice, stimmts?"
„Und du bist Feyre", merkte ich nett an.
„Komischer Name, ich weiß, aber beliebt im nördlichen Teil Europas", sagte sie.
„Feyre und Daisy sind Kindheitsfreunde, da beide aus Schweden ursprünglich stammen", klärte Hayden mich freundlicherweise darüber auf, bei wem es sich hierbei genau handelte eigentlich und ich war verblüfft über die Info, dass Daisy Schwedin sei. Klar würde es die hellen Haare erklären, doch Daisy war mir nie als schwedischer Name vorgekommen und irgendwie hatte ich immer eher angenommen sie wäre Engländerin.
Während Daisy und Feyre sich lachend über ihre Ferien unterhielten, forderte Hayden mich auf, aufzustehen und so ließen wir die beiden Freundinnen allein alles aufholen, was sie so voneinander verpasst hatten, liefen etwas um das Schulgelände herum, vertraten unsere Beine dabei.
Die meisten Schüler verbrachten ihre Pause draußen, besonders wenn das Wetter mal nicht miserabel war, und so standen an allen Seiten kleine Gruppen zusammen und jede Bank und jeder Tisch hier wurden besetzt.
Ich sah Reyna, die nicht bei Reed stand, sondern bei irgendwelchen anderen Mädchen, darunter Harper, mit denen sie sich lachend unterhielt. Ich dachte Harper konnte Reyna nicht ausstehen? Na gut, vermutlich war das nur der Fall, wenn Reyna in Reeds Nähe war.
Ich konnte die Jungs des Fußballteams auf dem Fußballfeld trainieren sehen, erschauderte bei dem Gedanken an Scott, hoffte, diesen nicht mehr so schnell wiedersehen zu müssen. Harry hatte offenbar wegen der kleinen Prügelei am Freitag eine gebrochene Nase und war noch nicht wieder in der Schule zurück. Ich wollte ihn gern besuchen und mich entschuldigen für Reeds furchtbares Benehmen, aber ich hatte keine Ahnung so genau, wo er lebte.
Reed hatte ich heute bedauernswerterweise noch nicht zu Gesicht bekommen, weder ihn noch einen anderen der Drei und mein Körper verzehrte sich nach seiner Gegenwart, doch es war sicher besser so. Wenn wir zusammen waren, endete es selten in etwas Gutem, meist war er nur schlecht drauf und ich war zu müde für seine Stimmungsschwankungen.
Während wir durch die Gegend schlenderten, unterhielten Hayden und ich uns über banale Dinge. Er erzählte mir, dass Feyre keine Ahnung von den Wächtern hatte, sie es vermutlich einfach nicht ohne Beweis glauben würde und man nicht jedem hiervon erzählen sollte, was mich nur wieder an Elin denken ließ. Wie würde sie es verkraften? Ich wusste es nicht, konnte es mir nicht vorstellen, doch wenn wir nicht bald wieder Kontakt haben, würde ich vergehen. Sie wäre eine tolle Stütze bei meinem Reed Problem gewesen, hätte mir Tipps gegeben, mir gesagt, was ich tun sollte, um seine Persönlichkeit zu verkraften. Fürs erste musste ich wohl ohne sie überleben.
Nachdem wir ein wenig über Daisy und Feyre sprachen, machte er paar Bemerkungen zu einigen der Leute, die wir unterwegs begegneten, aber die wenigstens Namen sagten mir wirklich was, weswegen er es schnell sein ließ, denn diese Schuldramen interessierten mich nicht wirklich. Ich musste nicht wissen, wer was mit wem hatte und wer bekannt dafür war, ein großer Idiot zu sein. Ich hatte paar Leute hier kennen gelernt und mir mein eigenes Bild kreieren können.
Scott und seine Leute waren tabu, die Drei machten Ärger, Colin war verrückt, Harper etwas zu aufdringlich und Harry war neben Hayden und Daisy die einzig wirklich nette Person hier, die einzige Person, die ich ansonsten noch als Freund betiteln würde. Das genügte mir voll und ganz.
Anschließend sprachen wir jedoch schnell wieder über andere Dinge, die Schule, was wir heute noch so machen würden, wo er wohl vorhatte in irgendein Fitnessstudio zu gehen und zwischendurch sah ich während des Gesprächs meinen kleinen Bruder im Pausenhof der jüngeren Schüler, wie er mit einigen anderen Kindern irgendein Fangenspiel spielte.
„Das ist Daisys Schwester, mit der er da spielt", sagte Hayden und deutete auf ein kleines Mädchen mit genauso hellem Haar wie die Schönheit, das vor meinem Bruder gerade lachend davonlief.
„Sie sieht aus wie eine winzige Ausgabe von Daisy", lachte ich, fand sie niedlich mit ihren langen, geflochtenen Zöpfen, die bei jeder ihrer Bewegungen hin- und herschwangen.
„Ja, sie ist nur nicht ganz so lieb wie Daisy, kann eine richtige Zicke sein die Kleine."
„Du kennst dich doch mit nervigen Geschwistern aus", merkte ich an und brachte ihn zum Lachen. „Ja, Reed kann auch manchmal eine Zicke sein."
„Ich verstehe nicht, wie du es mit ihm auf Dauer aushältst, ich würde durchdrehen, wenn er mein Bruder wäre."
„Man gewöhnt sich eben daran, ich bin auch mit Kellin ausgekommen und der war auf eine andere Art anstrengend, außerdem hast du uns mal angesehen? Wir streiten andauernd", erwiderte Hayden und ich sah ihn von der Seite an, verstand wirklich nicht, wie er immer alles so locker und witzig sehen konnte. Ich wünschte, ich könnte öfters so sein, es wäre zumindest besser, als sich wegen allem so den Kopf zu zerbrechen und zu stressen.
„Wie verlief dein Training mit ihm eigentlich?", fragte Hayden mich.
„Es ging. Reed meinte, er kannte jemanden, der meine Kraft mal hatte und weiß mir deswegen zu helfen."
„Klar weiß er dir zu helfen bei deiner Kraft", sagte Hayden schmunzelnd. „Er hat damals mit Grace praktisch alles zusammen erlernt, war ihre größte Stütze gewesen, als sie ihre Kräfte bekam. Würde mich auch wundern, wenn er alles vergessen hat in der Sache."
„Grace war die andere Person mit der Kraft?", fragte ich und blieb erstaunt stehen.
„Wusstest du das nicht?", fragte Hayden nun irritiert.
„Nein, ich denke, dein Bruder will nicht über sie reden, vor allem nicht mit mir."
„Ja, sie ist ein schweres Thema und ich denke es macht es nicht leichter, dass du seine neue Partnerin bist und nebenbei dieselbe Kraft wie sie besitzt."
„Aber ist das nicht seltsam?", fragte ich, doch wieso hatte ausgerechnet ich dieselbe Kraft wie Reeds tote Freundin? Das war doch sehr eigenartig, konnte unmöglich ein Zufall sein, nur was wäre es sonst?
„Ein wenig sicher, aber es kann schon vorkommen, dass Leute dieselbe Kraft besitzen", sagte Hayden beruhigend, schien das nicht so skurril wie ich zu finden, aber mir war das nicht ganz geheuer.
„Also kann er mir wirklich mit meiner Kraft helfen, wenn er alles von Grace noch weiß", merkte ich leise an, war nun jedoch nur noch mehr damit überfordert, wie ich je einen richtigen Bezug zu Reed kriegen könnte. Alles, was mit mir zu tun hatte, erinnerte ihn an diese Grace und es missfiel mir sehr. Das Problem hatte ich mit Malia schon genug, es war als wäre ich wirklich gefangen zwischen diesen beiden toten Mädchen.
„Klar kann ich das", antwortete mir jedoch nicht Hayden auf die Frage und mit geweiteten Augen drehte ich mich zu Reed um, der unser Gespräch wohl gehört hatte, nicht glücklich wirkte, gar nicht glücklich im Grunde und mit verengten Augen vor allem mich ansah. Was tat er auch hier? Wir waren praktisch auf dem Gelände der jüngeren Schüler, hatte er uns verfolgt?
„Bruderherz", begrüßte Hayden ihn, schien trotz des strahlenden Lächelns angespannt zu sein, wusste wohl, dass es nicht gut war, dass Reed uns gehört hatte. Wenn ich er wäre, ich wäre auch sauer gewesen, wenn man über mich und meinen Ex so reden würde, wenn man allgemein über so private Dinge von mir reden würde.
„Ich wollte euer nettes Gespräch über mich und Grace nicht stören, redet ruhig nur weiter", sagte dieser eiskalt, lief an uns vorbei, weiter in Richtung Grünanlage der Schule, die jedoch verlassen war, da der Unterricht gleich wieder anfangen würde vermutlich, es schon spät wurde.
Es war schon ein wenig Zeit vergangen und normalerweise würde ich jetzt auch wieder zurück gehen, aber das alles war eine ganz missliche Situation.
„Ja, der kriegt sich wieder ein", beruhigte Hayden mich, doch ich wollte das nicht so ungeklärt stehen lassen. Wir waren Partner, ich sollte mit ihm reden, ihm klarmachen, dass es scheiße war, aber auch, dass es keine ganz so große Sache war, wir nur über die Kräfte hauptsächlich gesprochen hatten.
„Ich muss mit ihm reden", sagte ich deswegen und ließ Hayden stehen, wollte, dass er nicht so falsch von mir dachte, dass er sauer auf uns wäre. Ich eilte Reed deswegen nach, weg von den restlichen Schülern.
„Reed warte!", rief ich dem Dunkelhaarigen zu, der zu meinem Erstaunen tatsächlich stehen blieb, wenn auch mit einem recht genervten Gesichtsausdruck. Ich hatte jetzt eher gedacht, dass ich ihm noch weiter nachrennen müsste, er mich ignorieren würde, doch Gott sei Dank war es nicht so, weit wäre ich mit meiner Ausdauer nämlich nicht gekommen.
„Was? Denk bitte nicht, dass nur weil wir verbunden sind, du ihre Kraft hast, dass du sie ersetzen könntest, Alice!", blaffte er mich an und versetzte mir einen Stich von seinen kalten Worten. Autsch.
„Habe ich gewiss nicht vor", erwiderte ich so standhaft ich konnte, auch wenn es nicht schön war so angesehen und so angeschrien zu werden. „Sie war dir wichtig, kapiert. Ich weiß nicht, was damals war, will es auch gar nicht wissen und ich versuche sicher nicht, sie zu ersetzen. Ich habe kaum eine Ahnung von alledem, weiß nur, dass wir Partner sind und dass ich keine Lust habe mit dir so eine patzige Bekanntschaft zu haben." Reeds Gesichtsausdruck wurde etwas weicher von meinen Worten, vielleicht halfen die Tränen, die in meinen Augen funkelten, auch dabei, doch ich wollte nichts anderes als ein gutes Verhältnis zu ihm zu haben. Ich war nicht scharf darauf Grace zu ersetzen, mich an ihn heranzumachen oder irgendwas anderes. Ich war angetan von seiner Nähe, doch sicher nicht auf eine romantische oder gar sexuelle Weise, da brauchte er sich keine Sorgen zu machen.
„Tut mir leid, ich... das alles ist nicht leicht für mich", seufzte Reed und rieb sich den Nasenrücken, wirkte genauso gestresst wie ich und ich war erleichtert zu sehen, dass ich wirklich nicht als einzige mit der Situation zu kämpfen hatte.
Wow, er konnte sich entschuldigen, das kam unerwartet und verblüfft, dass er nicht mehr so unfreundlich war, vernünftig wurde, sah ich ihn an. „Kann ich mir vorstellen und es tut mir leid, dass du ausgerechnet mich als Partnerin abbekommen hast, ich weiß, ich bin eine komplette Katastrophe, aber ich bemühe mich."
„Weiß ich doch", sagte er und lächelte leicht dabei. Ja, er hatte definitiv Stimmungsschwankungen. Mal war er so gemein und dann wieder so nett und lächelte und tat, als ob wir Freunde wären, müsste man da schlau werden?
„Dann hör auf immer so gemein zu werden!", sagte ich schnippisch und er verdrehte die Augen. „Ich bin nicht gemein, ich bin nur direkt", verteidigte er sich und nun war ich es, die die Augen verdrehte. „Was auch immer, es wäre also nett, wenn du dich von nun versuchen könntest zu bemühen, so wie ich mich bemühe."
„Ich werde es versuchen, Herzblatt, aber nur, wenn du sie nicht mehr erwähnst, auch nicht vor meinem Bruder, er nervt schon genug mit dem Thema", sagte er und ich nickte, verkniff mir ein Kommentar zu dem nervigen Spitznamen, verstand nicht, wieso er mich so nannte. War es irgendeine abwertende Art? Wollte er mich nerven? Ich wusste es nicht, fragte aber auch nicht, noch nicht zumindest.
„Versprochen und nun komm, wir können sicher nicht jeden Tag den Nachmittagsunterricht schwänzen", meinte ich, ergriff einfach seine Hand, merkte, wie seltsam sich das anfühlte.
Seit unserer Bindung war seine Nähe etwas, was mir guttat, doch dass eine so einfache Berührung so viel in mir auslösen konnte, hätte ich nicht gewusst. Es war ähnlich wie im Garten des Quartiers und zuvor in der Abstellkammer, nur mit dem Unterschied, dass wir uns dieses Mal besser verstanden und das hatte irgendwas verändert.
Erschrocken blieb ich deswegen stehen, sah unsere verschränkten Hände kurz an, sah, wie Reed selbst erstaunt wirkte, den Druck verstärkte, mich nicht loslassen wollte und ich bekam unweigerlich eine Gänsehaut, was nicht besser wurde, als er sachte mit seinem Daumen über meinen Handrücken strich.
Überfordert von dem, was hier geschah, sah ich zu Reed auf, wo seine Augen auf meine trafen und es kam mir vor, als ob ganz kurz die Zeit stillstehen würde, doch keiner von uns schien sich von allein fangen zu können, es war, als ob unsere Blicke gefangen voneinander wären, meine Welt sich nicht länger normal drehen würde, sondern um ihn. Er war meine persönliche Sonne geworden, das Zentrum meines Herzens und ich wusste, nein, ich spürte, dass ich ihn liebte. Nicht romantisch, nicht wie einen Liebhaber, ich liebte ihn, als ob er ein enger Freund wäre, als ob er Familie wäre, ich liebte ihn so innig und schrecklich, dass ich vermutlich blind für ihn sterben würde. Ich würde alles aufgeben für eine Person, die ich kaum kannte, die 90 Prozent der Zeit furchtbar schlecht gelaunt war, die ich einfach nicht verstand, es war verwirrend. Ich merkte eben deutlich, dass seine Seele und meine eins waren in diesem Augenblick, mit dieser Berührung. Wir waren eins, tiefer verbunden als normale Menschen es sich je vorstellen könnten und das war sicher die Tragödie an der ganzen Geschichte. So viel zum Thema keinen Romeo für meine Julia zu finden. Ich kannte ihn eine Woche und war mir sicher für ihn sterben zu wollen, wenn ich es denn müsste, das war krank. Klasse Leistung Alice.
Ich rang nach Worten, wollte etwas sagen, brachte nur ähnlich wie er einfach nichts Sinnvolles zustande, so dass jemand anderes uns half. „Man sollte meinen, Händchenhalten wäre weniger intim." Verschreckt ließ ich Reeds Hand los, als die fremde Stimme zu uns herüberwehte, sah zu dem mir unbekannten Mann, der einige Meter entfernt dastand und uns belustigt ansah. Er ging nicht in die Schule, trug keine Uniform, auch wenn er nicht viel älter als wir sein konnten, also sicher kein Lehrer war. Wer war das dann?
„Das ist unmöglich", murmelte Reed neben mir schockiert, der den Mann ansah, als ob er ein Geist wäre, und ich selbst versuchte zu verstehen, wer das sein könnte, doch ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen und jemanden wie ihn, würde man nicht vergessen. Er hatte dunkles Haar, das Reeds ähnelte in gewisser Weise und sein Gesicht hätte vermutlich umwerfend hübsch sein können, wenn da nicht die Narben gewesen wären. Auf der Stirn, an seiner rechten Wange und von seinem Hals hinauf bis zu seinem Mundwinkel erstreckten sich drei große Narben, die alle recht gut verheilt waren, dicke weiße Linien darstellten. Sie nahmen ihm dennoch etwas von seinem guten Aussehen, verzerrten es.
„Du erkennt mich also wieder", lachte der Mann erfreut, musterte Reed, ehe sein Blick an mir haften blieb, er den Kopf schief legte und mich ansah... mir gefiel es nicht, ganz und gar nicht sogar. Ich wurde in meinem Leben noch nie so angesehen, so lüstern, verlangend, mir wurde ganz unwohl von diesem Blick.
„Sieh an, als würde man ihr persönlich gegenüberstehen", hauchte der Mann, schien fasziniert von mir zu sein und ich war froh, dass Reed mich in dem Moment hinter sich zog, mich etwas abschirmte, was den Kerl zum Lachen brachte und ich bekam ein ungutes Gefühl darüber, wer das sein könnte.
„Also wirklich, kleiner Bruder, du wirkst ja richtig feindselig. Habe ich dich etwas zu sehr bei deiner neuen Flamme hier gestört? Ich dachte immer, du würdest ewig an Gracie hängen, aber offenbar hast du eingesehen, dass es Wichtigeres im Leben gibt", neckte Kellin ihn nun und ich merkte richtig, wie Reed sich anspannte.
„Was soll das alles, Kellin? Du... du... jeder dachte, du bist tot und nun tauchst du hier auf, 14 Jahre später. Was zum Teufel nochmal soll das also?", schrie Reed ihn an und ich verstand seinen Zorn. Bis gerade eben hatte er wie jeder andere auch geglaubt, Kellin Wentworth wäre tot, nachdem er vor 14 Jahren Malia in die Vergangenheit aus Frust entführte und womöglich tötete. Man nahm an, dass er sich selbst das Leben nehmen würde daraufhin und doch war er nun hier. Lebendig.
„Tot? Nett, aber nein, du weißt doch am besten, dass ich nicht so leicht kleinzukriegen bin", lachte Kellin und ich konnte nicht anders, als ihn erstaunt zu mustern, nun, wo ich wusste, wer er war. Das war der Mörder meiner Cousine, das war der ältere Bruder von Hayden und Reed. Ja, eine Ähnlichkeit war da, doch vom Charakter... er schien anders zu sein, nur wusste ich noch nicht wie anders genau.
„Was ist mit Malia?", fragte ich, trat aus Reeds Schatten und wusste nicht, was ich mir erhoffte zu hören. Wäre sie tot, es wäre schrecklich, wäre sie am Leben und in Gefangenschaft, es wäre vermutlich noch schrecklicher. 14 Jahre in irgendeiner anderen Zeit gefangen, es klang nicht schön, besonders nicht, wenn dein Entführer ein liebeskranker Verrückter war, der ihr sonst was angetan hatte.
„Reden wir besser nicht über vergangene Dinge, auch wenn ich sagen muss, dass ich nicht damit gerechnet hatte, dass die Kleine hier ihr so ähnlichsehen würde. Ich habe Gerüchte gehört in den wenigen Tagen, wo ich wieder in der Gegenwart bin, aber das ist faszinierend", antwortete Kellin mir, kam näher, so dass Reed mich sofort am Handgelenk packte und zu sich zog, auf mich aufpasse wollte, mich versuchte zu schützen.
„Du rührst sie nicht an!", zischte er abfällig.
„Du weißt hoffentlich selbst am besten, dass du aufpassen solltest. Man wird nach ihr suchen. Er wird nach ihr suchen und dann bin ich euer geringstes Problem", erwiderte Kellin vergnügt, überhaupt nicht beeindruckt von Reed, und mit einem kaum hörbaren Plop Geräusch, war er schon wieder verschwunden, in irgendeiner Zeit vermutlich verschwunden.
„Was zum...", murmelte ich, verstand die Welt nicht mehr, doch Reed gab mir keine Zeit meine Gedanken zu richten, zog mich zurück zum Parkplatz und weiter zu seinem Auto.
Niemand war mehr hier draußen zu sehen, da der Unterricht wohl längst begonnen haben muss, aber an die Schule war nun nicht zu denken, so wie es aussah.
„Wohin gehst du? Wir haben Unterricht!"
„Der Unterricht muss warten. Mein Bruder ist gefährlich und du siehst aus wie das Mädchen, das er vor Frust tötete, weil sie ihn nicht wollte. Ich kann nicht riskieren, dass er dich in die Finger kriegt", sagte Reed aufgebracht, riss die Autotür auf und drückte mich regelrecht auf den Beifahrersitz, schloss die Türe wieder, ehe er um den Wagen rannte und sich ebenfalls setzte.
„Und nun?", fragte ich, fand den Gedanken erschreckend, dass Kellin was von mir wollen könnte, dass er überhaupt lebte, hatte nie damit gerechnet, ihm jemals zu begegnen und doch schien mein Leben noch chaotischer werden zu wollen. Seine Worte hatten mich verwirrt. Wer würde nach mir suchen? Wieso sollte irgendwer mich suchen? Mein Kopf schwirrte mir von dieser Ahnungslosigkeit.
„Ich fahre dich ins Quartier, berichte den anderen hiervon und sie wissen sicher, was zu tun ist, sie müssen einfach!" Würden sie das? Ich konnte mir nicht vorstellen, was nun sein würde, wie es weitergehen würde. Kellin lebte, er war hier, ich sah aus wie Malia, wie würde das also enden? Ich hatte ein ganz mulmiges Gefühl bei der Angelegenheit und es schien so, als ob das alles hier immer verrückter werden würde.
Wörter: 3826
Aloha :) Also, sieht aus, als wäre Kellin doch nicht so tot. Was glaubst ihr, was es mit ihm so auf sich hat? Hoffe es hat euch gefallen, freue mich wie immer über eure Meinung xx
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