85. ...und der Tod steht vor der Tür.
Das Lied bitte wirklich nebenbei hören. Es würde mir viel bedeuten.
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Lily war noch Tage nach Marlenes Tod todtraurig und am Boden zerstört. Sie wollte nicht essen, sie wollte nicht schlafen. Sie wollte nur noch weinen und ihrer Freundin nachtrauern, die zu früh gegangen war und nie wiederkommen würde.
James fand Lily am Morgen von Harrys erstem Geburtstag um fünf Uhr morgens in der Küche, wie sie putzmunter den Brautkatalog durchblätterte, den Marlene einmal dagelassen hatte. „Guten Morgen, Schatz", sagte Lily fröhlich. „Meinst du, dass würde ihr stehen? Oder eher dieses?" Sie deutete auf einige der Kleider und James runzelte die Stirn und verzog das Gesicht.
„Lily, hör auf", murmelte er leise und wollte ihr den Katalog wegnehmen.
„Nein, nein, ich hab doch Zeit und dachte mir, ich such schon mal ein Kleid für Marlene raus. Zu ihren Haaren würde ja eine blaue Schleife passen, was meinst du? Oder lieber blaue Schuhe? Sie mag ja eigentlich keine hochhackigen, aber für diesen Tag macht sie bestimmt eine Ausnahme. Ach, wenn ich doch nur wüsste, welche Farbe Caradoc tragen wird, dann könnte ich das viel genauer sagen."
„Lily, bitte, hör auf", sagte James mit etwas festerer Stimme und griff nach ihrem Handgelenk.
„Ah, du hast Recht, ich sollte mich eher um die Dekoration kümmern! Marlene wird bestimmt schon längst ein Kleid ausgesucht haben, immerhin soll die Hochzeit doch schon bald sein und - "
„Lily!", schrie James wütend und mit Tränen in den Augen. „Marlene ist tot! Hör auf... hör... hör bitte auf." Seine Stimme brach ein wenig und wieder schien ein kaltes Messer in sein Herz zu stoßen. Lilys Lippe zitterte kurz, dann wandte sie sich ab.
„Wovon redest du denn da? Ob sie wohl weiße Rosen wollen?" James konnte es hören. Lily weinte.
„Hör auf", sagte er noch einmal, wieder etwas leise und schlang seine Arme um sie. „Ich weiß, dass es weh tut."
„Nein, du weißt es nicht", schluchzte Lily nun. „Du... du weißt gar nichts. Ich vermisse sie. Sie... war meine erste Freundin. James, ich vermisse sie."
„Ich weiß", murmelte er nur. „Ich auch. Ich vermisse sie jeden Tag etwas mehr, Lily."
„Warum sie, James?"
„Weil die Guten immer zu früh gehen müssen", murmelte er in ihren Halsansatz und krümmte den Rücken durch. Seine Augen brannten schon wieder und doch konnte das Eis in seiner Brust nicht geschmolzen werden.
Weil es Harrys erster Geburtstag war, versuchten sie die Gedanken an Marlene in die hintersten Winkel ihrer Köpfe zu schieben und nicht daran zu denken, dass sie ihre Freundin nie wiedersehen konnten und auch nicht zu ihrer Beerdigung gehen konnte. Sie konnten das Haus nicht verlassen, sie konnten Harry nicht alleine lassen und James würden nicht alleine gehen wollen, genauso wenig wie Lily. Die einzige Hoffnung, die sie hatten, war, dass Caradoc daran nicht genauso zerbrechen würde.
Als die Sonne fast am Zenit stand, trudelte eine Eule ein, die ein Paket von Sirius mit sich brachte.
Die Beerdigung war... nicht schön, aber ergreifend. Ihr habt zwar gefehlt, aber wir wissen, warum. Marl – Sie hätte es verstanden, denke ich.
Ich hab Harry ein kleines Geschenk eingepackt. Hoffe, dass wenigstens er etwas Spaß haben wird. Ellie richtet euch Grüße aus.
Sirius
Es war nicht die übliche Art von Sirius sich in Nachrichten so kurz zu halten. Wenn er dann mal Briefe schrieb, dann waren sie ausladend und ergreifend, fast wie ein Schauspiel. Dahingegen wirkte diese kurze Nachricht nun so, als hätte er seine Hand einfach nicht länger ruhig halten können.
„Das ist so typisch für ihn", lachte Lily mit Tränen, die ihr wieder die Wangen hinabliefen. Ein Spielzeugbesen war in dem Paket enthalten gewesen, gerade mal groß genug, dass Harry darauf sitzen konnte.
„Ist das nicht etwas zu gefährlich?", fragte James und Lily schüttelte den Kopf.
„Gerade von dir hätte ich etwas anderes erwartet, James. Komm, hol ihn mal her." Lily zückte ihre Kamera und während Harry aus seinem Bett hob, schob sie den Tisch im Wohnzimmer beiseite. James' Bewegungen waren träge, als er Harry vorsichtig auf den Besen setzte und sein Sohn sich wohl instinktiv mit den Händen und Füßen daran festklammerte. Er blieb in sicherem Abstand hinter ihm stehen, während Lily bereits wild Fotos schoss. Wie durch Zauberhand hob der Besen knapp einen Meter in die Höhe und Harry düste in Schrittgeschwindigkeit drauf los.
Es tat den beiden gut, dass sie etwas sehen konnten, was so viel Freude bereitete, auch wenn Harry fast die Katze umbrachte und eine schreckliche Vase von Petunia zerdepperte, worüber sich Lily allerdings nicht zu sehr beschwerte (und sich auch nicht die Mühe machte, sie wieder zusammenzusetzen). Harrys fröhliches Kinderlachen erweichte ihre Herzen wieder etwas und an diesem Abend war James nicht mehr ganz so deprimiert, als er schlafen ging. Ja, Marlene war von ihnen gegangen und sie würde die Zukunft nicht mehr erleben, aber sie würden dafür sorgen, dass ihr Opfer nicht umsonst gewesen war. Sie würden eine gute Zukunft schaffen.
James kam es so vor, als würden die nächsten Monate wie im Flug vergehen. Es war nicht das schnelle voranschreiten, was vorher geherrscht hatte, sondern eher so, als hätte jemand die Zeit genommen und so lange daran gerüttelt, bis ein interessanteres Datum darauf zu sehen war. Halloween von 1981 fiel auf einen Samstag und so war in Godric's Hollow reger Verkehr. Aus ihren Fenstern konnten James und Lily beobachten, wie Mütter mit ihren Kindern an der Hand durch die Straßen huschten, um noch schnell etwas einzukaufen, oder die teuren Kostüme zu präsentieren, die sie gekauft hatten. Viele der Kinder waren verkleidet und sahen liebenswert aus, wie sie mit kleinen Kürbislaternen in der Hand neben ihrer Mutter herliefen und dabei strahlten, als wäre es ihr Geburtstag.
"Du denkst bestimmt daran, das wir mit Harry sowas auch bald machen können, oder?", fragte Lily und lächelte ihn an.
"Bin ich so einfach zu durchschauen?", fragte er mit einem seiner schiefen Grinsen und Lily stieß ihn an.
"Für mich schon. Ich hab doch in deinen Augen gesehen, dass du Harry am liebsten in ein Quaffelkostüm stecken willst." James kratzte sich am Hinterkopf und fühlte sich ziemlich ertappt.
"Ich hätte dich natürlich vorher um Erlaubnis gebeten."
"Selbstverständlich hättest du das", sie lachte und schlug ihm spielerisch gegen die Brust. "Jetzt hilf mir mal."
James folgte Lily in die Küche, in der Harry auf einem Hochstuhl saß und mit seinen Händen in Brei herumwühlte. Während Lily sich sofort um Harry kümmerte, lehnte James sich gegen den Türrahmen. "Schau mal in den Schränken nach, ob dort irgendwo der Kleber ist. Ich find den einfach nicht."
"Hast du schon mal Accio versucht?", fragte er grinsend und Lily blickte ihn mit einem Schnauben an.
"Ob du es glaubst oder nicht, aber darauf bin ich auch schon gekommen. Jetzt such." Sie versuchte Harry aus seinem Hochstuhl zu befreien, der allerdings ziemlich quengelte und James machte sich daran, Lily den Kleber herauszusuchen.
Es stellte sich heraus, dass er sich unter der Besteckablage in einer Schublade verklemmt hatte und deswegen auch nicht aufgerufen werden konnte. "Ach, tausend Dank, James. Ich wollte noch ein paar Bilder in das Album kleben." Harry, der sich mittlerweile wieder beruhigt hatte, saß nun bei seiner Mutter auf dem Arm und betrachtete die glitzernden Lichter vor dem Fenster. Die anderen Kinder aus dem Dorf hatten ihre kleinen Laternen hervorgeholt und waren nun auf der Suche nach Süßem.
Lily setzte Harry im Wohnzimmer auf dem Boden ab und holte das Fotoalbum aus dem Regal. James begnügte sich eine Zeit lang, ihr einfach nur zuzusehen, wie sie die alten Erinnerungsstücke einklebte, während der Kleine auf dem Boden herumrollte und glückliche Geräusche von sich gab. Der Kater hatte sich neben James auf dem Sofa eingerollt und ließ sich von ihm kraulen und schnurrte.
"Du brauchst bald ein neues", stellte er schmunzelnd fest, als er bemerkte, wie viel Lily bereits in das Buch geklebt hatte.
"Ja, das glaub ich auch", seufzte sie. "Sirius hat so viele Fotos geschickt, damit könnte ich alle Wände bekleben und hätte immer noch Dutzende davon übrig." James lachte leise und erhob sich dann. Er ging hinüber zum Regal und tippte mit seinem Zauberstab gegen das magische Radio, welches leise kratzend ansprang. Ein langsam-romantisches Lied spielte.
"Kann ich Mrs. Potter für einen Tanz begeistern?", fragte er und hielt eine Hand ausgestreckt. Lily lächelte breit.
"Mrs. Potter würde nichts lieber tun." Sie klappte das Fotoalbum zu und gesellte sich dann zu James. Lilys Haut war warm und weich an seinen Fingern und ihre Augen strahlten, als ihre Blicke sich trafen. Ihre Bewegungen waren geschmeidig und grazil, wie die einer Katze und als sie gemeinsam langsam durch das Wohnzimmer tanzten - Lily hatte ihren Kopf an seiner Halsbeuge gebettet - bekam keiner von ihnen mit, wie es vor dem Fenster leicht flackerte.
Und auch die vermummte Gestalt, die sich mit lautlosen Schritten auf die Tür zu bewegte, bemerkten sie erst zu spät.
"Wie lange ist es her, dass wir getanzt haben?", fragte Lily leise und küsste seine Wange.
"Zu lange", erwiderte James mit geschlossenen Augen und genoss diesen Moment der Ruhe und des Friedens, in der ihre Gedanken für wenige Augenblicke einfach nur still sein konnte. Seine Händen waren hinter ihrem Rücken verschränkt und Lilys rechte Hand war in seinen Haaren vergraben. "Wir sollten das regelmäßig machen." Sie lächelte leicht.
"Sicher, dass du das - "
Doch James sollte nie erfahren, was Lily sagen wollte. Die Haustür war mit einem lauten Knall aufgeflogen und die beiden sprangen erschrocken auseinander. "Was - ?"
Ein Holzsplitter war bis ins Wohnzimmer geflogen und James lief mit schnellen Schritten in den Flur - nur um in das bleiche, schlangenartige Antlitz von Lord Voldemort zu blicken. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht und James' Glieder wurden für einen Moment steif, dann schrie er: "Lily, er ist! Nimm und Harry und lauf, ich halte ihn auf!"
Lily schrie und Harry weinte, doch Voldemort verzog keine Miene. James' Herz hatte ausgesetzt und er konnte nicht richtig atmen und er wusste, er würde nun sterben. Sein Zauberstab lag nutzlos im Wohnzimmer neben dem Radio, welches noch immer lief.
"Avada Kedavra!" Voldemorts Stimme knallte durch das Haus wie ein Peitschenschlag und als er den grünen Lichtstrahl auf sich zurasen sah, galten James' letzte Gedanken Lily und Harry und er hoffte, dass sie es aus dem Haus geschafft hatten. Vielleicht würden sie überleben...
James Potter fiel, wie eine Marionette, dessen Stränge man durchtrennt hatte, als der Todesfluch seine Brust durchfuhr. Dumpf kam er auf dem Boden auf.
Lily konnte es hören, doch sie wollte es nicht wahr haben. Sie verbarrikadierte sich in Harrys Kinderzimmer, stellte den Sessel vor die Tür und den Beistelltisch und war drauf und dran auch das Regal zu schieben, als sie die Schritte hören konnte, die die leise knarzende Treppe hochkamen.
Mit tränenverschmiertem Gesicht und hämmerndem Herzen wandte sie sich an ihren Sohn, der aufrecht in seinem Kinderbett saß. "Harry, du musst stark sein. Mommy liebt dich", schluchzte sie. "Da-Daddy liebt dich." Ihre Stimme zitterte heftig und sie konnte ihre Hände nicht unter Kontrolle bringen. Alles in ihrem Körper schien verkrampft zu sein.
Die Tür wurde gewaltsam aufgebrochen und eine Vase im Flur zersprang klirrend auf dem Boden. Lily erhob sich langsam und versuchte Harry abzuschirmen.
"Bitte, verschone ihn, bitte", flehte sie Voldemort, der Dorcas und Marlene und James umgebracht hatte. "Bitte, nicht Harry."
"Geh beiseite", flüsterte er mit einer so eiskalten Stimme, dass Lily alleine durch den Klang schauderte. Beinahe schlangenartig trat er in den Raum und seine dunkle Präsenz drohte sie zu ersticken.
"Nein, bitte, nicht Harry, nimm mich an seiner Stelle, töte mich, aber verschone Harry", flehte sie weiter und versuchte ihre Tränen zurückzuhalten, die jedoch weiter ihre Wangen hinabflossen.
"Geh beiseite, du dummes Mädchen!", verlangte Voldemort und eine unsichtbare Kraft schien an ihrem Geist zu zerren, doch Lily schüttelte es einfach ab. Kurz sprang soetwas wie Überraschung in Voldemorts Augen.
"Verschone ihn, bitte, nimm mich, töte mich an seiner Stelle." Lilys ganzer Körper stand unter Spannung, als Voldemort den Zauberstab hob und er den bleichen Mund öffnete.
"Avada Kedavra!", schrie der dunkle Zauberer und vor ihrem geistigen Auge erlebte Lily noch einmal eine schrecklich lange Sekunde ihr komplettes Leben und sie wusste, sie würde James gleich wieder sehen. Mit einem Lächeln auf den Lippen schirmte sie ihren Sohn vor dem Todesfluch ab und fiel ebenso zu Boden, wie es ihr Mann vorher tat.
Der dumpfe Aufschlag schien Harry aus seiner Starre zu erwecken und er fing an zu weinen, als er realisierte, dass seine Eltern nicht jeden Moment wieder auftauchen würden.
Sybill Trelawnys Prophezeiung hatte sich letztendlich bewahrheitet.
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