20. Todsicher
Lily wurde von einem vermummten Todesser gefangen genommen, kurz nachdem sie von James getrennt wurde. Sie hatte gerade eine Muggelfamilie gesehen, die wegen der Meisterschaft dagewesen war, und hatte sie sicher zu einem Portschlüsselplatz gebracht, als der Todesser direkt neben ihr appariert war. Er hatte sie einen Moment lang angestarrt, sie hatte seine schwarzen, kalten Augen durch die Schlitze in der Maske gesehen, dann hatte er sie geschockt. Als sie wieder zu sich gekommen war, lag sie auf der Erde, Hände und Füße waren gefesselt und der Zauberstab war ihr genommen worden. Sie war auf einem kreisrunden Platz gewesen, die Erde war in einem gewissen Radium um sie herum verbrannt gewesen und es hatte schrecklich nach Rauch und Tod gerochen. Eine riesige Stichflamme – sie war vom Stadion gekommen – hatte die Umgebung für einen Moment erhellt und dann hatte sie ihn gesehen.
Voldemort war ein großer Mann, mit langen Armen und Beinen und sehr blasser Haut. Er trug einen schwarzen Kapuzenumhang, wodurch sein Gesicht in der Dunkelheit wie eine Totenmaske wirkte. Im Schein des Feuers sahen seine Augen für einen Moment rot und stechend aus, wie die einer giftigen Schlange, bereit, ihre Beute mit ihren Zähnen zu durchbohren. Voldemort war über den Boden gegangen und hatte dabei mit seinen langen Fingern über den Griff seines Zauberstabes gestrichen. Etliche weitere Todesser standen in seiner Nähe, alle vermummt, mit Kapuzen und silbernen Masken. Sie hatten die Köpfe gesenkt gehalten, fast als hätten sie Angst, sie könnten Voldemorts Blick begegnen.
Dann hatte Lily die anderen Leute gesehen, die neben ihr auf dem Boden lagen. Die meisten waren noch immer bewusstlos und hatten etliche Verletzungen am ganzen Körper. Insgesamt waren sie sicherlich ein ganzes Dutzend.
Nachdem zwei weitere Todesser appariert waren und einen weiteren Gefangenen gebracht hatten, ging alles sehr schnell. Lily hatte James erkannt, Voldemort hatte Bellatrix – Lily war bei der Erwähnung ihres Namens beinahe das Herz in die Hose gerutscht – angewiesen, die Gefangenen außer sie und James wegzubringen und dann waren die Auroren gekommen. Sie waren den Todessern drei zu eins in der Überzahl und die Untergebenen des dunklen Lords waren schnell besiegt oder zur Flucht gezwungen. Lily beobachtete mit klammen Händen und weitaufgerissenen Augen wie Voldemorts Zauberstab durch die Luft peitschte und er sich mit sechs Auroren gleichzeitig duellierte. Er schien den Kampf komplett zu beherrschen, wie einen Tanz, den er anführte. Die Auroren, obwohl sie in der Überzahl waren, hatten nicht die geringste Chance gegen ihn. Lily verstand, warum man Lord Voldemort so sehr fürchtete: Er war ein erstaunlich, mächtiger Magier mit ausragenden Fähigkeiten und einer bedrohlichen Kampfpräsenz. Lily zitterte alleine bei seinem Anblick.
Als sie spürte, wie jemand an ihrem Handgelenk zerrte, hätte sie beinahe aufgeschrien. Ein junger Auror hatte sich an den Kämpfenden vorbeigeschlichen und löste nun ihre Fesseln. „Dankeschön", flüsterte sie dem Mann zu, als sie spürte, wie die Seile von ihren Händen fielen. Dort, wo sie ihre Haut aufgescheuert hatten, brannte es fürchterlich. „Kein Problem, Mädchen", raunte ihr der Mann zu. Seine Stimme war ziemlich tief und schulterlange, dunkelbraune Haare fielen ihm in die Augen, als Lily sich ihm zuwandte. „Komm schon." Er drückte ihr einen Zauberstab in die Hand und erhob sich. „Befrei deinen Freund, sucht eure Zauberstäbe und verschwindet von hier", zischte ihr der Mann und lief schon wieder auf die anderen Auroren zu, die sich noch mit Voldemort duellierten. Lichtblitze und explodierende, fehlgeleitete Zaubersprüche nahmen die ganze Umgebung ein.
Lily hatte keine Zeit dem Mann noch einmal zu danken, da war er schon aus ihrer Sicht verschwunden. Der kühle Abendwind wehte über ihre Haut und ließ sie erschaudern. Diese ganze Situation wirkte so surreal. Noch vor wenigen Stunden hatten sie die Quidditchspieler angefeuert und sich die Lungen aus dem Leib geschrien und jetzt mussten sie um ihr Leben fürchten, während die Menschen um sie herum wie die Tiere abgeschlachtet wurden. Lily hatte es gesehen; die Todesser hatten wahllos den Todesfluch in die Mengen geschossen.
Die düsterten Gedanken abschüttelnd lief Lily auf James zu, der bewusstlos am Boden lag. Sein ganzer Körper war voller Wunden, Abschürfungen und Schnitte. Einiger dieser Verletzungen würden sicherlich Narben hinterlassen, dachte Lily bitter und strich ihm einige verkrusteten und verschmutzten Haarsträhnen aus der Stirn. Immerhin ging sein Atem gleichmäßig und er schien ansonsten gesund zu sein.
Erleichtert, dass er nicht in Lebensgefahr schwebte, schnitt Lily seine Fesseln durch und versuchte ihn auf die Beine zu heben. Sein Gewicht ließ sie jedoch einknicken und sie musste ihn wieder ablegen. Mit dem fremden Zauberstab in der Hand versuchte sie in all dem Gewirr und den bewusstlosen Todesser ihren eigene ausfindig zu machen. „Lumos", flüsterte sie und senkte den Stab zu Boden. „Wo ist er denn?", fragte sie sich selber und ihr Blick huschte für einen Moment zu Voldemort, dessen Gesicht vor Wut und Hass ganz verzerrt war. Die Kapuze war ihm verrutscht und Lily konnte dunkelbraune Haare erkennen, die auf seinem Kopf wuchsen. Wäre er ein kein dunkler Zauberer könnte sie sogar sagen, dass er attraktiv wäre.
„Lily...?", stöhnte jemand hinter ihr und Lily fuhr herum. James hatte schwach den Kopf gehoben und blickte sie über seine verrutschte Brille hinweg an. „James, oh, Merlin sei Dank." Lily krabbelte über den Boden zu ihm. „Kannst du aufstehen?" James verzog das Gesicht. „Ich fürchte nicht. Ich kann kaum was spüren, alles tut weh oder ist taub... was machst du da überhaupt?" Lily warf noch einen Blick zu den Auroren, die Voldemort immer weiter in den Wald drängten. „Ich suche unsere Zauberstäbe", sagte sie schnell. „Damit wir von hier abhauen können."
„Hast du Accio versucht?", fragte James mit schwacher Stimme und seine Augenlider flackerten kurz. Lily stöhnte. „Nein." Sie wandte sich um, richtete den fremden Zauberstab in die Luft und sagte mit fester Stimme: „Accio Zauberstäbe." Aus der Tasche eines bewusstlosen und gefesselten Todessers flogen mehrere Stäbe heraus auf sie zu und aus den anderen Richtungen ebenfalls. Merkwürdigerweise waren nur die Stäbe betroffen, die gerade keinen Besitzer hatten.
„Nein, nein, nein... ah!" Lily ließ die restlichen Zauberstäbe alle zu Boden fallen und wandte sich mit ihrem und James' Stab um. „Endlich." Sie griff sofort nach James' Arm und schloss fest die Augen. Einen Moment lang dachte sie so stark wie noch nie an ihr Zimmer in ihrem Haus, dann drehte sie sich auf der Stelle, James' Arm wie durch eine magnetische Kraft an ihre Hand gedrückt. Ein Wirbel aus Farben erstreckte sich in dem üblichen, schwarzen Schlauch und Lily wurde die Luft aus den Lungen gepresst. Sie hatte schon die Befürchtung durch ihren geschwächten Zustand bewusstlos zu werden, als sie auf dem Boden aufkam und kühle Luft in ihre Lungen strömte. Sie öffnete die Augen und vergewisserte sich, dass sie richtig waren, dann krabbelte sie hinüber zu James und drückte ihn fest an sich.
Ein Beben und Zittern hatte ihren Körper erfasst und die ersten Tränen bahnten sich auf ihre Wangen. James hob schwach die Arme und legte sie um die weinende Lily. „Es ist alles gut, Lily", flüsterte er krächzend. „Wir sind in Sicherheit."
„Aber für wie lange?", fragte sie schluchzend. „Es hätte heute zu Ende sein können. Wir hätten sterben können, wenn die Auroren nicht gekommen wären. Wir hätten wie diese anderen Unschuldigen sterben können, einfach so." James schwieg. „Wenn nur einer von uns heute gestorben wäre... was wäre dann gewesen? Es wäre nicht gut gewesen, oder?"
Schritte wurden laut auf dem Flur und im nächsten Moment wurde die Tür zu Lilys Zimmer aufgestoßen, das Licht eingeschaltet und Mrs. Evans, bekleidet in einen Morgenmantel, stand im Türrahmen. In ihrem Gesicht konnte Lily Verwirrung, Schock und Angst sehen.
„Lily, James – oh Gott, was ist denn nur passiert?", fragte sie schnell und trat in den Raum. Lily vermutete, dass sie nicht unbedingt besser aussah, als James. „Woher habt ihr diese Verletzungen? Was war denn los bei der Weltmeisterschaft? Lily rede mit mir!"
Lily konnte nicht anders, als ihre Mutter stürmisch zu umarmen und ihr Gesicht in ihre Schulter zu drücken. Sofort spürte sie ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit, ein Gefühl, welches nur eine Mutter verströmen konnte.
Mit kratziger Stimme und immer wieder unterbrochen von Schluchzern und Tränen, berichtete Lily was passiert war. Ihre Mutter hörte stumm zu, dann erhob sie sich und stürmte sofort aus dem Zimmer. Lily hörte sie im Badezimmer den Schrank durchwühlen und wenige Augenblicke später kam sie mit dem Verbandskasten wieder. James hatte sich in der Zwischenzeit halb aufgesetzt, sein linker Arm hing recht lasch an seiner Seite und er drückte mit der anderen Hand auf sein Bein, an dem eine tiefe Schnittwunde war. Mrs. Evans ließ sich ihre Panik und ihre Angst nicht anmerken. Sie breitete den kompletten Inhalt des Kastens auf Lilys Zimmerboden und begann dann ihre Wunden zu säubern und zu verbinden. Lily wagte es nicht den Mund zu öffnen, aus Angst, sie würde sofort wieder anfangen zu schluchzen. Alles, was sie erlebt und gesehen hatte, fühlte sich an, wie ein Alptraum. Grausam. Unmenschlich. Schrecklich. Und doch so real, dass die Bilder sie verfolgten und in ihrem Kopf waren.
Mrs. Evans verband gerade James' blutendes Bein als die Haustür auf – und wieder zuging. Lily horchte sofort auf und ihre Finger gruben sich in den Teppich, während sie ihren Zauberstab umklammerte. Schwere Schritte erklangen auf der Treppe und einen Moment später erschien Mr. Evans in der Tür.
„Tut mir echt Leid, Schatz, das Meeting hat länger gedauert als – was ist denn passiert?" Sein entschuldigendes Lächeln war einem erschrockenen Keuchen gewichen, als sein Blick auf Lily und James fiel, die bandagiert und müde auf dem Boden hockten, während Mrs. Evans mit Wasser und Watte ihre Wunden reinigte. Er ließ seinen Beutel zu Boden fallen und trat dann sofort ins Zimmer. „Lily, meine Kleine, was ist passiert? Wer hat euch das angetan?"
„Ich erzähle es dir gleich, Ethan", schaltete sich Mrs. Evans ungeduldig dazwischen. „Aber die beiden sind erschöpft und kaputt. Lass sie schlafen, morgen früh können wir ausführlicher reden."
Lily war ihrer Mutter noch nie so dankbar gewesen, als sie sich erhob, die Verbandssachen einpackte und den Kasten wieder ins Bad brachte. James und sie hatten überall am ganzen Körper Verbände und Pflaster, trotzdem waren sie noch voller Schürfwunden. „Ihr müsst schlafen", sagte sie, als sie wieder ins Zimmer trat. Lily nickte schwach und versuchte aufzustehen, aber ihre Beine fühlten sich an, als wären sie aus Eisen. James schien ähnliche Schwierigkeiten zu haben.
„Komm her, mein Spatz", murmelte Mr. Evans und hob Lily hoch. „Danke, Dad", flüsterte sie, als er sie auf dem weichen Bett abgesetzt hatte. Mr. Evans fasste James an den Armen und hob ihn ebenfalls hoch. „Danke, Mr. Evans", sagte er schwach. „Ihnen auch, Mrs. Evans."
Lilys Mutter lächelte nicht, als die beiden ihr die Gesichter zuwandten. „Schlaft", sagte sie knapp und wandte sich ab. Mr. Evans war schon an der Tür und hatte die Hand am Lichtschalter als James noch einmal die Stimme erhob. „Warten sie, Mr. Evans. Ich habe ihnen ein Souvenir mitgebracht." Er streckte die Hand aus und Lily erkannte die kleine, fliegende Quidditchfigur, die James an einem der Verkaufsstände gekauft hatte. Wie durch ein Wunder war sie unversehrt.
Auf Mr. Evans Gesicht breitete sich ein leichtes Lächeln aus. „Gib sie mir morgen. Gute Nacht." Das Licht flackerte und es wurde dunkel, das einzige Licht fiel durch einen Schlitz in den Vorhängen und gehörte einer Straßenlaterne. Lily drückte ihr Gesicht an James' Brustkorb und schloss die Augen, auch wenn sie wieder diese dunklen Bilder im Kopf hatte. Seine Wärme beruhigte sie genug, damit sie einschlief.
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