83. ...die Nächte werden dunkler...
„James", fing Lily eines wunderschönen Morgens an. Der März hatte Einzug gehalten und mit ihm war der Frühling zurückgekehrt. Der Schnee war geschmolzen, der Wind war milde geworden und Harry hatte die ersten Frühblüher im Garten entdeckt, die sich aus der kalten Erde geschält hatten. Doch obwohl die Strahlen der Sonne jeden noch so kleinen Winkel erwärmten, so schien es Lily nicht zu erreichen. Sie fühlte sich weiterhin leer.
„Hm?" Ihr Mann saß über eine Ausgabe des Tagespropheten gebeugt, wie eigentlich jeden Morgen. Er sah sich die Sterbeanzeigen an.
„Wieso...", sie holte tief Luft, ehe sie weitersprach. „Wieso verlassen wir das Land nicht?"
James blickte überrascht auf und seine braunen Augen wirkten hinter seiner Brille auf einmal so unergründlich. Sonst konnte sie nur anhand seiner Augen sagen, was er gedacht hatte, doch dies war auf einmal nicht mehr möglich. Als hätten sie sich voneinander entfernt.
„Das können wir nicht", antwortete er sanft aber bestimmend. „Harry würde so eine Apparation über weiter Distanzen nicht guttun. Wir könnten ihn auch nicht auf einem Besen mitnehmen oder durch das Flohnetzwerk. Portschlüssel sowieso nicht, die werden vom Ministerium alle überwacht." Ein schwaches Glimmen war in seine Augen getreten. „Aber ich weiß, was du denkst."
Lily ließ sich langsam neben ihm nieder. „Ich denke nur, dass es vielleicht sogar das Beste für uns wäre. Harry wäre in Sicherheit und..."
„Aber wir könnten es nicht", meinte James und Lily schloss die Augen. „Du weißt genau, dass wir das nicht könnten. Einfach das Land verlassen, den Krieg ignorieren und unsere Freunde zum Sterben zurücklassen? Nein. Nein, das könnten wir nie tun."
„Nein, wahrscheinlich nicht...", murmelte sie und schlang ihre Arme um sich. „Es würde sich falsch anfühlen. Wenn wir einfach gehen würden."
„Während sie hier kämpfen, könnten wir uns nicht in einem netten Haus in den Alpen zurückziehen und warten, bis alles vorbei ist. Nicht einmal für unsere Sicherheit." James griff nach ihrer Hand und strich sanft über ihren Handrücken. „Wir müssen hierbleiben."
„Ich weiß", seufzte sie. „Aber ich musste es von dir hören."
„Marlene würde uns die Hölle heiß machen, wenn wir die Hochzeit verpassen würden", meinte James und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. „Wenn das vorbei ist, dann machen wir einen langen Urlaub. Irgendwo am Meer mit einem schönen Klima, was sagst du?"
„Das klingt gut. Harry könnte das Wasser sehen und den Sand. Das wäre wirklich toll." Sie lächelte schwach, auch wenn Lily seit Wochen gar nicht nach Lächeln zumute war. „Und wir nehmen die anderen einfach mit. Und bleiben da. In einem schönen Haus in den Tropen, fernab von diesem Land voller Krieg."
„Und jeden Tag würden wir am Strand spazieren gehen und uns die Sonne auf die Köpfe scheinen lassen", sagte James. „Dann könnten wir einfach mal vergessen."
„Ja, einfach vergessen, was hier vor sich geht", murmelte Lily und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. „Das wäre zu schön um wahr zu sein."
Während James weiter die Zeitung durchforstete, fiel Lilys Blick auf einen Artikel auf der letzten Seite. Ohne etwas zu sagen, nahm sie ihn heraus und las ihn vor.
„Liebe Leserinnen und Leser, in den letzten Tagen gab es immer mehr Angriffe auf Muggel. Ich weiß nicht, wie Sie das sehen, aber ich kann bei etwas nicht tatenlos daneben sitzen. Die meisten meiner Nachbarn sind Muggel und einige meiner besten Freunde stammen aus Muggelfamilien. Die krankhafte Vorstellung der Todesser, dass sie besser wären, als diese Menschen, nur weil sie das Glück haben und Magie besitzen, macht mich verrückt. Ich wünsche mir, dass wir in einer Welt leben können, in der Muggel und Magieträger gleichermaßen in Harmonie leben können. Wir wären schon längst ausgestorben, hätten wir uns nicht irgendwann mit den Muggeln vermählt und die magischen Blutlinien sind seit Langem nicht mehr so rein, wie viele dies gerne von sich behaupten. In jeder Familie gibt es irgendwo einen Muggel in der Familie, oder einen Halbblütler, oder einen Squib. Die Angst, dass wir Hexen und Zauberer wieder verfolgt werden, ist unbegründet! Die Muggel sind fasziniert von jeder Form von Außergewöhnlichem! Ich habe meine Zeit in hunderten Muggelbuchläden verbracht und jedes dritte Buch geht um Magie. Die Muggel lieben das Geheimnisvolle und Mysteriöse und ich bin der Meinung, dass wir uns ihnen offenbaren sollten. Warum helfen wir ihnen nicht bei ihren Problemen? So wie wir ihnen helfen, können wir viel von ihnen lernen. Seht euch die Technologien an, die sie entwickelt haben. Automobile und Flugzeuge! Dinge, die ohne Magie komplett möglich sind! Unser Leben wäre um einiges einfacher, wenn die Muggel und die Magier einfach zusammenleben würden.
Doch ehe dies möglich ist, rufe ich nun dazu auf, dass auch Sie Ihre Mitmenschen schützen sollen! Wenn Ihre Nachbarn Muggel sind, wovon ich stark ausgehen kann, dann legen Sie einen Schutzzauber über ihre Häuser. Schützen Sie sie! Die Muggel haben in diesem Krieg nichts verloren, also sollten wir unser Bestes geben, sie auch dort herauszuhalten.
Ein Bericht der freien Journalistin Dorcas Meadowes."
Lily bewunderte Dorcas, die sie nie persönlich kennengelernt hatte, dass sie so offen und mutig sprach. Von Marlene hörte sie nur das Beste über diese Hexe und aus ihren Artikeln las sie immer heraus, dass sie eine mutige, sanfte Person war. Eigentlich so gar kein Mensch, den sie je in Slytherin vermutet hätte. Wahrscheinlich hatte auch sie ein ziemlich stereotypenthematisiertes Bild in ihrem Kopf.
„Wann Marlene sie uns wohl endlich vorstellen kann?", fragte James, der ihr aufmerksam zugehört hatte.
„Hoffentlich bald", antwortete sie. „Sie scheint wunderbar zu sein."
„Sie scheint wie eine Person zu sein, die man gerne auf seiner Seite hat. Ich würde sie mir nicht zur Feindin machen wollen", erwiderte er lächelnd.
Lily und James sollten Dorcas Meadowes nie kennen lernen.
Sie wusste nicht wie, aber am nächsten Morgen stand Marlene im Kamin, mit Tränen, die ihr das ganze Gesicht verklebten und den Ruß an ihrer Haut haften ließen. Ihre Augen waren rot und sie zitterte und schluchzte so stark, als wäre sie durch einen eisigen Wintersturm gelaufen, obwohl draußen die Sonne ihre warmen Strahlen verschenkte.
„Marls", flüsterte Lily schockiert und wunderte sich in diesem Moment nicht, wie Marlene überhaupt in das Haus kommen konnte. „Marls, was ist passiert? Geht es Caradoc gut?" Ihre Freundin schien nicht fähig zu sein, Worte zu formen. Sie öffnete zwar den Mund und wollte sprechen, aber nur unförmige Laute entkamen ihrer Kehle. Lily führte sie schnell zum Sofa und rief dabei: „James! Komm sofort runter!"
Sofort ertönte das Poltern seiner Schritte, als er die Treppe herunterlief. Als er Marlene erblickte, verlor sein Gesicht sofort an Farbe und sein ganzer Körper wurde steif. „Marls..."
„S-Si-ie i-s-s-st to-to-tot!", rief die weinende Frau auf dem Sofa aus und schüttelte sich. „Tot...", flüsterte sie.
„Tot?", wiederholte Lily mit einem Kloß im Hals und spürte, wie ihre Hände taub wurden, als sie sie zu stark zu Fäusten ballte. „Wer?" Sie schluckte und warf einen Blick zu James, der sich zwar ein bisschen entspannt hatte, aber noch immer nervös wirkte. Sie wusste, er hatte mit einem 'Er' gerechnet.
„D - ", fing Marlene an, doch sie konnte nicht richtig reden. Sie verschluckte sich an ihren Worten, heulte Rotz und Wasser und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, während sie weiterhin unkontrollierbar schluchzte und sich hin und her wiegte. „Do - "
James kam langsam auf sie zu und kniete sich vor seine weinende Freundin. Er legte ihr vorsichtig eine Hand aufs Bein und öffnete den Mund. „Dorcas?" Beim Klang ihres Namens brach Marlene in noch mehr Tränen aus, auch wenn Lily nicht für möglich befunden hatte, dass dies möglich gewesen war. Marlene nickte heftig und ein Schluckauf befiel sie, als sie wiederholt den Mund öffnete, um zu reden, doch nur wieder krampfhaft Luft holte.
„Beruhige dich, Marlene", sagte James leise und erhob sich, damit er sie in die Arme nehmen konnte. „Beruhige dich." Lily fiel auf, dass er nicht wie andere sagte, dass alles gut werden würde, denn das würde es nicht.
Es dauerte fast eine Viertelstunde bis Marlene sich von ihrem Heulkrampf soweit befreit hatte, dass sie wieder gerade sitzen konnten und nur noch stumm weinte. „Was ist passiert?", fragte Lily dann.
„Der Artikel. Der von gestern, in dem - ", sagte Marlene.
„Ich hab ihn gelesen", flüsterte Lily und Marlene nickte.
„Die haben ihn auch gelesen und haben es nicht gut gefunden, was sie gesagt hat. Sie – sie haben sie beseitigt", schluchzte sie und vergrub ihr Gesicht noch einmal in einem Taschentuch. Dann zerrte sie ein Foto aus ihrer Hosentasche, welches zerknittert und durchnässt wirkte. „Sie war ein Mitglied des Ordens", flüsterte sie. „Da." Sie deutete auf eine wunderschöne, junge Frau, die in der zweiten Reihe, nicht sehr weit entfernt von ihnen stand. „Ich hab sie damals einfach nicht erkannt und... jetzt..."
„Schon gut, schon gut. Hey." James hatte sie wieder in den Arm genommen und dieses Mal war Lily auch zur Stelle, um ihrer Freundin Trost zu spenden. „Sie hat für das eingestanden, was sie für richtig hielt und... hat dafür einen hohen Preist bezahlt."
„Sie hatte noch so viel vor", flüsterte Marlene mit Tränen in den Augen. „Und ich... ich konnte nie - "
„Ich weiß", sagte Lily und strich ihrer Freundin über den Rücken. „Du hast es nie sagen können, und das ist schrecklich. Aber so hart es gerade klingt, lass dich davon nicht zerfressen. Sag es ihr bei ihrer... bei ihrer Beerdigung."
„Das werde ich. Ich werde ihr all die Dinge sagen, die ich nicht konnte. Und dann werde ich... dann werde ich Voldemort finden und ihn töten." Lily und James sogen scharf die Luft ein. „Er hat sie persönlich ermordet", flüsterte Marlene und jede Trauer war aus ihrer Stimme verschwunden. Nun war da nur noch Wut und Hass zu hören. Die Lust auf Rache hatte sie eingenommen. „Und das werde ich ihm nie vergeben."
Sie konnten Marlene nichts mehr sagen, da war sie wieder in den Kamin getreten und verschwunden. „Wir...", fing Lily an, wusste jedoch nicht, was sie sagen sollte.
„Wir sollten diesen Kamin verschließen", sagte James dann. „Zu unserer eigenen Sicherheit."
„Ja."
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