46. Gedanken bis zum Himmel
Lily betrachtete sich selber im Spiegel. Sie hatte noch nie viel davon gehalten, sich unnötig hübsch zu machen, aber an diesem Tag konnte sie nicht anders. Sie hatte das Gefühl, dass sie es ihnen schuldig war.
Unter ihren Augen waren breite, dunkle Schatten und obwohl ihre Haare glanzlos wirkten, hatte Ellie sich trotzdem die Zeit genommen und sie mit einer Bürste durchgekämmt und dann mit einem schmalen Band in einen Zopf gezwängt. Lily strich mit ihren Fingern leise seufzend an ihrem Kleid entlang. Natürlich musste sie etwas Schwarzes tragen.
„Lily." Sie wollte sich nicht umdrehen, sie wollte ihm nicht ins Gesicht sehen. James kam langsam auf sie zu und drehte sie an der Schulter herum. Seine haselnussbraunen Augen wirkten ebenso traurig wie ihre und sie war dennoch froh, dass er bei ihr war. „Du musst das nicht tun, wenn du es nicht willst."
„Aber dann hätte Ellie mir die Haare doch umsonst gemacht", sagte sie leise und versuchte zu lächeln, doch ihre Mundwinkel zuckten nur kurz und blieben dann schmal. James legte seine Arme um sie und zog sie für einen Moment an sich und Lily hatte das Bedürfnis, sich in sein Hemd zu krallen und zu weinen und ihn nicht mehr loszulassen und einfach in ihrem Zimmer zu bleiben. Doch das konnte sie nicht machen. Es herrschte ein Krieg und sie konnte nicht einfach aufgeben, weil sie ihre Eltern verloren hatte.
„Dann komm." James nahm ihre Hand in seine und führte sie dann aus der Tür. Es schien, als würde der Himmel sie verspotten, denn es war ein strahlend blauer Tag ohne eine Wolke und die Sonne schien mit voller Kraft auf sie herab. Lily blickte zu Boden und verstärkte den Griff um James' Finger, als sie aus dem Haus gingen. Sie hatte nicht erwartet, irgendjemanden zu sehen, deshalb war sie überrascht, als sie ihre Freunde im Garten sah. Ellie und Marlene hatten ebenfalls dunkle Kleider an, Remus, Sirius und Peter trugen wie James schlichte Hemden und Hosen. Ihre beiden Freundinnen nahmen Lily sofort in den Arm, als sie sahen und obwohl sie nichts sagen konnte, wussten die beiden, was sie sagen würde.
„Es tut mir so leid", murmelte Marlene und drückte sie einmal an sich. Lily nickte einfach nur.
„Wir – chrm – wir sollten dann los." Sirius zog Ellie und Marlene von ihr weg. Als er erfahren hatte, dass Lilys Eltern verstorben waren, hatte er seinen Streit mit James auf Eis gelegt. Sie nickte erneut und sie nahmen sie alle an den Händen. Lily schloss die Augen und konzentrierte sich dann auf ihr Ziel. Der altbekannte Schlauch sog sie alle zusammen auf und ließ sie erst wieder gehen, als die Luft langsam knapp wurde.
Lily spürte die Tränen in ihren Augen aufsteigen, als sie das Wohnzimmer ihres alten zu Hauses sah. Es hatte sich nichts verändert, geschweige denn von der Halloweendekoration, die niemand abgenommen hatte – die niemand abgenommen haben konnte. James war wieder da für sie und nahm ihre Hand. Seine Wärme ließ sie die Tränen wegblinzeln und einmal tief, rasselnd durchatmen.
„Willst du noch einmal - ", fing Remus leise an, doch Lily schüttelte energisch den Kopf. „Nein, nicht jetzt. Das bringe ich nicht über mich. Wir müssen zum..." Sie ließ den Satz unvollendet, aber alle wussten, welches Wort sie jetzt nicht aussprechen wollte. Remus nickte und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
Sie war froh, dass sie diese Unterstützung durch ihre Freunde hatte. Ansonsten wäre sie wohl nicht so gefasst. Die Tür zum Haus der Evans ging leise knarrend auf und Linnea trat ein. Lily blickte ihre Cousine einen Moment an, dann lagen sich die beiden Frauen in den Armen und ließen ihren Tränen freien Lauf. James betrachtete seine Frau mit traurigen Augen und irgendwie erinnerte es ihn an die Zeit von vor 2 Jahren, als seine eigenen Eltern gestorben waren. Lily war damals aus eigenem Antrieb zu ihm gekommen und hatte ihn wieder aufgemuntert. Jetzt musste er sich dafür revanchieren.
„Ich kann es immer noch nicht glauben", schluchzte Lin voller Trauer. „Ich habe sie doch an diesem Tag noch gesehen und dann – als ich zu euch bin, haben sie gesagt, sie wollen eine Freundin deiner Mutter besuchen fahren. Sie sagten noch, ich solle mir zu Weihnachten nichts vornehmen, damit wir zusammen feiern können und jetzt..." Lin brach ab und drückte ihr Gesicht in Lilys Schulter.
„Sie haben dich wie ihre eigene Tochter geliebt", murmelte die rothaarige Hexe leise. „Du warst uns immer willkommen, immer wenn du Probleme zu Hause hattest, dann hat meine Mutter nur darauf gewartet, bis du wieder zu uns kommst. Du bist wie die Schwester, die ich mir immer gewünscht habe."
„Und du auch. Ich war viel lieber hier als bei mir." Lily und Lin trennten sich voneinander und obwohl die beiden Frauen sich keineswegs ähnlich sahen, so wirkten sie wie echte Schwestern, die ihre Eltern verloren hatten.
„Lass uns das hinter uns bringen", sagte Lily und sie drehte sich zu ihren Freunden um. Lin folgte ihrem Blick und versuchte ihnen ein Lächeln zuzuwerfen, allerdings wirkte es eher wie eine Grimasse. „Hey", flüsterte sie mit brüchiger Stimme.
James trat wortlos zu ihr und umarmte sie kurz. „Du bist auch bei uns immer willkommen", sagte er dann laut und Lily lächelte schmal. „Das stimmt. Unsere Tür ist immer offen für dich." Lin stand mit schlaff hängenden Armen da, ließ sich von James umarmen und die Tränen liefen ihr die Wangen herunter. Ihre Pupillen zitterten und sie musste sich auf die Lippe beißen, um nicht laut zu schluchzen.
„Danke", flüsterte sie und James ließ von ihr ab. „Nicht dafür." Er griff nach Lilys Hand und ging dann mit ihr nach draußen, wo sie die strahlende Sonne wieder begrüßte. „Danke", sagte nun auch sie zu ihrem Ehemann und drückte seine Hand. Er lächelte einfach nur.
Die anderen traten nun ebenfalls in den Vorgarten, der voller Herbstblätter war und ein leichter Wind wehte ihnen entgegen. Lily hätte schwören können, dass sie kurz gesehen hätte, wie Sirius Lins Hand drückte, doch als sie wieder hinblickte, standen zwischen ihnen Peter und Remus.
„Dann lasst uns gehen", sagte Lily und versuchte die Aufregung aus ihrer Stimme zu verbannen. Sie wollte nicht schwach wirken, also setzte sie ein Lächeln auf, auch wenn es falsch war und sie wusste, dass ihre Freunde es binnen Sekunden durchschaut hatten. James würde sie damit sowie so nicht hinters Licht führen können, dafür kannte er sie viel zu gut.
Der Friedhof, auf dem Mr. und Mrs. Evans beerdigt wurden, lag kurz außerhalb von Lilys Heimatstadt, direkt an einer gut befahrenen Straße. Der Lärm der Autos wurde allerdings durch eine Wand aus Bäumen und Laubkronen gedämpft, sodass es beinahe komplett ruhig war, als sie durch die Grabreihen gingen. Lily wollte sich ablenken und die verschiedenen Namen und Daten lesen, doch sie schienen sich keine Sekunden lang in ihrem Hirn festsetzen zu wollen und kaum hatte sie geblinzelt, waren sie bereits wieder verweht, wie Nebel an einem windigen Tag.
Sie war dankbar, dass sie ihre Freunde dabei hatte, denn alleine, hätte sie es nicht über sich gebracht, neben ihre Schwester und ihren Ehemann zu treten. „Hallo, Petunia", sagte sie mit kratzender Stimme und die hochgewachsene Frau drehte sich mit hasserfülltem Blick zu ihr um. Petunia Dursley hatte sich verändert. Früher hatte Lily in ihren Augen trotz der Kälte auch immer noch einen Funken... Menschlichkeit gesehen, doch es schien, als hätte sie es komplett verloren. Ihre Wangenknochen waren noch ein Stück stärker hervorgestochen und Petunia trug ihre Haare in einer aufwendigen Lockenfrisur, die ihren schmalen Hals noch mehr betonten. Kurzum – Lily erkannte ihre Schwester kaum noch wieder.
„Was willst du denn hier, du Missgeburt?!", keifte sie und Vernon Dursley drehte sich nun auch um. Seine kleinen Schweinsaugen verengten sich sofort beim Anblick von Lily, James und ihren Freunden und er legte einen Arm um Petunia, als wolle er sie vor den bösen Zauberern beschützen.
„Ich gehe zur Beerdigung meiner Eltern", sagte Lily ruhig und schämte sich, dass ihre Schwester nicht einmal an diesem Tag ihren Hass begraben konnte. „Warum verschwindest du nicht einfach?", fragte Vernon. „Du bist hier nicht erwünscht, du und deine absonderbaren Freunde."
Lily wandte sich mit einem kühlen Gesichtsausdruck zu ihm um. „Ich glaube nicht, dass dich das etwas interessieren sollte", spie sie hasserfüllt aus. „Du gehörst zwar jetzt zu dieser Familie, aber ich werde dich sicherlich nicht als diesen Teil akzeptieren, solange du so abwertend mit und meinen Freunden gegenüber bist, Dursley." Sie sprach diesen Namen aus, wie ein Schimpfwort und Petunias Augen verzogen sich zu schmalen Schlitzen. Sie wandte sich mit einem wütenden Schnauben ab und ignorierte ihre Schwester wie auch ihre Cousine für die restliche Trauerfeier.
Es war ziemlich schmucklos, fand Lily. Ihren Eltern hätte diese Beerdigung nicht gefallen, das wusste sie. Es waren nicht viele Leute gekommen – nicht das Mr. und Mrs. Evans nicht viele Bekannte hatten – aber die Leute, die da waren, sahen alle sehr betroffen aus. Die Schwester von Lilys Mutter und damit auch die Mutter von Linnea war da, widmete ihrer Tochter aber keinen Blick. Da waren auch Lilys Großeltern und Großmutter Marigold, die ein fürchterliches schwarzes Kostüm trug, und ihre Nachbarn, sowie alte Freunde aus der Schulzeit ihrer Eltern.
Der Trauerredner war ein untersetzter Mann mit sehr schütterem, farblosem Haar und er sah so aus wie ein kleiner Nacktmull, mit den dicken Wangen und den sehr stark hervorstehenden Schneidezähnen.
Lily konnte sich jedoch beim besten Willen nicht auf die Grabrede konzentrieren, die der Mann hielt. Zu sehr war sie damit beschäftigt beim Anblick von den beiden Holzsärgen, die kurz vor den Gräbern standen, nicht in Tränen auszubrechen. So blöd es sich anhörte, diese Genugtuung wollte sie Petunia nicht geben, die keine Miene verzog. Lily wusste, ihre Schwester war ebenfalls traurig, doch sie würde sich das nie ansehen lassen.
Die jüngere der Evans-Schwestern musste sich auf die Lippen beißen, als die Särge in die Erde gelassen wurden. Als Erde von jedem einzelnen darauf geschüttet wurde und James Lily plötzlich einen Strauß mit Blumen in die Hand drückte, konnte sie nicht mehr anders, als lautlos zu weinen. Die Tränen ließen ihr Make-Up verschmieren, welches sie sich mühevoll mit zitternder Hand aufgetragen hatte und sie sah sicherlich wie ein Wrack aus, als sie sich neben die Gräber kniete, eine Blume aus dem Strauß zupfte und sie auf die frische Erde warf.
„Lebt wohl", murmelte sie ironischerweise, erhob sich vorsichtig und klopfte sich die kalte Erde vom Kleid. Die Wolken, die vorher noch nicht am Himmel waren, zogen sich nun langsam zu und traurig blickte Lily zu Boden.
„Du bist so mutig", flüsterte James ihr zu und umarmte sie fest. „Nein, bin ich nicht", erwiderte Lily langsam und griff mit ihren Händen in sein Hemd. „Ich fühle mich so schwach und leer."
„Aber du bist mutig und stark. Jeder andere würde hier wahrscheinlich weinen und zusammenbrechen", sagte ihr Ehemann und Lily konnte nicht anders, als zu lachen. „Ich würde gerne zusammenbrechen. Aber ich kann einfach nicht. Es herrscht ein Krieg und auch wenn meine Eltern keine Opfer ebendiesen geworden sind, so werden dennoch Opfer kommen. Und irgendwann werden sie auch mich betreffen, dann kann ich nicht einfach in eine Ecke gehen und mich einrollen. Außerdem gebt ihr mir alle die Kraft dazu."
James legte seine Lippen an Lilys Kopf und drückte sie einfach nur an sich, während ein leichtes Beben ihren Körper ergriffen hatte. Petunia widmete ihrer Schwester keines weiteren Blickes, als sie sich mit Vernon am Arm auf den Weg zu ihrem Auto begab. Großmutter Marigold jedoch kam auf die beiden eng umschlungenen Eheleute zu.
„Wenn du jemals etwas brauchen wolltest, dann bist du bei mir jederzeit willkommen, Lily", flüsterte die alte Dame, die ihre Tochter verloren hatte. „Du auch, Linnea." Sie wandte sich an die junge Frau mit den kurzen, blauen Haaren und sah so traurig und verloren aus, dass Lily nicht anders konnte, als ihre Großmutter in den Arm zu nehmen. „Danke, Oma."
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