Power Woman
Auf Vancouver Island mit RiversLoveOceans (= ReggaeGirl4)
Man sagt, im Nordwesten der USA, und somit zwangsläufig auch im Südwesten Kanadas, regne es mindestens vierhundert Tage im Jahr. So falsch scheint diese Rechnung nicht. Gelandet auf dem Internationalen Flughafen von Vancouver habe ich mich bereits gerügt, meinen Regenschutz nicht ins Handgepäck genommen zu haben. Ich bin wohl doch eine Reiseanfängerin. Innerlich fluche ich. Wieso Vancouver Island? Meine heutige Begleiterin nennt sich ReggaeGirl4 - das klingt nach Jamaika oder schlimmstenfalls noch nach Kuba oder Hawaii – sicherlich jedoch nach einem Land ohne Regen! Mann! - Doch für sie nehme ich alles in Kauf, sogar die vielen hundert Milliliter pro Quadratmeter täglich, die mir auf den Lockenkopf prasseln.
Mit dem Wassertaxi fahre ich auf die Insel, welche die Westküste Kanadas vor den großen Wellen abschirmt. Allerdings nimmt sie Vancouver auch die unglaublichen Sonnenuntergänge weg, die ich im Park genießen werde – vorausgesetzt, sie zeigt sich, die Sonne.
Im nördlichen Visitor Center des West Coast Trails bereitet man uns auf den „Hike deines Lebens" vor. Der Trail gehört heute zum Pacific Rim National Park und soll das ultimative Naturerlebnis bieten. Da bin ich mal gespannt – und gleichzeitig etwas skeptisch. Irgendwo da draußen soll ich also die geheimnisvolle ReggaeGirl4 treffen. Ausgerechnet zwischen Seekühen und Robben – dabei wären Schirmchendrinks und fette Zigarren so viel angenehmer. Es soll sogar Menschen geben, die den West Coast Trail rennen – wow, könnte ich nie. Ich fühle mich schon als Hikerin ziemlich fehl am Platz.
Am nächsten Morgen geht es los. Ich habe keinen Plan, wann und wo ich ReggaeGirl4 treffen werde. Ich soll an genau diesem Tag zu genau dieser Zeit loswandern, dann werde es schon klappen. So spannend hat mich noch nie jemand eingeladen – richtig: Die Gebühr für die Wanderung war schon bezahlt, als ich gestern meine Kreditkarte zog. Danke, ReggaeGirl4!
Vom ersten Schritt an fasziniert mich der Trail. Wow! Was für ein Ausblick. Der Pazifik zeigt sich heute von seiner schönsten Seite. Wolken wechseln sich mit Nebelschwaden und feinen Nieselregen ab, ich spüre die Feuchtigkeit und rieche die Natur; Holz, Farn, Moos, Pilze. Die hölzerne Rangerhütte liegt hinter mir, wie auch der Eingang zum Trail.
Im feinen Nebel mache ich eine Gestalt aus, die eine großgewachsene Frau sein könnte. Sie ist definitiv nicht zum ersten Mal in der Natur, ihrem gestählten Körper nach zu schließen, was sie deutlich von mir unterscheidet. Sie zurrt gerade ihre Schultergurte des Trekkingrucksacks fest, blickt zur Küste. Ihr glattes, honigfarbenes Haar glänzt in den zaghaften Sonnenstrahlen, regelmäßig zu einem Zopf geflochten. Längst hat sie mich gehört, wie die Berglöwin ihre Beute. „Nach der Einführung gestern hätte ich nicht gedacht, dich heute Morgen wiederzusehen", sagt sie ohne sich umzudrehen.
„War es so offensichtlich?"
Sie lacht. Es ist ein empathisches, freundliches Lachen, in das ich mich augenblicklich verliebe. „Ja. Hi, ich bin ReggaeGirl4 und du bist dann wohl die geheimnisvolle Lesende, die mit mir sprechen will."
Froh darüber, sie so schnell gefunden zu haben, greife ich nach ihrer ausgestreckten Hand und spüre die Kraft einer naturgewohnten Frau. Gerade ist es der Sonne gelungen, sich durch das Wolkengewölbe zu boxen und unsere Schatten liegen nebeneinander auf dem feuchten Gras. Sie dreht sich um und ich blicke in ein freundliches Gesicht, rehbraune Augen mustern mich schelmisch.
„Ich war mir nicht sicher, ob ich gewappnet bin für diese Herausforderung", gebe ich offen zu.
„Ach, du meinst die fünfundsiebzig Kilometer Schlamm, Stolperwurzeln, Gezeiten, Plumpsklos und rutschigen Felsen? Come on – das schaffen wir locker in sieben Tagen!"
Die uralten Douglasien und die Wolkentürme scheinen riesenhaft auf uns herunterzulachen; auch sie scheinen an unserer, also vor allem meiner, Bereitschaft zu zweifeln. Ich fühle mich klein und unwichtig – gut, klein bin ich auch neben meiner Reisepartnerin, was mir ein angenehmes Gefühl von Sicherheit vermittelt.
„Wollen wir ein Stück zusammen gehen?", fragt sie mich freundlich und stupst mich mit dem Ellenbogen an. „Du hast die ganze Welt bereist, dann wirst du das auch schaffen!" Ihr Augenzwinkern löst sämtliche Zweifel in mir auf.
„Ja – ich bin bereit. Manchmal muss man es einfach wagen. Lass uns loslegen!" Meine Abenteuerlust hat gesiegt. Mit ihr lasse ich mich auf ein Abenteuer ein, das ich noch vor wenigen Tagen nicht für möglich gehalten hätte. Und ich fühle mich total sicher dabei.
Wir wandern los, der Pazifik auf unserer rechten Seite liegend. Schon nach wenigen Metern beginne ich mit der Fragerei, weswegen ich ursprünglich hergekommen bin. „Sag, das hier passt so gar nicht zu deinem Namen. Hier spüre ich keinen Reggae! Wenn schon, dann schnöden Country."
Sie lacht. „Ja, das mag wohl stimmen. Immer noch besser als Schwyzerörgeli und Jodel, oder? - Nein, Spaß beiseite, mein Name stammt aus Teenagerzeiten und die 4 musste wohl dahinter, weil außer mir noch andere den Namen mochten. Ich habe als reine Leserin auf Wattpad begonnen. Nie hätte ich erwartet, irgendwann selbst zu schreiben, sonst hätte ich mir einen cooleren Namen gegeben. Ria steht für Maria – klar. Und Rainwater passt zum West Coast Trail, über den ich zum Zeitpunkt der Namensgebung geschrieben habe. - Und hier sind wir wieder!"
„Okay, aber warum Reggae?"
„Ich liebe Reggae, war mit neunzehn allein auf Jamaika und habe in den Bergen von Westmoreland bei Privatleuten übernachtet. Sie haben mir ihre Insel gezeigt, zumindest den Westen. Auf der linken Fahrbahnseite ist Kenneth die kurvigen Regenwaldstraßen langeheizt, dabei lief meist Luciano oder der gute alte Bob und das hat meinen Musikgeschmack geprägt. Ansonsten gefallen mir viele andere Arten von Musik. Was immer mich eben berührt."
„Geht mir auch so – mal abgesehen von ebendiesem Gejodel, das du erwähnt hast. Du sagst, du hast als Leserin angefangen. So wie ich? Wann hast du begonnen zu schreiben?"
„Das war so 2019, ein Jahr nach der Geburt meines Sohnes; Corona – ich hatte Zeit. Keine Angst, mein altes Zeugs ist weggeheftet."
„Schade, das hätte ich gerne gesehen."
„Keine Chance!", lacht sie wieder. „Schreiben ist für mich die einzige Möglichkeit, mich kreativ zu verwirklichen. Sonst hätte ich niemals Zeit für ein kreatives Hobby."
„Wart's ab – das kommt schon. Spätestens dann, wenn du mit deinem Sohn bastelst, malst und Fantasieburgen aus Karton baust."
Sie lächelt, was mir bestätigt, dass der aufgeweckte Fünfjährige durchaus Fantasie hat.
„Sag, wo schreibst du?" Ich muss etwas stärker atmen, der Weg steigt an.
„Auf dem Handy beim Kochen; wenn ich meinen Sohn zu Bett bringe und er am Einschlafen ist, etc. Ich nutze die kleinen Gelegenheiten."
„Und das in zwei Sprachen! Wie kriegst du das hin?"
„Das Englische fällt mir leicht. Ich war als Au-pair ein Jahr in den USA. Zu Beginn meiner Schreiberei habe ich noch im Kundenservice einer Fluggesellschaft gearbeitet und dabei viel englische Korrespondenz verfasst. Anfangs habe ich auch nur englische Wattpad-Storys gelesen und bin schließlich so ins Schreiben eingestiegen. Es kostet mich aber mehr Kraft, als deutsche Storys zu verfassen – und mein englisches Zeug haben eigentlich nur die Mitglieder aus dem Erotic Book Club gelesen, in dem ich damals war. Auf die deutsche Seite haben mich seventimes- und FleurDeCel gezogen – meine allerersten Lieblingsautoren auf Wattpad. Und jetzt bin ich hier, um zu bleiben." Wieder folgt ein Augenzwinkern.
„Uuh, die beiden kenne und liebe ich auch. Du sagst, um zu bleiben. Heißt das, du möchtest nicht veröffentlichen?"
Sie schaut mich an, hält inne. Dann deutet sie auf einen großen Stein an der Küste. Wir setzen uns und trinken aus unseren Thermosflaschen. Eine atemberaubende Aussicht lässt uns einen Moment schweigen. Wie schnell doch die Zeit vergeht. Wir sind nah am Sea Lion Haul Out, kurz vor dem Pachena Lighthouse. Wir möchten es gerne bis zum Darling River Campground schaffen. - Immerhin vierzehn Kilometer für den ersten Tag.
„Du machst mir ein Angebot?", nimmt sie die Diskussion wieder auf.
„Das kann ich so nicht entscheiden, aber ich habe darüber nachgedacht. Natürlich müsste ich mit dem Verlagsleiter Rücksprache nehmen."
Sie nickt und streckt mir etwas von ihrem getrockneten Fleisch hin, während ich das Brot schneide. „Ich würde gerne etwas Geld mit dem Schreiben dazuverdienen, aber ich schaffe es nicht, die Massen zu fesseln, daher ist das momentan nicht realistisch. Es gibt viele Talente, ich bin nicht speziell und kein Profi. Aber ich denke, Schreiben ist ein Prozess, den man erlernen kann wie ein Handwerk."
„Definitiv. Und das mit den Massen nehme ich dir nicht ab. Du hast viele Leserinnen und Leser; das ist der Beweis, dass du dein Publikum erreichst. Zudem gewinnst du Preise; nennen wir mal die Wattys."
„Danke, dir. Meine Wattys stellen große Errungenschaften für mich dar, mit denen ich nie gerechnet hätte, weil so viele hammermäßige Geschichten im Rennen waren." Sie lächelt verschmitzt, wir essen schweigend.
ReggaeGirl4 blickt aufs Meer hinaus. „Mir sind meine Leser*innen wichtig, daher versuche ich, regelmäßig zu uploaden und möglichst viele Kommentare zu beantworten. Wenn sie selbst schreiben, schaue ich, ob was für mich dabei ist und bin so auf fantastische Storys gestoßen. Generell bin ich der Community wegen auf Wattpad. Es ist wunderbar, all die lieben Menschen kennenlernen zu können."
Dem kann ich nichts entgegenhalten, denn das sehe ich genau gleich. „Was liest du außerhalb der Plattform?"
„Ooh, viel. Ich höre oft Hörbücher, mag düstere Liebesgeschichten von L.J. Shen, Sophie Lark und Cora Reilly, aber Michael Crichton und Frank Schätzing haben es auch geschafft, dass ich meinen Zeh in Science-Fiction-Gewässer tauche."
„Schätzing; Limit, Schwarm, Schmetterlinge – ich liebe seine Bücher auch. Perfekt recherchiert und von der ersten bis zur tausendsten Seite spannend."
„Seine Geschichten lassen dich über die Menschheit, über unser Verhalten und unseren Weg nachdenken. Ich bin ein Mensch, der oft darüber nachdenkt. Gerechtigkeit ist mir wichtig, ich spüre viel Empathie."
„Damit bist du bestimmt eine fürsorgliche und liebevolle Mutter."
Sie lacht. „Ein Hoch auf Helm, Knieschoner und Pflasterrolle!" Wir prosten uns mit unseren Thermosflaschen zu.
Ich könnte ewig hier sitzen und mit dieser interessanten Frau plaudern, aber wir haben noch einige Kilometer zu gehen, weshalb wir unsere Rucksäcke schnüren und uns wieder auf den Weg machen. Das Wetter meint es immer noch gut mit uns. Die Wolken verhindern, dass die Sonne brennt und der Regen bleibt freundlicherweise aus.
„Was war dein liebstes Kinderbuch, das deine Liebe zum Lesen geweckt hat?", fragt sie mich nach der nächsten Biegung.
Ich überlege nicht lange, denn das ist eine einfache Frage. „3:0 für die Bärte von Heiner Gross. - Dieser Autor hat Welten erschaffen, die für Kinder und Jugendliche phänomenal sind, fesselnd, spannend, fantasievoll."
„Und danach?"
„Die Geschichte ist eine Trilogie: 'Tumult auf der Kyburg' und 'Sabors Wunderboot' sind die Teile zwei und drei. Danach folgten alle Bücher der Drei ??? und die Reihen der Schwarzen Sieben oder der Fünf Freunde. Ich mag Krimis."
Ich weiß, dass sie diese Neigung mit mir teilt, wie auch das Auge für die graphische Gestaltung. Auf meine Bemerkung zu ihren Covers und Aesthetics gibt sie mir einige Erklärungen. „Ich gestalte die Covers und Aesthetics selbst, weil es mir Spaß macht, nicht, weil ich sie für gut halte. Ich beziehe beim Lesen und Schreiben generell so viele Sinne wie möglich mit ein, daher auch der Soundtrack zu den Kapiteln. Vielleicht hatte ich aber auch insgeheim Zweifel an meinen Beschreibungen und Fähigkeiten. An der Vorstellungskraft meiner Leser zweifle ich jedenfalls nicht. Apropos Soundtrack: Wir sollten hier 'Love for the Ocean' von Pastis hören – das würde zu unserer Wanderung passen."
Wir erreichen den Campground am späten Nachmittag, errichten unsere Zelte und setzen uns in den Sonnenuntergang. Ich bin müde, aber sehr zufrieden, glücklich darüber, noch einige Tage mit ihr wandern zu können. Ich habe Hunger.
„Was kochen wir heute?"
„Du als Schweizerin hast bestimmt irgendwelche Schokolade oder verschiedene Käse dabei. Welche magst du?"
„Schokolade? Alle, die fair produziert wurde. Käse? Abgesehen vom langweiligen Emmentaler mag ich fast alle – ich bevorzuge ihn kräftig, würzig. Aber nein, ich habe nichts davon dabei."
„Dann lass uns Nudeln mit Gemüse kochen. Mit der Kokosmilch wird es leicht asiatisch. Zum Frühstück morgen habe ich etwas Erdnussbutter mitgebracht."
Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Wir beginnen zu kochen, lachen viel und genießen den atemberaubenden Sonnenuntergang. Sehr spät kriechen wir in unsere Zelte und verkrümeln uns in unseren Schlafsäcken. Draußen hat der Himmel aufgeklart und die Sterne wachen über uns.
***
Das war's für den Moment. ReggaeGirl4 und ich wandern nun noch sechs Tage weiter. Zu den berühmten Tsusiat Falls und zum Hole through under the Rock beim Owen Point. Ich freue mich auf eine lange Wanderung, die bestimmt nie langweilig werden wird.
Im weiteren Gespräch werden mir LilyCattens und Anna_Valentin für weitere Gespräche empfohlen.
ReggaeGirl4 möchte noch sagen: „Ich danke dir: Für ein tolles Projekt und all die Zeit, die du investierst. Und danke an jeden, der meinen Geschichten eine Chance gegeben hat."
Diesen Dank gebe ich gerne weiter – und zurück. Ich danke dir für dieses interessante Abenteuer.
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