10. Stetiger Zerfall der Nerven
Wenn Lily gedacht hätte, dass es keine Steigerung der blanken Nerven ihrer Familie geben konnte, dann hatte sie sich aber gewaltig geirrt. Petunia war um Punkt halb fünf in ihren Zimmer aufgetaucht, hatte die Gardinen so brutal aufgerissen, dass sie beinahe gerissen wären und dann das Fenster beinahe so hart aufgemacht, dass die Scheibe in den Garten gefallen wäre. „Aufstehen!", hatte sie dann mit heller Stimme geschrien und den beiden Schlafenden die Decke von den Körpern gerissen. Vom Schock der plötzlichen Helligkeit wäre Lily beinahe aus dem Bett gefallen, hätte James Arm sie nicht gehalten. „Los! Geh duschen, Lily, du stinkst!", hatte Petunia gekeift und war dann aus ihrem Zimmer gestakst.
Da Lily einen Streit an Petunias Hochzeit vermeiden wollte, stand sie mürrisch auf und durchwühlte noch immer im Halbschlaf ihren Schrank. James Schnarchen begleitete sie bis ins Badezimmer.
Petunia hatte es sich wohl zur Aufgabe gemacht, Lily bis in den Wahnsinn zu treiben, denn keine fünf Minuten später war sie, ohne anzuklopfen, ins Badezimmer gerannt und hatte ihr das Wasser abgedreht. „Du hast genug geduscht, sag deinem freakigen Freund, er soll jetzt gehen, wir haben einen straffen Zeitplan. Und zieh dir was an!" Und schon war die liebreizende Braut wieder nach unten gelaufen, wobei sie beinahe Mr. Evans auf der Treppe umgestoßen hatte. „Tu am besten was sie sagt, Schatz", hatte er durch die halb verschlossenen Tür gemurmelt, ehe er in sein eigenes Schlafzimmer gegangen war. Mit Shampoo im Haar, einem nassen Handtuch um den Körper gewickelt und einer noch mieseren Laune, als zuvor, verließ Lily das Badezimmer, wobei ihr Linnea entgegenkam.
„Morg'n", murmelte sie. „Ich möchte Petunia umbringen." Lily lachte leise. „Kann ich helfen?"
„Klar, pack 'ne Schaufel in den Kofferraum, wir gehen nachher noch was vergraben." Lily zwang sich zu einem Lächeln, ehe sie in ihr Zimmer trat und die Tür hinter sich schloss. Einen Moment lang blieb stehen, dann bewegte sie sich auf ihr Bett zu und ließ sich fallen. „Au", stöhnte James, auf dessen Brust sie gelandet war. „'tschuldige", murmelte Lily mit geschlossenen Augen. Während sie mit der einen Hand ihr Handtuch festhielt, umschlang ihr anderer Arm den von James, als hätte sie Angst, er könnte weglaufen.
„Petunia sagt, ich soll dir sagen, dass du duschen gehen sollst", sagte sie leise und drückte ihr Gesicht in die Laken. „Dann kannst du Petunia sagen, dass ich gesagt habe, dass es noch viel zu früh ist, überhaupt wach zu sein." Lily stöhnte. „Nein, ich will nicht mit ihr reden."
„Ich aber auch nicht", seufzte er und zog sie an sich. „Wir könnten auch einfach liegen bleiben und - "
„LILY!", schrie Petunia von der anderen Seite der Tür. „Lily, bist du schon angezogen! Ich höre die Dusche nicht, was macht ihr da? LILY!" Lily stöhnte erneut auf und kämpfte sich dann hoch. „Sofort, Tuni, eine Sekunde."
„Nichts da!", keifte ihre Schwester. „Wir müssen um halb zehn in der Kirche sein, also beeilt euch!" Sie hörte die tippelnden Schritte von Petunia verklingen, dann legte sie sich wieder hin. „Steh auf", sagte sie schwach und drückte James einen Finger in die Rippen. „Oder sie kommt wieder."
Mit viel Gemurmel und mürrischem Seufzen zwang sich James aus dem Bett zu steigen. Lily meinte, sie hätte gehört, wie er gesagt hätte: „Bei meiner Hochzeit gibt es nicht so viel Geschrei, das schwöre ich bei Merlin." Mit einem schwachen Lächeln rollte sie sich vom Bett und saß dann auf dem Boden, während sie überlegte, wo sie ihren Zauberstab hingelegt hatte.
„Na, das wird ja auch Zeit", sagte Petunia schrill, als Lily und James eine halbe Stunde später die Treppen herunter kamen und die Küche betraten, in der schon der Rest der Evans saß. „Was habt ihr denn so lange da oben getrieben?" Bei diesen Worten schreckte Großmutter Marigolds Gesicht nach oben und ihre kleinen Augen verengten sich zu Schlitzen, während sie die beiden anstarrte. „Gar nichts", sagte Lily mürrisch. „Aber nicht jeder kann um diese Uhrzeit so voller Energie sein."
„Nicht jeder heiratet heute", keifte Petunia und biss in ihren fett – und zuckerfreien Müsliriegel. „Vergiss nicht, dein Kleid einzupacken."
„Ja ja", murmelte Lily und kramte in einem Schrank nach etwas Essbarem. „Wie war das?", fragte Petunia. „Ja, natürlich, Tuni", erwiderte Lily zwischen zusammengebissenen Zähnen und überlegte, ob sie ein ganzes Glas mit Schokoaufstrich verdrücken sollte.
„Lily, Schatz, es ist noch Toast da, nimm dir was davon", sagte Mrs. Evans, als hätte sie ihren Gedanken erfasst. „James, du auch, setzt euch hin und esst was, es wird ein anstrengender Tag."
„Sag bloß", murmelte Linnea in ihre Tasse Kaffee.
Um zehn nach acht verließ Petunia aufgeregt die Küche, um das Bad im ersten Stock zu durchwühlen. Sie konnten sie noch sagen hören: „Ich hab meinen Nagellack vergessen!", dann war sie schon weg. Großmutter Marigold erhob sich ebenfalls und strich dabei ihr dunkelgrünes Kostüm glatt. „Ist es nicht schön zu sehen, wie das Mädchen sich auf ihre Hochzeit vorbereitet? Petunia war schon immer so ein gutes Kind, ja. Aber es heißt ja so schön, dass gute Gene vererbt werden, nicht wahr?" Die alte Dame ging aus der Küche, nicht ohne Lily und James noch einen bedeutenden Blick zuzuwerfen. Am liebsten hätte Lily jetzt eine gemeine Bemerkung losgelassen, doch ein warnender Blick von ihrer Mutter ließ sie sie für sich behalten.
„Muss ich wirklich?", maulte Linnea, als sie von Mrs. Evans ins Badezimmer gezerrt wurde. „Ja, du musst. Meine Güte, deine Haare sind voller Knoten, was hast du denn damit gemacht?"
„Das ist jetzt Mode", beharrte sie und versuchte den Griff zu lösen. „Nicht heute!", sagte Mrs. Evans harsch. „Heute musst du leider altmodisch mit nicht verknoteten Haaren gehen."
„Manno."
Lily, die wusste, dass ihre Mutter äußerst brutal mit der Bürste sein konnte, hatte ihre Haare in guter Voraussicht schon mit dem Zauberstab geglättet und frisiert. James hatte solche Probleme ja nicht. Der konnte machen, was er wollte, seine Haare blieben eine einzige Katastrophe. Lily sprach aus Erfahrung, denn zum Abschluss in Hogwarts hatte sie fast zwei Stunden versucht, seine schwarze Mähne zu bändigen, jedoch ohne Erfolg. Dafür hatte sie eine komplette Dose Haarfestiger verbraucht, einen Kamm kaputt gemacht und zwölf Haarnadeln verloren. Sie hatte sich eingestehen müssen, dass es unmöglich war.
„Habt ihr alles? Kleider, Anzüge, Accessoires?", fragte Mrs. Evans, als sie sich mit Lily, James und Linnea in ein Auto setzte. Mr. Evans war es vergönnt, seine älteste Tochter und Großmutter Marigold mit dem anderen Wagen zu fahren. Da Petunia es nicht länger ausgehalten hatte („Was wenn es Stau gibt? Dann kommen wir zu spät! Ich kann nicht zu spät zu meiner eigenen Hochzeit kommen!"), waren sie eine halbe Stunde früher losgefahren, als geplant. Die Kirche lag ungefähr fünfzehn Minuten mit dem Auto entfernt, deswegen würde die Fahrt auch nicht lange dauern, doch Lily wusste, sie würde am liebsten für den restlichen Tag hier drin bleiben. „Ja, Mum, alles dabei", sagte sie und deutete auf den Kofferraum, in dem alles verstaut war. Mrs. Evans wischte sich über dir Stirn und stieg dann ins Auto. „Sehr gut, dann können wir los. Oder ist der Herd noch an? Ich muss kurz - "
„Mum, Stopp! Setz dich hin!", befahl Lily. „Du hast den Herd heute noch nicht einmal angefasst. Außerdem bringt Petunia doch um, wenn wir nur eine Minute später kommen, als sie eingeplant hat." Anscheinend war Mrs. Evans dieser Gedanke auch gekommen, denn sie startete blitzschnell den Motor des Wagens.
„Was ist?", fragte sie James, der neben ihr auf der Rückbank saß und ziemlich blass war. „Ich bin noch nie Auto gefahren?", flüsterte er. „Tut es weh?" Lily lachte, doch als sie sah, wie James Finger sich panisch in den Sitzgurt gruben, verstummte sie. „Keine Sorge, es ist wie Flohpulver, nur etwas langsamer." Zur Beruhigung griff sie nach seiner Hand und drückte sie fest. „Außerdem fahren wie nicht lange, okay?" James nickte nur stumm und vermied es aus dem Fenster zu sehen.
Lilys Blick suchte ihre verschränkten Hände, an der die beiden goldenen Ringe glitzerten. Beinahe mechanisch fuhr sie mit ihren Finger dir Konturen nach. Irgendwie erschien es ihr so unwirklich, dass sie und James ebenfalls heiraten würden. Wenn sie Petunia so sah, dann musste sie sich daran erinnern, wie die beiden als Kinder immer zusammen gespielt hatten. Sehr oft wollte Petunia eine Braut sein und Lily musste ihren Bräutigam spielen. Nie hätte sie gedacht, dass sie ihre Schwester nun wirklich bei einer Hochzeit sehen würde, schon gar nicht mit einem Mann wie Vernon.
Und nun war ihre eigene Hochzeit schon so nah, selbst wenn es noch Jahre dauern könnte. Es war so unwirklich, so unglaublich, dass sie schon verlobt war. Sie war doch so jung und es herrschte Krieg. Aber vielleicht war es deshalb die beste Zeit um jung zu heiraten.
„Okay, hör zu, Petunia wartet im großen Zimmer, den Gang runter. Sie wird unerträglich sein", sagte Mrs. Evans. „Aber das macht nichts, es ist ihre Hochzeit. Sobald Vernon mit seiner Familie ankommt, wird es nicht mehr lange dauern, bis die Zeremonie beginnt." Lily und Linnea nickten mechanisch. „James, Ethan und du werdet bitte die neu Eintreffenden Gäste hereinleiten. Die Liste der Plätze gibt es vorne am Eingang, Petunia hat sie selber zusammengestellt, also sollte auch alles so sein, wie es dort steht."
Mrs. Evans seufzte schwer und ging sich dann mit leichten Fingern durch die Haare. „Das wird alles noch viel komplizierter werden, fürchte ich. Aber das ist in Ordnung, es ist ihr großer Tag, und den hat eine Frau nur einmal im Leben.
Also los." Sie gab Lily und Linnea einen leichten Stoß, sodass die Mädchen sich in Bewegung setzten und folgte ihnen dann in gewissem Abstand, während James in einen anderen Raum ging, in dem er sich seinen Anzug ansehen würde. Die Tasche mit ihren Kleidern, Accessoires und Make-Up unter die Arme geklemmt, betraten sie den großen Raum, in dem Petunia bereits auf und ab ging. „Na endlich!", keifte sie und zerrte Lily an ihrem Arm herein. „Macht euch schnell fertig, dann müsst ihr mir helfen, das Kleid anzuziehen." Petunias Hochzeitskleid hing an einem breiten Haken an der Wand und wurde vom Wind, der durch das offene Fenster hereinwehte, leicht bewegt.
„Ich hoffe doch, du weißt, was du mit deinem Make-Up machen musst", sagte Petunia hochnäsig, als Lily eine kleine Tasche hervorholte. „Ja, vielen danke", antwortete sie bissig. „Gut."
Linnea rollte mit den Augen und schenkte Lily dann einen vielsagenden Blick. Wenige später wurde die Tür geöffnet und Großmutter Marigold trat herein. Die alte Frau schnaubte, ehe sie die Tür zu warf. „Ethans Fahrstil ist ja grässlich!", rief sie aus, ehe sie sich auf einem Stuhl niederließ und tatsächlich einen kleinen Fächer aus ihrer Handtasche hervorholte. „Ich dachte, ich muss sterben!"
Anscheinend wagte es nicht einmal Petunia, ihr zu widersprechen, denn obwohl sie die Augenbrauen argwöhnisch zusammenkniff, sagte sie nichts. „Mutter, Ethan fährt immer sehr vorsichtig", sagte Mrs. Evans ruhig, während sie sich die Schuhe aufband.
„Ha! Er wäre beinahe bei Gelb gefahren, dieser Schuft! Das hätte mein Tod werden können, ja, und du hättest es bestimmt noch gutgeheißen!"
„Natürlich, Mutter..."
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