Kapitel 46 || Hoffnungsschimmer

"Guten Morgen, Patrick." Eine Frau, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, lächelte mich an. Sie trug ihr schütteres, dunkelblondes Haar zu einem kleinen Dutt am Hinterkopf zusammengesteckt. Ihr Kleid war braun und lang, um ihre Taille hatte sie eine graue Schürze gebunden. "Guten Morgen." Zaghaft erwiderte ich ihr Lächeln. "Wo finde ich Herrn Kamir?" "Vermutlich in der Bibliothek, falls du öfter hier sein solltest, lass dir gesagt sein, dass man ihn dort am ehesten trifft. Sie ist hinter dem kleinen Aufenthaltsraum gegenüber von der Küche." "Danke." 

Ich lief den Gang weiter nach hinten durch, öffnete die beschriebene Tür. Und tatsächlich stand der Priester mit dem Rücken zu mir leicht gebückt vor einem Bücherregal. 

"Herr Kamir? Darf ich Sie -" "Sagte ich dir nicht, dass du mich ruhig Harald nennen kannst?" "Äh..." "Wie auch immer. Bitte sprich mich nicht so an, wir sind hier alle eine Art Ersatzfamilie, das würde das Klima zerstören." Ich nickte. "Entschuldigung." "Alles in Ordnung. Was wolltest du wissen?" "Maurice und Michael sagten, du könntest mir helfen, Manuels Kopf aus der Schlinge zu ziehen." Er seufzte. "Eigentlich wollte ich, dass du von alleine darauf stößt, aber die beiden Plappermäuler konnten sich mal wieder nicht zurückhalten." Er lachte auf, drehte um und lief um zwei Ecken zu einem anderen Abteil. Ich folgte ihm, wenn auch etwas unsicher. "Nun denn, jetzt ist es auch zu spät. Ich werde mein Bestes geben, dir und Manuel zu helfen. Aber behalte im Hinterkopf, dass wir das Gesetz nicht umschreiben, sondern nur interpretieren können. Es gibt viele kleine Nischen, Artikel die keiner kennt, die aber durchaus nützlich sein können." Sein Blick war eindringlich. "Hast du das verstanden?" Ich nickte. "Habe ich." "Gut. Dann steht dem nichts mehr im Wege. Ich gebe mir Mühe, etwas zu suchen, aber dafür brauche ich die genaue Lage. Erzähl mir alles, was du weißt und lass kein Detail aus, es könnte von schwerer Bedeutung sein, egal, wie unwichtig es erscheint." Ich nickte. "Gut, dann nimm Platz, ich vermute, wir werden ein wenig Zeit brauchen." Ich setzte mich zögerlich auf die Kante des Sessels. Eigentlich vertraute ich ihm voll und ganz, doch die Zeit, die ich mit Manuel in Varia verbracht hatte, war so fern von all dem, so privat. Ich atmete ein paar mal tief durch, dann begann ich zu erzählen. 

Herr Kamir hörte mir aufmerksam zu, als ich geendet hatte, runzelte er die Stirn, stand auf lief zu einem Regal. Abrupt machte er halt, drehte sich wieder rum und kam zu mir zurück. "Ich suche uns etwas, das wird schon. Du musst mir nur etwas Zeit geben. Ich habe schon eine Idee, warte nur." Er wandte sich wieder den Büchern zu, sah kurz über die Schulter und bedeutete mir, den Raum zu verlassen. Etwas stutzig stand ich auf und lief heraus. Als ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, seufzte ich. Es war verdammt anstrengend gewesen, doch es hatte mindestens so gut getan, sich das alles von der Seele zu reden. Ich schlenderte den Gang hinunter, bog in Richtung der Zimmer ab. Vor der Tür blieb ich stehen. Ich hatte keine Lust mich den Fragen von Maurice und Michael zu stellen, auch wenn sie mir sicherlich nicht böse wären, würde ich sie nicht beantworten. Doch ich gab mir einen Ruck und klopfte an die Tür. Nach dem gestrigen Erlebnis würde ich das bestimmt nicht mehr verlernen. Als keine Antwort kam, öffnete ich sie vorsichtig und spähte herein. Der Raum war leer, ganz zu meinem Vorteil. Ich trat ein, zog die Tür zu und drehte den Schlüssel im Schloss herum. Grummelnd ließ ich mich, mit dem Gesicht voran, auf mein Bett fallen, genoss die Stille. 

Etwas später wachte ich auf. Orientierungslos sah ich mich um. Jemand hämmerte gegen die Zimmertür. "Ja?", rief ich, fuhr mir mit der Hand durch die Haare, um sie halbwegs in Ordnung zu bringen und sah erwartungsvoll zum Eingang. "Ja... Dass ich nicht lache... Mach die Tür auf, Patrick!" Erst da fiel mir wieder ein, dass ich zugeschlossen hatte und warum. Schuldbewusst stand ich auf und öffnete. "Bei Ayn, es tut mir leid, Michael." Er lachte. "Alles gut, du hast mich ja nur ausgesperrt und zehn Minuten warten lassen." "So lang? Das tut mir leid, wirklich." "Alles gut, mach dir keinen Kopf. Rate mal, wie oft Maurice irgendwas verschläft." Ich lächelte ihn nervös an. "Es ist wirklich in Ordnung." Er drängte sich an mir vorbei und lief zu einem Schrank. 

Herr Kamir kam den gang entlang. Sein Gewand wehte hinter ihm her, er sah mich erleichtert an, als hätte er mich gesucht. "Patrick, wir müssen dich nach Hause bringen. Ich war so in meine Arbeit vertieft, ich vergaß ganz, dass du vermisst wirst." "Oh" Ich hatte meine Eltern so erfolgreich verdrängt, dass sich die Erkenntnis sich wie ein Schlag in die Magengrube anfühlte. "Müssen wir?" "Keine Sorge, ich werde alle Schuld auf mich nehmen. Ich bringe dich schnell, komm." Er schob mich in Richtung des Ausgangs. Ich warf Michael einen hilflosen Blick zu, doch dieser konnte nicht anders, als mir mit einem betroffenen Ausdruck in den Augen zu zu winken. 

Herr Kamir zog an dem kleinen Glockenschlägel. Es dauerte nicht lang, da erklangen Schritte und meine Mutter öffnete die Tür. "Patrick!" Sie schloss mich in die Arme und sah den Priester entschuldigend an. "Verzeihen Sie -" "Kein Grund zur Sorge, Ma'am, wir hatten nur einiges an Arbeit zu erledigen, sodass ich beschlossen habe, es wäre besser Patrick in der Unterkunft nächtigen zu lassen, als ihn so spät noch nach Hause zu schicken." "Hat er Ihnen keine denn keine Probleme bereitet?" Sie klang wie die besorgte Mutter eines Dreijährigen, der noch keine Manieren erlernt hatte. Doch Herr Kamir schüttelte den Kopf. "Keineswegs, seine Hilfe war äußerst nützlich und ich denke, dass sie ihm gut tut." "Ja? Wie schön. Wollen sie auf einen Kaffee ins Haus kommen? Ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten." "Natürlich, wie kann man solch ein Angebot ausschlagen?" "Folgen Sie mir." Meine Mutter lief ein paar Schritte voran, dann drehte sie sich zu mir um. "Patrick, geh du auf dein Zimmer." 

Es klopfte. "Ja?" Ich sah auf, in der Erwartung, dass mein Vater mich mit einer Predigt begrüßen würde. Doch stattdessen war es Herr Kamir, der mich mit einem freundlichen Lächeln bedachte. "Darf ich kurz mit dir reden?" "Klar." Ich stand auf, räumte meine Jacke von dem Schreibtischstuhl. Er schloss die Tür hinter sich und setzte sich, entgegen meiner Erwartungen, auf das Bett. Einen Moment lang schwieg er, betrachte mein Zimmer. Dann wandte er sich mir zu. "Ich habe deine Mutter dazu gebracht, zu zusagen, dass du die Tage deiner Lehre bei mir verbringen wirst. Sie meinte, Abstand zu all dem würde dir guttun." Überrascht hob ich meine Augenbrauen. "Wirklich?" "Warum sollte ich dir falsche Dinge erzählen?" "Danke. Danke Harald. Wirklich." Er grinste zufrieden und stand auf. "Pack deine sieben Sachen zusammen und bereite dich auf eine intensive Lehre vor. Und übrigens", meinte er, als er schon im Türrahmen stand, "hübsches Zimmer." "Danke."

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