38. Erwachsen

Lily atmete schwer. Ihre Brust hob sich unter dem weißen Umhang an und senkte sich dann wenige Momente später wieder, während sich Schweißperlen vor Konzentration auf ihrer Stirn sammelten. Der gesamte, weitläufige Raum mit den hohen Decken war vollkommen ruhig, bis auf Lilys schweres Atmen, welches die Stille durchbrach, wie ein Kieselstein, der durch die Wasseroberfläche brach.

„Ganz ruhig, Miss Evans", sagte die Heilerin leise, obwohl Lily ihr schon dreimal gesagt hatte, dass sie mit Nachnamen nun Potter hieß. „Sie machen das gut, bloß nicht zu hektisch werden." Kurz wandte sie den Blick ab, um der Frau ins Gesicht zu sehen, welches, trotz ihres fortgeschrittenen Alters, noch nicht voller Falten war. Die dunkelbraunen Augen, die sie gutmütig musterten, waren hinter einer schmalen Brille mit rotem Gestell versteckt und die Haare hatte die Heilerin in einen Dutt zusammengefasst, auch wenn einige, blond-graue Strähnen sich widerspenstig in ihrer Stirn tummelten.

„Halten Sie ihren Stab weiterhin auf den Druckpunkt, während der Patient den blutbildenden Trank aufnehmen kann." Der ´Patient´ war eine magische Attrappe, die einer verletzten Person zum Verwechseln ähnlich war. „Und wenn die Blutung wieder angeregt wurde, dann können Sie beginnen, die Wunde zu verbinden." Lily nickte mechanisch, wobei ihr Pferdeschwanz über ihre Schulter fiel. „Und vergessen Sie nicht, was ich Ihnen und Ihrer Freundin gesagt habe."

„Ruhe bewahren, nachdenken, ein zweites Mal nachdenken, handeln", sagten Ellie und Lily unisono und ließen die Heilerin, die auf den Namen Margret hörte, auflachen. „Sehr gut! Sie könnten Schwestern sein!", rief die füllige Frau aus, woraufhin sich die beiden Freundinnen angrinsten.

Auch wenn Lily erschöpft und verauslagt war, dachte Margret nicht daran, ihnen eine Pause zu gönnen. Von einem vorgetäuschten Verletzungsfall wurden sie zum nächsten gejagt und während die Heilerin ihnen in den Nacken atmete, mussten sie unter Zeitdruck den passenden Zaubertrank aussuchen und diesen, wenn nötig, auch noch vollenden. Es war reinste Knochenarbeit, aber Lily machte es auch Spaß. Selbst wenn sie noch keine echten Leben rettete, so sah sie wenigstens, dass sie es könnte, wenn der Fall eintreten würde und das reichte ihr in diesem Moment schon aus.

Endlich, nach einem Tag von neun Stunden, wurden die beiden entlassen und durften sich in der Umkleide frisch machen. Lily hatte, obwohl sie bis auf die Knochen ermüdet war, noch nie so viel Spaß bei einer Arbeit gehabt.

Nach der sommerlichen Flaute der letzten Woche, war dieser erste Tag ihrer Ausbildung in warmen Sonnenschein und strahlenden Himmel getaucht, an dem nicht eine weiße Wolke ihr Unwesen trieb. „Ich könnte nun einen riesigen Eisbecher vertragen!", seufzte Ellie, als die beiden auf den belebten Platz traten, an dem das St. Mungos Hospital versteckt war. Muggel mit Einkaufsbeuteln oder Aktentaschen kreuzten ihren Weg, würdigten dem schmutzigen Kaufhaus jedoch keinen Blick, denn seit Jahren schon hing dort ein Schild, an dem ein baldiger Umbau angepriesen wurde.

„Ich auch", murmelte die rothaarige und blickte auf ihre Uhr. „Aber eigentlich wollte ich sofort nach Hause, um James zu treffen…" Ellie hakte sich bei ihr unter. „Der wird auch noch zwei Stunden ohne dich auskommen können. Wir haben uns seit einer Woche nicht gesehen, seit du ihn geheiratet hast. Wir sind beste Freundinnen, das heißt, wir müssen tratschen. Das ist Grundgesetz, Lily." Sie bezweifelte diesen Ausspruch zwar stark an, aber sagte nichts dazu. Stattdessen nickte sie ergeben und ließ sich von Ellie in die Innenstadt zerren.

Zwanzig Minuten später durfte jede von ihnen einen großen Eisbecher mit einem extra Häubchen Sahne ihr Eigen nennen.

„Das tut gut", seufzte Ellie und schloss die Augen, während sie sich die eiskalte Nachspeise auf der Zunge zergehen ließ. „Allerdings", stimmte Lily ihr zu und war froh, dass sie sich hatte mitschleifen lassen.

„Was macht Remus überhaupt?", fragte sie etwas zaghaft nach einiger Zeit, bereute es jedoch sofort, als sie den glasigen Ausdruck in den Augen ihrer Freundin sah. „Ich… weiß nicht. Er hat seit der Hochzeit nicht mit mir geredet. Aber das wird sich schon wieder legen", fügte sie schnell hinzu und setzte ein Lächeln auf. „Zu dieser Zeit des Monats ist es immer so." Lily schluckte schwer. Sie hatte das falsche Hochziehen der Mundwinkel ihrer Freundin durchschaut, trotzdem wollte sie nichts sagen. Genau wie Ellie wusste sie, dass Remus immer etwas eigen wurde, wenn es auf den Vollmond zuging. Obwohl sie ihn alle unterstützten - jetzt, in der wirklichen Welt, war er auf sich alleine gestellt, ohne Unterstützung seiner Freunde, die ihn jedes Mal in ihrer tierischen Gestalt begleiten konnten.

„Okay", sagte sie deswegen nur und lächelte leicht. „Hast du von Marlene gehört?" Ellie wirkte wesentlich glücklicher, als Lily nicht näher darauf einging und das Thema wechselte. „Ja, sie hat gesagt, sie ist in einer Auffangstation für kleinere, magische Tiere und Tierwesen und kümmert sich dort um Kniesel und Niffler!" Bei diesen Worten fingen die Augen ihrer Freundin an zu leuchten. „Du hättest das auch machen können", lachte Lily.

„Ja, das weiß ich, aber Lily - Niffler! Die sind so unglaublich niedlich, hast du die schon mal gesehen?" Die rothaarige Hexe grinste schief. „Ja, bei Hagrid im Garten. James hat mal eine Galleone in das Kürbisbeet geworfen." Ellie bekam große Augen. „Warum hast du mir das nie erzählt?", fragte sie aufgeregt.

„Weil du es sofort nachgemacht hättest! Ich habe es auch nur erfahren, weil Peter sich verplappert hat. Außerdem - ", fügte sie zwinkernd hinzu. „ - finde ich Knuddelmuffs viel niedlicher." Ellie sah aus, als wäre sie persönlich beleidigt worden.

„Aber ich hoffe, Marlene gefällt es da", sagte Lily schnell, bevor ihre Freundin noch in Stase verfällen würde. „Es wäre eine willkommene Ablenkung für sie, nach einem Sommer, in dem sie immer wieder alleine und depressiv war."

Ellie nickte zustimmend. „Ja, seit das mit ihr und Sirius vorbei ist, ist sie nicht mehr die Alte. Es hat sie ziemlich kaputt gemacht…"

„Sirius aber auch", sagte Lily traurig. „Er sucht seine Ablenkung in Alkohol und Frauen, die ihn für eine Nacht vergnügen." Sie seufzte. „Es ist kein schöner Anblick, zu sehen, wie die beiden sich so kaputt machen, obwohl sie sich so gut zusammengehalten haben."

Ellie senkte den Blick. „Ja, aber ich fürchte, dass das mit den beiden auch nichts mehr werden wird. Sie waren gut zusammen, aber ich glaube, es tut ihnen sogar noch besser, wenn sie getrennt sind. Sie haben sich gegenseitig ziemlich eingeengt, wenn du mich fragst."

„Ich weiß, was du meinst", erwiderte Lily und kratzte die Reste ihres Eisbechers aus. „Während Sirius ihr am Rockzipfel hing, war Marlene zu sehr von seiner Nähe abhängig, als dass sie mal alleine hätten sein können. Man könnte es als Geben und Nehmen bezeichnen, aber letztendlich war es nicht gesund, was die beiden hatten. Es war schön, für die Zeit, die es währte, aber schlussendlich ist es besser für beide, wenn sie auseinander sind. Selbst wenn das heißt, dass ihre Freundschaft darunter leiden muss."

„Ich hoffe nur, dass die beiden sich noch einmal vertragen können", sagte Ellie und lutschte gedankenverloren an ihrem Löffel. „Wir können kaum etwas als große Gruppe machen, weil die beiden die Stimmung entweder ruinieren oder es unmöglich machen, dass man Spaß hat." Sie ließ das Stück Metall klirrend in ihr Glas fallen und sah Lily dann unverhofft an. „Wenn du dich jemals von James trennen solltest, dann mach ich dir das Leben solange zur Hölle, bis du wieder zu ihm zurückkriechst. Noch einmal halte ich sowas nicht durch."

Nun war es an Lily zu Lachen. „Glaub mir, den Idioten würde ich nicht mal mehr loswerden, wenn ich sterben würde! Er würde mir bis ins Grab folgen." Ellie grinste schief. „Sag das nicht zu laut, sonst kommt er noch an und sperrt dich in einen Hochsicherheitstrakt, damit du nicht einmal Gefahr laufen würdest, von einer Mücke gestochen zu werden."

Die Zeit um die beiden verflog, als hätte jemand an dem Zeiger der Uhr gerüttelt, und ehe sie es sich versahen, fing der Abend an. Kühl ging der warme Sommertag in die Nacht über und Lily umarmte ihre Freundin, bevor sie sich verabschiedeten. „Wir sehen uns morgen früh wieder."

„Bis morgen!", rief Ellie ihr noch nach, da drehte sie sich auf der Stelle und landete auf dem Hauptplatz von Godric´s Hollow, ihrer neuen Heimat. Während sie die dunkle Straße entlangging - sie konnte nicht in ihr eigenes Haus apparieren, denn James´ Eltern hatten es zu ihren Lebzeiten mit einem Anti-Apparier-Zauber versehen - fühlte sie sich irgendwie in die Vergangenheit zurückversetzt. All diese Häuser, die dicht an dicht standen und aus deren Fenstern die Lichtstrahlen wie gelbe Flammen loderten, erinnerten sie an ihre Kindheit, als ihre alte Stadt einen ebenso bedrohlichen Eindruck auf sie gemacht hatte. Damals hatte sie noch Angst gehabt, alleine herauszugehen - heute musste sie Angst haben, alleine raus zu gehen.

Die Tür war nur angelehnt, als sie an ihrem neuen zu Hause ankam und ihr Herz begann sofort in einem wilden, ungleichmäßigem Rhythmus zu schlagen. Sofort begannen sich absurde Theorien in ihrem Kopf zu bilden, warum James denn vergessen hatte, die Tür hinter sich komplett zu schließen, bis sie schließlich ein Knarzen aus dem Inneren des Hauses hörte.

Mit gezücktem Zauberstab trat sie ein.

Sie hatte an alles gedacht - Todesser, Voldemort persönlich, eine riesengroße Acromantula, sogar an eine Horde Niffler, die sich rächen wollten - aber das, was sich ihr bot, hatte sie wirklich nicht erwartet.

James, die Brille schief auf der Nase, saß auf dem Boden des Wohnzimmers und hatte einen fleckigen Staubfussel hin der Hand. Erst beim zweiten Blick erkannte sie, dass es sich um eine Katze handelte.

„Wo hast du die denn hier?", fragte sie erleichtert und ließ die Haustür zufallen. „Sie saß auf dem Friedhof", antwortete er murmelnd und fuhr mit den Fingern durch das zerzauste Fell des Tieres. Es war grau, mit braunen und roten Klecksen und auf dem Kopf hatte die Katze einen schwarzen Fleck, der aussah, wie eine geschwungene Rune, die Lily einmal in der Silbentabelle entdeckt hatte.

„Und wieso hast du sie mitgenommen?", fragte sie und ließ sich neben ihm auf den Boden. James blickte sie an, als hätte sie ihn gerade gefragt, wieso er atmete. „Weil sie dort ganz alleine saß und so hilflos aussah."

„Was ist, wenn sie einen Besitzer hat? Sowieso - ich dachte immer, du seist eher der Hundemensch." James lachte, woraufhin das kleine Tier in seinen Armen leise maunzte und mit einer Pfote an seine Nase drückte. Er begann wieder durch das Fell zu streichen. „Wenn sie einen hat, dann kann ich sie ihm zurückgeben. Und du wirst es mir nicht glauben, aber ich liebe Katzen. Sie sind so - ich weiß, du wirst mich jetzt dafür schlagen wollen - aber sie sind genau wie du."

Lily zog eine Augenbraue nach oben. „Ach, wirklich?" James lächelte warm. „Ja, sie sind eigensinnig, störrisch, von sich selbst am meisten überzeugt - aber auch liebevoll, warm und sanft, die perfekten Begleiter und selbstständig. Genau wie du eben." Kopfschüttelnd lehnte sie sich an ihn und vergrub ihre Finger im Fell der Katze.

„Sie ist wirklich niedlich", murmelte sie und schloss die Augen, während das Schurren des Tieres und James´ warmer Körper an ihrem sie langsam in den Schlaf wiegten.

______________

Immer wieder wird vergessen, dass die Potters ja eine Katze hatten, auch wenn es nur in einem Halbsatz im Buch erwähnt wird. Trotzdem gehört sie genauso zu ihnen, wie das Haus in Godric´s Hollow, Bathilda Bagshot als liebe Nachbarin und natürlich die Rumtreiber plus Anhängsel.

Tüdelü.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top