11. Magnet

"Do what you feel in your heart to be right – for you'll be criticized anyway." - Eleanor Roosevelt

Ich ließ mich von meinen Eltern aus dem Saal führen, wo diese jedoch nur wieder stockten, um mit irgendwelchen Leuten das Reden anzufangen und eigentlich wollte ich schon wie ein jammerndes Kleinkind sie anflehen, doch bitte weiterzulaufen, wollte weg, wollte heim, als da stattdessen Daisy sich neben mich stellte, meine Aufmerksamkeit beanspruchte.

„Das hast du großartig gemacht, geht es dir gut? Du wirkst ganz durcheinander."
„Ich fühle mich... ein wenig überfahren", gestand ich und lächelte gezwungen. „Die Dinge, die man sieht und fühlt..."
„Es ist seltsam, ich weiß, aber es war ja nur ein kurzer Moment, vielleicht solltet ihr reden? Ich habe mit Hayden denke ich eine Ewigkeit nach unserer Zeremonie geredet, was vor allem daran lag, dass ähnlich wie Reed und du wir uns vorher eigentlich nicht kannten. Ich war neben Hayden dieses junge Ding, war eingeschüchtert von allem, was war, doch er war so lieb und einfühlsam, es hat geholfen zu reden."
„Ich denke Reed ist in der Sache recht anders als sein Bruder und weder lieb noch einfühlsam", merkte ich an, konnte mir nicht vorstellen, dass er jetzt reden möchte, möchte, dass wir uns kennen lernen, Freunde werden. Nein.

Ich kannte Reed Wentworth zwar überhaupt nicht, aber er schien mir nicht der größte Menschenfreund zu sein, jemand, der sich damit prahlte, der Retter in der Not zu sein, andere tröstet und der beste Freund ist, den man sich nur wünschen kann. Was ich in der Schule von ihm gesehen hatte zeigte mir nichts anderes. Er lachte nicht viel, schien nicht so etwas, wie einen besten Freund zu haben, auch wenn Dawson und Chris ihm nahestanden, doch offenbar wussten sie nichts hiervon. Er war eben anders.

„Ja, du weißt, wie ich zu ihm stehe. Er ist ein schwerer Charakter und in meinen Augen nicht... er strahlt etwas... ich kann es gar nicht beschreiben, wenn ich ehrlich bin."
„Ich weiß aber, was du meinst, ich wurde an ihn gebunden, ich habe es gerade live erlebt", sagte ich lächelnd und sie sah mich neugierig an, schien wohl wissen zu wollen, was ich gesehen habe. Sie war ein zu lieber und zu verständnisvoller Mensch, um die Frage laut zu stellen und ich wusste nicht, ob ich es einfach sagen sollte. Es war so privat, was zwischen Reed und mir gewesen ist, wollte nicht, dass er meine innersten Gefühle und Gedanken jemanden verrät. Nein, es war ein vertrautes Band zwischen uns, ich würde niemandem hiervon einfach erzählen können, wollte es nicht.

„Ich will sowieso Hayden aufsuchen, da er gern mit Reed streitet und ich ihn davor bewahren will, so gereizt wie er vorhin wirkte, kommst du mit?"
„Hayden ist schon wieder sauer auf Reed? Wieso?", fragte ich und folgte ihr dabei schon unbewusst einfach weiter aus dem Saal hinaus.

„Weil Reed Reed ist, die zwei streiten sich mehr, als dass sie sich vertragen und ich will nicht unbedingt, dass sie ständig im Schlechten zueinanderstehen. Ich kann Reed nicht ausstehen, doch sie sind Brüder und sollten ihre ganzen alten Streitereien endlich irgendwann begraben."
„Und das obwohl du Reed nicht magst?", fragte ich sie, wusste gar nicht, wohin sie lief, aber offenbar wusste sie genau, wo sie die Jungs treffen würde.

Wir liefen in Richtung Ausgang, nur anstatt weiter geradeauszulaufen, bog sie kurz vor der Empfangshalle nach rechts in einen schmaleren Gang ab, wo am Ende von diesem sich nur ein einziger Raum zu befinden schien, dessen Türe offenstand und von wo aus Stimmen zu uns herdrangen, so dass Daisys Antwort schnell vergessen war.

„... um dich! Ich dachte wirklich, du würdest dich endlich bessern", zischte Hayden gerade aufgebracht und ich sah besorgt zu Daisy, wusste nicht, ob wir da einfach hereinplatzen sollten, denn sie wollten sicher nicht gestört werden, doch Daisy ließ sich nicht stoppen und das obwohl sie so schüchtern und zurückhaltend wirkte, so hielt sie das nicht auf, in dieses Gespräch zu platzen.

Die beiden Jungs sahen überrascht auf, als Daisy eingetreten kam und ich ihr zögernd folgte, mich nicht wohl hierbei fühlte, Reeds Blick so gut es ging einfach mied, nicht nur wieder diese Kälte sehen wollte. Ich gar nicht wusste, wie ich mich nun ihm gegenüber benehmen sollte.

„Daisy", sagte Hayden verwundert seine Partnerin zu sehen, schaute auch kurz zu mir. „Was macht ihr hier?"
„Sichergehen, dass alles gut ist. Ihr streitet doch nicht etwa schon wieder, oder?"

„Ich wusste gar nicht, dass du jetzt einen Babysitter brauchst", neckte Reed seinen Bruder und ließ mich mit dem Ertönen seiner rauen Stimme aufsehen, wo ich gleich merkte, dass Hayden dabei war auszuflippen von dem Benehmen seines Bruders, der im Gegenzug recht amüsiert wirkte.

„Oh sei doch still", sagte Hayden, der zu uns lief, kurz zu mir schaute. „Alles klar bei dir?"
„Alles bestens", versicherte ich ihm, sah nervös in den Raum, wusste nicht wirklich, wo ich hinsehen sollte, nun, wo die Aufmerksamkeit mir galt. Das hier schien eine Art Abstellkammer zu sein, zumindest standen hier viele alte Stühle und Tische herum und ansonsten konnte ich nicht erkennen, welchen Zweck dieser kleine Raum zu erfüllen schien.

„Können wir kurz reden, Hayden?" Ich sah zu Daisy, als sie diese Frage stellte und diesen schon mit sich aus dem Raum zog, die Türe schloss und mit Entsetzen realisierte ich, dass ich allein war, allein mit Reed und ich merkte unsere neue erschaffene Bindung nun zu deutlich, merkte den Unterschied und es gefiel mir nicht.

Ich kam mir vor, als ob ich ein Magnet wäre, von ihm angezogen werde, als ob er eine Oase wäre und ich eine Verdurstende in der Wüste. Es kam mir vor, als ob mein Glück, mein Wohlergehen bei ihm liegen würde und ich wollte nichts lieber als zu ihm, blieb jedoch an Ort und Stelle.

Ich wagte es aufzusehen zu Reed, wo er an der Wand gelehnt dastand, seine Augen längst auf mir ruhten und ich verschränkte fast krampfhaft meine Arme vor der Brust, hielt mich mit aller Kraft davon ab, wie eine Idiotin zu ihm zu rennen und ihn zu umarmen, auch wenn jede Zelle in meinem Körper regelrecht danach zu Schreien schien.

„Ich bin nicht mein Bruder", stellte Reed klar und verschränkte ähnlich wie ich seine Arme vor der Brust.

„Nein, das bist du nicht", antwortete ich leise, verzog das Gesicht von dem grauenvollen Gefühl in mir, doch all das war so frisch, ich war noch so verwirrt von der Zeremonie, wusste nicht, wo mir der Kopf stand. Ich war in meinem Leben bisher nicht einmal verliebt gewesen, kannte es also im Grunde überhaupt nicht so angezogen von jemanden zu sein, auch wenn das hier keine Liebe war. Das Gefühl aber war so neu, so befremdlich.

„Gut, denn ich mache das hier nicht, um nun dein Aufpasser zu werden und brauche auch niemanden, der sich in all meine Angelegenheiten einmischt."
„Werde ich nicht", versicherte ich ihm, verstand einfach nicht, was mit ihm war, dass er sich so aufführen musste. Mal konnte er so nett sein und dann war er wieder dieser gewaltige Bastard. Glaubte er, mir machte das hier Spaß? Ich wollte diese Bindung genauso wenig wie er, doch es war zu spät. Unsere Seelen waren eins, sie waren zwei Hälften eines ganzen Stücks.

Ich drückte meine Fingernägel in meine Oberarme, kratzte mir leicht die Haut, versuchte mich irgendwie zu entspannen, hoffte, Daisy wäre endlich fertig mit ihrem Gespräch. Ich wollte hier nur noch weg, vor dieser Bindung fliehen und hoffen, dass es leichter wird, je weiter ich von ihm wegkomme, nur leider ließen die zwei sich ihre Zeit und ich wollte sie nicht so stören wie Daisy die Jungs gerade gestört hatte.

„Wieso tust du das?" Ich sah verwirrt zu Reed, als dieser die Frage stellte, wo mir auffiel, dass sein Blick auf meine Arme gerichtet war und er nicht glücklich darüber wirkte, ganz und gar nicht sogar. Störte es ihn, dass ich meine Haut kratzte? Ich verletzte mich ja nicht selbst, es war mehr, als ob man einen Mückenstich kratzen würde, nicht tief, nicht stark, doch anscheinend stark genug, dass er es nicht guthieß und das war es ja auch nicht. Es gab bessere Methoden seine Nerven zu beruhigen, nur gerade wollte mir einfach keine einfallen.

Ich war schon immer ein nervöser Mensch gewesen, hatte als Kind mir meine Fingernägel abgekaut, im Alter von zwölf Haargummis an meinen Handgelenken schnalzen lassen, aber ich war nie in irgendwelche Extremen gegangen.

„Ich... ich habe keine Ahnung, ich bin durcheinander und versuche mich irgendwie abzulenken, denke ich. Geht es dir nicht seltsam?", fragte ich, verstand nicht, wie er so ruhig sein konnte. War das einfach nur eine Show und innerlich ging es ihm genauso schlecht wie mir? Wenn ja, dann war es auf jeden Fall erstaunlich, wie gut er das schaffte.

„Ich wusste, worauf ich mich einlasse, was mich erwarten würde", sagte er, versuchte nicht so beeindruckt von der Lage zu wirken und doch erkannte ich das erste Mal, dass er log, nachdem er diese Worte laut aussprach. Das war das erste Mal, dass ich wirklich merkte, dass er log, mir was vormachte, dass ihn das alles nicht völlig kalt ließ. Sei es nun wegen der Bindung, den Emotionen oder weil ihn das an seine alte Partnerin erinnerte, ich hatte keine Ahnung, doch ihm ging es nicht gut. In seinen Augen funkelte etwas auf, als er gesprochen hatte, es sah aus wie Verbitterung und Schmerz und zeigte mir deutlich, dass ihn das hier schwerer traf als er es offen zeigte.

„Ich nicht und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll", gestand ich, hörte selbst heraus, wie verzweifelt ich klang und seufzend löste Reed seine verschränkten Arme, schloss kurz die Augen und als er sie wieder öffnete, sagte er: „Na dann komm her." Er streckte seine Arme nach mir aus und verblüfft davon, sah ich ihn an. Er wollte, dass ich ihn umarme? Ich blinzelte verwundert davon, dass er das wirklich vorschlug, dass er sich dazu bereiterklärte, es ihn überhaupt interessierte, was mit mir war und nur langsam näherte ich mich ihm. Ich rechnete damit, dass er einen Rückzieher machte, das Lachen anfängt und sich über mich lustig macht, dass ich wirklich dachte, er würde das wollen, doch nichts dergleichen geschah.

Mit jedem Schritt merkte ich mehr und mehr unser Band, merkte die Spannung zwischen uns, die sich anfühlte wie ein Knistern, mir das Gefühl gab, unter Strom gestellt zu werden und als ich endlich seine Hände berührte, meine in seine lag, ich kam mir vor, als ob ich gestorben und wieder neugeboren worden wäre, als ob ich einen Teil meines alten Lebens endgültig zurückgelassen hätte, die alte Alice irgendwo verloren gegangen wäre auf diesem Weg hierher. Ganz kurz fühlte ich mich wie eine andere Person.

Ich sah in Reeds Augen und fühlte mich etwas in der Zeit versetzt, glaubte tausende Male schon so vor ihm gestanden zu haben, ihn angesehen zu haben und genau das gespürt zu haben.

Ganz kurz glaubte ich, er würde dasselbe fühlen, dasselbe sehen, denn die Art, wie er mich ansah, sie hatte sich verändert. Da war kein Spott und keine Abwehr mehr in seinen Augen, er wirkte sanfter und ich konnte ihm plötzlich ansehen, dass er schon lange lebte, konnte eine lange und tragische Geschichte sehen, spürte seinen Schmerz, als ob er mein eigener wäre und ich wollte ihm Trost spenden, für ihn da sein. Ich drückte mich an ihn und umarmte ihn einfach. Ich presste mein Gesicht an seine Brust, glaubte mein Herz würde durchdrehen in mir, so wild und so verrückt wie es schlug. Ihm so nahe zu sein ließ mich ganz werden. Es war, als ob zwei fehlende Stücke eines Puzzles endlich ein komplettes Bild ergeben würden, unsere Seelen zueinanderfinden würden nach Jahrzehnten, plötzlich wieder zusammen waren, ihnen ihr Wunsch erfüllt wurde zueinander zu finden, zusammen zu sein.

Er roch gut, doch es war nicht verwunderlich. Rochen die meisten attraktiven Kerle nicht gut? Ich hatte zumindest noch keinen gesehen, der es nicht tat, und Reed umgab ein Geruch von etwas, das mich an Kamille erinnerte, aber dann auch der Geruch von seinem Aftershave und kombiniert war es ein einzigartiger und wohltuender Duft, der meine Nerven beruhigte und meine Muskeln entspannte.

Kurz hatte ich Angst, er würde mich von sich drücken, das hier nicht wollen, es würde ihm alles zu viel auf einmal sein, aber schnell erwiderte er diese Umarmung, nahm mir diese Sorge somit. Er legte seine Arme um mich, drückte mich dadurch nur noch enger an sich und ich atmete auf, glaubte endlich durchatmen zu können.

Die Zeit schien stillzustehen, ich wollte niemals wieder gehen müssen, diese Kammer verlassen, Reed verlassen und doch musste dieser kurze Moment leider ein schnelles Ende finden. Die Türe ging auf und verlegen löste ich mich von Reed, sah zu Hayden und Daisy, die wieder eingetreten kamen.

„Oh", sagte Hayden und ich verschränkte meine Arme, wollte nur weg von hier, fühlte mich seltsam ertappt und das obwohl nichts gewesen ist. Wir hatten uns umarmt, na und? Das war nicht weltbewegend und doch hatte es sich intim angefühlt, so innig.

„Ich sollte zu meinen Eltern, nicht dass sie mich noch suchen", sagte ich, wo mir auffiel, wie Hayden seinen Bruder nicht unbedingt nett ansah, während Daisy besorgt zwischen mir und Reed hin- und hersah.

„Man sieht sich morgen", sagte sie und ich lächelte nur gezwungen, verließ den Raum und flüchtete fast schon zurück zum Großen Saal.

Er hatte mich umarmt. War es normal so glücklich über eine Umarmung zu sein? Ich meine, Menschen umarmten sich ständig, es war nichts Besonderes und doch hatte es sich besonders angefühlt. Ich hatte mich das erste Mal in meinem Leben wirklich ganz gefühlt. Es war, als ob ich in seinen Armen keine Zweifel mehr gehabt hätte, mich sicher und wohl gefühlt hatte und als ob ich mit Reed ein verlorenes Stück von mir selbst wiedergefunden hatte, ein Stück, das ich vor langer, langer Zeit verloren hatte. Es war eigenartig, sehr eigenartig sogar, doch ich sollte mich nicht zu sehr davon beirren lassen. Das hier war eine Ausnahme gewesen, er wird mich nicht mehr in die Arme nehmen und mich beruhigen, weil ich überfordert bin. Er sagte es selbst, er war nicht sein Bruder, er war nicht Hayden, ihm war es vermutlich egal, wie ich von nun an klarkomme und es war verletzend, aber er war nicht mein Aufpasser. Nein, ich hatte kein Recht irgendwas noch von ihm zu verlangen und das würde ich von nun an nicht, nicht mehr.



Wie fast jede Nacht erwachte ich auch heute von einem üblen Albtraum. Dieses Mal war er jedoch anders gewesen als sonst. Ich hatte das erste Mal von dem Irrgarten geträumt, der sich in dem Garten des Hauses befand. Schweißgebadet war ich aufgeschreckt, glaubte nicht erneut Schlaf zu finden und wollte es auch eigentlich nicht, nicht wenn es bedeutet, solche Dinge zu sehen.

War es normal? Vermutlich nicht, wer träumte schon jede Nacht grundlos so schlecht? Und dann auch noch von so zusammenhangslosem Zeug? Ich war wirklich nicht ganz normal, das war nichts Neues. Ich sollte vermutlich auch einfach aufhören vor dem Schlafen Horrorserien anzuschauen, das machte natürlich nichts hiervon besser. Wenn ich mir ein paar Komödien jeden Abend ansehen würde, würden meine Träume ja vielleicht ein Stück unterhaltsamer werden?

Seufzend stand ich auf, zog die Vorhänge zur Seite und sah zum Nachthimmel empor, wo die Sterne funkelten, die wunderschön wie immer aussahen. Mir fiel auf, dass in Reeds Zimmer auch noch Licht brannte. Ob er auch nicht schlafen konnte? Sicher musste es anstrengend sein so lange zu leben und immer denselben Ablauf zu haben. Tags leben und nachts schlafen. Ich würde vermutlich nach 300 Jahren durchdrehen von dem Ziehen der Zeit, aber vielleicht erging es Leuten aus der Zeitlinie ja anders? Ich wusste im Grunde kaum etwas über diese Familie, fragte mich, wie eigenartig es sein musste, wenn man so alt war und immer noch zusammen lebte jedoch. Wenn ich ein paar hundert Jahre alt wäre, ich würde sicher nicht mehr daheim leben, vor allem nicht hier. Grässliche Vorstellung auf ewig mit Tante Lilien unter einem Dach zu hausen. Nein, nein, das würde nicht in Frage kommen.

Ich schaute auf mein Handgelenk, dort, wo vor wenigen Stunden erst ein R eingeritzt worden war, das jedoch nicht mehr zu erkennen war. Es war eigenartig zu wissen, dass ich mit jemanden verbunden war von nun an, es war in gewisser Weise beängstigend sogar, doch ich spürte, dass es wirklich eine Hilfe war. Meine Kraft war mittlerweile wieder zurück mit dem Verblassen des Tranks, ich spürte die Pflanzen und Natur wieder wie vor diesem. Es schien wirklich einfacher zu sein damit umzugehen, es war nicht mehr so, als ob Pflanzen unkontrolliert das Wachsen anfangen würden meinetwegen und doch fragte ich mich, inwiefern meine Kraft etwas mit dem Irrgarten zu tun haben könnte. In meinem Traum war ich in diesem drinnen gewesen, hatte etwas oder jemanden gesucht und dann war da plötzlich ein Baum gewesen. Eine gewaltige, sehr alt aussehende Eiche, die überhaupt nicht ins Bild gepasst hatte, dennoch hatte ich mich dem Baum genähert, meine Hand nach ihm ausgestreckt und gerade, als ich ihn berühren wollte, hatte ich ein Kind hinter mir lachen gehört, wollte mich umdrehen, war stattdessen jedoch aufgewacht. Klar, es hörte sich rückblickend alles andere als gruselig an, keiner meiner Träume tat es, und doch war ich immerzu von einer Angst umhüllt, die alles übertraf, was ich je sonst gefühlt hatte. Am liebsten würde ich Elin anrufen und ihr davon berichten, aber ich mied sie seit ich wusste, was ich war. Ich fühlte mich schlecht, sie so zu ignorieren, aber was sollte ich sagen? Ich wollte ihr die Wahrheit sagen, doch wie sollte sie mir das jemals glauben? Es war absurd. Nein, das mit Elin musste ich besser durchdenken und hoffen, dass sie mir verzeiht, wenn ich sie ein paar Tage ignorieren würde dafür.

Ich sah weiter aus dem Fenster, erhaschte von diesem jedoch nur einen winzigen Teil des Irrgartens, mein Körper wollte aber mehr sehen, wollte mehr Nähe, weswegen ich den Entschluss fasste, einfach zu diesem zu gehen. Dieses Drama um ihn war mir sowieso schleierhaft, es war immerhin nur ein Stück Wiese mit einigen hohen Hecken und meine Kraft war es Pflanzen zu zähmen, wie schlimm konnte er also schon sein? Natürlich war in der Dunkelheit alles etwas unheimlich, doch es hielt mich nicht davon ab, mein Zimmer zu verlassen, mich auf Zehenspitzen durch das Haus nach unten zu schleichen und weiter hinaus in den Garten.

Ich war froh mir noch einen Cardigan übergeworfen zu haben, denn es war verdammt kalt hier draußen, Schuhe wären vielleicht auch eine schlaue Idee gewesen. Na gut, ich wollte nicht erneut nach oben gehen, wollte nicht riskieren, dass mich jemand noch erwischt, weswegen ich barfuß über die leicht feuchte Wiese lief, auf das verschlossene Tor zu.

Der Eingang wirkte wirklich schaurig in der Dunkelheit, alles hier wirkte schaurig. Noch hatte die Angst mich nicht genug gepackt, um zu fliehen. Ich hoffte, sie würde es, wartete irgendwie darauf, dass sie es würde, schien so, als wäre ich plötzlich besonders mutig geworden. Wo war dieser Mut mein ganzes restliches Leben bisher gewesen? Ich hätte ihn auf jeden Fall schon so einige Male vorher gebrauchen können.

Die Kette um das Tor wirkte nicht so alt wie erwartet, neuer als das Tor selbst, aber ein Blick in den dunklen Gang vor mir verriet mir, dass hier drinnen schon lange keiner mehr gewesen war. Die Pflanzen wirkten zwar nicht verwildert, trotzdem merkte man einfach, dass hier sonst üblicherweise keiner entlanglief.

Ich nahm das Schloss zur Hand mit der schweren Kette, musterte es und fragt mich, wo der passende Schlüssel aufgehoben wurde, wer ihn besaß, dann fragte ich mich, wie ich hier rein könnte ohne diesen Schlüssel. Vielleicht könnte ich mich am Tor vorbei zwängen? Die Pflanzen dazu bringen, etwas Platz zu machen? Ja, dafür müsste ich vielleicht nur wissen, wie genau ich meine Kraft anwende.

„Du wirst noch krank hier draußen, Liebes." Ich drehte mich überrascht zu meinem Vater um, als dessen Stimme leise hinter mir ertönte, sah wie dieser gehüllt in seinem karierten Morgenmantel und Pantoffeln dastand und mich ansah. Er wirkte nicht sauer, aber glücklich wirkt er auch nicht.

„Wieso bist du hier?", fragte ich ihn, folgte ihm jedoch gehorsam wieder ins Haus zurück, war froh für die Wärme, merkte, wie sehr meine Füße froren. Draußen war es auch verflucht kalt gewesen.

„Ich konnte nicht wirklich schlafen, sah aus dem Fenster und erblicke meine Tochter mitten in der Nacht vor den Toren des Irrgartens. Was hast du dort außen zu suchen, Alice?", fragte er mich vorwerfend, setzte sich auf eines der Sofas hier im Salon und ich tat es ihm gleich, zog gleich einer der darauf liegenden Decken zu mir und wickelte meine Füße in dieser ein.

„Ich habe vom Irrgarten geträumt und... keine Ahnung so genau, was ich will. Um ehrlich zu sein, war das ein sehr spontaner Entschluss", sagte ich, fand es nun im Nachhinein auch komisch, wie dringend ich da rein wollte und das in der Nacht. Dieser Teil des Gartens machte mir tagsüber eine Heidenangst und nun wollte ich da einfach rein? Was war in mich gefahren? Dort drinnen hätte sonst was sein können und er war ja nicht grundlos abgesperrt. Ich verlor wirklich den Verstand allmählich.

„Halte dich einfach fern von ihm, ok? Es hat schon seine Gründe, wieso man nicht in ihn sollte."

„Und die wären?", fragte ich, sah wie er lächelnd die Augen verdrehte. „Du bist neugieriger als es dir gut tut, aber na gut, du wirst ja nie locker lassen", seufzte er ergeben. „Es sind Geschichten, die es um ihn gibt, und frag mich nicht, wie wahr sie sind, viele sind vermutlich eher Märchen, immerhin existiert dieses Haus und der Garten seit Ewigkeiten, beide haben die Kriege überstanden, unbeschadet und haben somit viel gesehen und erlebt."

„Und warst du nie in ihm drinnen? Ich meine, das ist dein Kindheitshaus und du bist dort nie hinein?", fragte ich und war erstaunt, als er den Kopf schüttelte. Ich glaube, wenn ich hier großgeworden wäre, ich wäre früher oder später in ihn hinein. Irgendwann hätte ich es nicht ausgehalten und wäre hinein, allein wenn Elin hier gewesen wäre, hätte es kein Entrinnen davor gegeben, sie hätte mich gezwungen mit ihr diesen zu erkunden.

„Meine Mutter war immer sehr streng, wenn es um den Garten ging. Charles ist einmal rein, das weiß ich noch, danach hat er einen Monat Hausarrest bekommen", lachte mein Vater und ich schmunzelte bei dem Gedanken, dass Onkel Charles Hausarrest bekommen hatte.

„Und was hat er erzählt, was dort drinnen ist?"

„Nichts. Nur Hecken und einige Wege. Ich erwarte auch nichts besonders dort drinnen, es ist eher die Magie der Familie, die ihn etwas... lebendiger werden ließ. Die Pflanzen sollen sich bewegen, einen in die Irre führen, es ist einfach zu riskant dort hinein zu gehen."

„Wieso wurde er dann überhaupt erschaffen?", fragte ich nicht verstehend und er schüttelte den Kopf. „Wenn ich das nur wüsste. Auf jeden Fall existiert er und ist kein Spielplatz, also ist es schlauer sich von ihm fernzuhalten." Ein lebendiger Garten. Klar, bei unserer Familie ist jede Pflanze lebendiger als andere, doch ein ganzer Irrgarten, der sich selbstständig macht? Es klang wie in einem Spiel, als ob in der Mitte irgendein Schatz verborgen liegen würde, vielleicht war das ja auch so? Es brachte mich aber auf eine weitere Frage, die mein Vater mir sicherlich beantworten würde.

„Wie viele in der Familie sind echte Wächter geworden? Was konnten sie alle so? Ich weiß ja nicht viel zu der ganzen Sache und es wäre cool zu wissen, was meine Vorfahren alles so konnten. Gab es noch andere Erdbändiger? Die waren sicher talentierter als ich." Ich ratterte all die Fragen regelrecht herunter, doch meine Neugier war zu groß und ich wollte unbedingt mehr wissen, mehr über meine Familie, mehr zu dieser ganzen Geschichte.

„Oh, da gab es einige Wächter, aber viele habe ich selbst wieder vergessen", lachte mein Vater, schien froh von dem Themenwechsel zu sein. Ihm und meiner Mutter missfiel es nach wie vor, dass ich nun doch Teil dieser Welt geworden war, aber sie wussten, dass das Versteckspiel vorüber war und im Gegensatz zu mir, würde Dari die Möglichkeit haben alles noch im jungen Alter jetzt zu lernen, vorbereitet zu sein, falls es ihn treffen sollte.

„Da wäre zum einen deine Ur-uroma Cara, die Großmutter deines Großvaters. Sie war eine der starken Sorte. Sie konnte Wasser bändigen, war überaus begabt und raffiniert, dein Großvater soll sie verehrt haben", erzählte er mir und ich glaubte irgendwo schon mal Bilder von ihr gesehen zu haben, die Großmutter mir gezeigt hatte.

„Und sonst? Gab es bis Malia keine weiteren mehr?"

„Oh doch, aber sie sind keine direkten Vorfahren von uns. Familienstammbäume sind so kompliziert, aber naja, da gab es mal einen Großonkel oder wie auch immer man das alles nennt, der konnte Tiere beeinflussen. Ich habe ihn nur einmal als Kind getroffen und er war immer sehr witzig gewesen, aber er ist auch schon lange tot. Dann gab es irgendeinen entfernten Cousin meinerseits, der auch irgendwas mit Pflanzen sogar konnte, aber es unterschied sich zu deiner Kraft, frag mich nur nicht inwiefern, ich habe keine Ahnung", lachte er und ich musste ebenfalls lächeln, würde zu gerne mal jemand anderen aus meiner Linie treffen, der auch ein Wächter war, vielleicht würde ich mehr verstehen? Wir waren immerhin nochmal anders verbunden, unser Blut war ja dasselbe irgendwie.

„Wie hat Mum dir das alles geglaubt? Muss sie nicht gedacht haben, du wärst verrückt, als du ihr von Wächtern erzählst?"

„Hat sie auch, aber andere Umstände haben es ihr glaubhaft übermittelt", sagte er und ich verstand nicht, was er damit meinte, doch da sprach er schon weiter. „Weil es so schwer zu verstehen ist, heiraten die meisten auch eher andere Leute aus Wächterlinien, das macht es einfacher."

„Aber wenn jetzt zum Beispiel jemand aus der Naturlinie einen der Götterlinie ehelicht und Kinder kriegt-"

„Oh, das ist ein kompliziertes Ding. Auf eine seltsame Art wird entschieden, welche Linie dominanter ist und je nachdem schreitet diese weiter. Ein Kind kann nicht beide Linien an sich erben und doch ist es einmal bisher vorgekommen."

„Nur einmal? Wieso? Wer war es?", fragte ich, fand diese Geschichtsstunde mehr als interessant und war froh nun endlich Antworten zu kriegen, nicht mehr aus allem herausgehalten zu werden.

„So spannend ist es nicht, um ehrlich zu sein, und viel weiß ich dazu auch gar nicht eigentlich", wandte mein Vater jedoch ab und ich verzog leicht das Gesicht, merkte aber, wie ich anfing wieder etwas müder zu werden, besonders jetzt, wo mein Körper wieder aufgewärmt wurde durch die Decke.

„Und Malia?", fragte ich ihn vorsichtig, da das Thema Malia immer riskant war. Seltsam, bis vor einer Woche hatte ich meine tote Cousine praktisch vergessen und nun war ihr Name so oft gefallen, dass ich ihn langsam gar nicht mehr hören konnte.

„Sie konnte das Wetter beeinflussen. Eine verdammt starke Gabe, die sie aber sehr gut beherrschte, auch wenn es anfangs so aussah, als ob sie untergehen würde. Hat viel Drama gegeben damals", sagte er lächelnd, schien sich gut daran erinnern zu können, so wie er in die Weite sah. „Sie hätte die mächtigste Wächterin unserer Zeit werden können, mit Sicherheit sogar, aber na gut. Jetzt glauben ja viele, dass die kleine Nasrin das Zeug dazu hat. Ich habe da so meine Zweifel."

„Wieso? Weil sie so jung ist?"

„Nein, eher weil ihre Kraft nichts ist, was sie selbst jemals beherrschen kann. Sie wird stark dadurch, dass andere die Kontrolle über sie einnehmen, das ist keine Stärke, das ist einfach nur gefährlich und die arme Kleine ist dem hoffnungslos ausgeliefert", erklärte er mir und ich dachte niedergeschlagen an das junge Mädchen. Sie hatte es nicht leicht, würde es vermutlich nie leicht haben. Was man daran ändern konnte, wusste ich vermutlich am wenigsten.

„Du solltest aber mal dringend ins Bett, in ein paar Stunden musst du zum Unterricht, also hop."

Ich ließ mich von ihm widerwillig zurück nach oben scheuchen und warf mich in meinem Zimmer angekommen schon auf mein Bett, wo ich mich unter meine Bettdecke versteckte und fast sofort wieder einschlief.


Wörter: 4649

Aloha :) Ich hoffe euch hat das Kapitel gefallen xx

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