Die Lesende
In Süditalien mit vermittlerin
Alternative Titel: Das Überraschungs-Ei (mein heimlicher Favorit) oder Die 3??? werden zu 3!!!
Liebe Leserinnen und Leser, heute gibt es ein ganz besonderes Kapitel für euch. Nicht Christine – die Lesende, die Vermittlerin –, die so viele während der letzten Monate ins Herz geschlossen haben, hat ein Interview geführt und geschrieben, sondern drei Wattpad-Autorinnen.
_Jay_M_ , RiversLoveOceans und Sia_Ley , also Jay, Ria und Sia sind nach Apulien geflogen, um euch allen Christine vorstellen zu können. Viel Vergnügen!
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Sia
Wir sitzen nun also in unserem kleinen Mietwagen – ich am Steuer, Ria und Jay bei mir –, der gerade genug Platz für unser Gepäck bietet. Drei Damen auf Reisen – da ist es nun mal nicht mit kleinen Täschchen getan. Das Navi leitet uns zuverlässig auf der schnurgeraden Landstraße über den Kreisverkehr bei Sant'Isidoro in Richtung Nardò, obwohl es mit uns nur Italienisch spricht. Um die Sprache umzustellen, waren wir zu aufgeregt. Aber „sinistra" (links) und „destra" (rechts) sowie „dopo cento metri" (in hundert Metern) verstehen wir.
Natürlich sind wir aufgedreht, gackern und kichern ein wenig zu viel. Ein paar Tage in einem Agriturismo zu verbringen, einfach so ein wenig abschalten, ist schon eine feine Sache. Beinahe hätten wir das Schild mit ‚Antica Puglia' übersehen, doch das Navi schreit gerade noch rechtzeitig: „Girati adesso" (Jetzt abbiegen).
Und da taucht es auch schon auf – versteckt hinter riesigen Pinien und Zypressen: das zweistöckige Gebäude aus gelblichen Bruchsteinen. Vor dem Haus befindet sich ein großer Kiesplatz, auf dem wir das Auto abstellen.
Wie bei zweihundertjährigen Häusern in Italien üblich, liegt der Eingang in der Mitte. Wir steigen aus, strecken unsere Beine genüsslich durch, der Leihwagen ist schon sehr klein und im Flugzeug war ja auch nicht gerade viel Beinfreiheit. Für Jay reicht das vielleicht mit ihren eineinhalb Metern, aber Ria und ich sind doch etwas größer.
Der Blick von uns dreien ist auf die schwere Eingangstür gerichtet, Christine hat doch sicher unsere Ankunft bemerkt. Gleich werden wir sie zum ersten Mal sehen. Einer der Flügel öffnet sich, wir setzen uns in Bewegung. Doch dann halten wir inne.
Nicht Christine hat uns geöffnet und kommt ein paar Schritte auf uns zu, sondern ein Mann. Nicht sehr groß, knapp 1,70, würde ich schätzen. Braungebrannt, etwas gut genährt – er scheint die italienische Küche sehr zu genießen. Seine auffällig dichten, grauen Haare umrahmen im Afro-Stil ein freundlich lächelndes Gesicht.
Wache braune Augen blitzen uns schelmisch an. „Buona giornata!", begrüßt er uns lächelnd.
Das ist sicher Christines Freund!, schießt es mir durch den Kopf. Hoffentlich kann er Deutsch! Nicht dass wir uns nur über einen Übersetzer unterhalten können. Das ist nämlich ziemlich mühselig, wie ich im letzten Urlaub festgestellt habe.
Wir lassen uns von dem Fremden umarmen, er freut sich wohl, dass wir gekommen sind. „Ist Christine auch da?", frage ich schließlich etwas verwundert darüber, dass sie sich gar nicht blicken lässt.
„Ja", erklärt er ruhig und hält unseren fragenden, etwas verwirrten Blicken stand, sagt weiter kein Wort, rührt sich auch nicht von der Stelle. Seine Hände stützt er locker in die Hüften.
Und langsam, ganz langsam, beginnen wir zu verstehen, dämmert es uns, fällt der Groschen – ziemlich gleichzeitig bei allen dreien. Denn unser „Nein!" kommt erstaunlich synchron.
Wir beginnen zu lachen, können gar nicht mehr aufhören. „Du ... du, du bist Chris-tine?", japse ich schließlich, während Jay und Ria noch nach Luft schnappen. Er kratzt sich am Kopf, wirkt etwas verunsichert und verlegen. „Ja, das bin ich. Aber belassen wir es doch einfach ... besser bei Chris."
Wir grinsen ihn kopfschüttelnd an und winken ab. Null Problemo. Chris scheint erleichtert über unsere Reaktion. „Jetzt kommt erst mal rein. Ihr wollt euch sicher frisch machen nach der langen Reise!", schlägt Chris – er – vor, der für uns so lang Christine gewesen war. Daran müssen wir uns noch gewöhnen.
Er pfeift durch die Finger, ein junger Mann taucht lachend auf, begrüßt uns und greift nach zwei unserer Koffer. Den dritten nimmt Chris und geht uns voran, durch die schwere Eingangstür in den Vorraum. Die großzügige Treppe liegt mittig vor uns, rechts kann man einen Blick in die riesige Küche werfen, aus der verführerische Düfte dringen, die unsere Mägen dazu bringen, sich zu melden.
Unsere Zimmer liegen im ersten Stock, wir können uns kaum von dem Blick auf das Meer trennen. Frisch geduscht treffen wir uns wieder auf dem Platz etwas abseits vom Hof, nehmen Platz an einem Steintisch unter einer mächtigen Pinie. Leckere Antipasti mit frischem, noch warmen Rosmarinbrot erwarten uns schon. Gerne greifen wir zu, lassen unsere Augen in die Ferne schweifen. Der Blick auf das ruhige azurblaue Meer – die Bucht von Taranto – , einem schmalen, blauen Streifen am Horizont ist gigantisch.
In dem Teil meines Gehirns, in dem Erinnerungen abgespeichert sind, regt sich etwas. ‚Steintisch; Pinien; Blick aufs Meer?' Das kommt mir bekannt vor, oder? Ich sehe es Jay und Ria an, dass sie auch etwas ins Grübeln kommen und Chris aufmerksam beobachten. Aber der Gedanke, der heraus will, schafft es nicht.
Deshalb stelle ich unserem Gastgeber die erste Frage: „Wie würdest du deinen Charakter beschreiben? Wie tickst du so?"
Er holt tief Luft, aber da muss er durch! Schließlich hat er diese Fragen schon oft selbst gestellt.
„Uii, schwierig", antwortet er schließlich. Klar! Das ist nicht einfach, war es auch für seine Interviewpartner*innen nicht. Noch ein Schluck aus dem Weißweinglas, sein Blick verliert sich irgendwo in Richtung Meer.
„Ich bin ein Genießer", beginnt er schließlich und das sehen wir. „Mich wütend zu machen, das gelingt fast niemandem. Ebenso wenig kann man mich aus der Ruhe bringen. Ich bezeichne mich als Realist, der schaut, was Sache ist und versucht, daraus das Beste zu machen; immer positiv denkend. Leider vertraue ich grundsätzlich dem Guten in allen Menschen, was immer wieder dazu führt, dass ich ausgenutzt werde." Sein Blick gleitet weiter in die Ferne.
„Eine Gabe ist bestimmt das Zuhören. Mit meiner Empathie kann ich mich leicht in Situationen anderer Menschen einfühlen und ihnen oft bloß dadurch helfen, indem ich sie ernst nehme oder ihnen sage, was ich in der Situation tun würde.
Streit und Konflikte weiche ich aus; ich bin sehr harmonieliebend. Dadurch komme ich teilweise zu kurz, aber das ist mir oft egal, wenn es dem Frieden dient. Unehrliche, egoistische und arrogante Menschen kann ich nicht ausstehen – ihnen gehe ich aus dem Weg. Mein Freundeskreis ist klein, aber die Freunde, die ich ins Herz geschlossen habe, bleiben da für immer und sind mir wichtig. Ich schenke sehr gern und oft."
Lieber weniger aufrichtige, als viele unehrliche Menschen um sich herum, denke ich mir.
„Ich koche sehr gerne", erzählt er weiter, „liebe es genauso wie Essen und Trinken, was man mir auch ein wenig ansehen kann", erklärt er mit einem kleinen selbstironischen Schmunzeln. „Ich genieße es, Zeit mit Freunden und Familie zu verbringen. Leider habe ich keine Kinder, meine Frau fürs Leben hat mich zu früh sitzen lassen."
„Womit sie wohl den Fehler ihres Lebens gemacht hat!", werfe ich ein.
„Das ist lieb von dir, danke. - Was Filme angeht, bin ich ein hoffnungsloser Romantiker, und ich liebe Kitsch. Ich weine im Kino, beim Lesen, beim Schreiben, beim Netflixen. Man könnte mich durchaus als sensibel bezeichnen."
Ein Seelenverwandter!, denke ich.
Chris fährt fort: „Mein Credo lautet: Alles kann man lernen. Somit sehe ich mich als Maurer, Bäcker, Lehrer, Koch, Elektriker, Schreiner, Reiseführer, Psychologe, Mechaniker, Bus- oder auch Lastwagenfahrer, Autor und Maler – alles, was ich schon mal mehr oder weniger ausgeübt habe. Auch Musiker – Ich singe, mache sonst gerne Musik oder habe ein Gefühl für Grafik und Design. Ich sage zu allen Menschen „du" – außer sie tragen eine Krawatte, dann sind sie nämlich wichtig. Mich selbst hingegen nehme ich nicht so wichtig. Ich habe einen direkten, eher schwarz-realistischen Humor. Nebst der Musik liebe ich Sprachen – ich spreche vier und lerne eine fünfte –, Wortspiele und angepasste Flachwitze mit Stil."
„Warte mal. Du nimmst dich nicht so wichtig?", empört sich Jay. „Du musst doch mitbekommen, wie sehr die Leute auf dich abfahren; wie die Leute dich auf der Plattform schätzen. Aber auch ansonsten ist das doch mega wichtig." Jay scheint viel daran zu liegen und mag es nicht so stehen lassen, wenn jemand sich selbst nicht wichtig nimmt. Das kann ich verstehen, gedanklich bin ich gerade noch bei den Sprachen. Das haut mich um, denn damit habe ich es gar nicht. Der Gedanke und die Erinnerungen von vorhin werden aufgefrischt.
Chris steht auf. „Ich sollte nach dem Essen sehen!"
Da hat er die Rechnung ohne Jay gemacht, die gerade – obwohl sie noch gar nicht dran ist – das Interview an sich reißt, mich jedoch entschuldigend ansieht. „Was glaubst du, würden die anderen am liebsten jetzt von dir erfahren?", fragt sie.
Er steht bereits, hält aber inne. „Vermutlich warum ich mich nicht schon lange geoutet habe?! Christine ist die weibliche Seite in mir. Sie ist Empathie, Liebe, Fürsorge. Sie schien mir perfekt für mein "Feedback-Profil", wo ich nur lesen und Rückmeldungen geben wollte. Sie war gedacht als Ratgeberin und Unterstützerin für junge Autor*innen oder solche, die sich in der Bücherwelt wenig auskennen. Sie hatte dann plötzlich die Idee, unbedingt ein Portrait-Buch zu veröffentlichen. Die Fragen und die Ideen zu den Settings – das war und ist sie. Ich mag sie, sehr sogar. Die Texte kommen jedoch von ihm ... Von ..." Er unterbricht sich. „Jetzt aber muss ich zum Essen."
Ich grinse ihn an. „Flüchtest du?"
„Vielleicht", meint er lächelnd und macht sich auf den Weg in die Küche. Doch natürlich folgen wir ihm. Jay murmelt noch etwas wie, dass sie da später nachhaken wird. Das kann ich mir gut vorstellen.
„Die Küche hat einen eigenen Ausgang zum Hof – der meistgenutzte Eingang zum Gebäude", erläutert er. „In die gewaltige, offene Feuerstelle können wir auch meterlange Holzstücke legen. Früher war das die einzige Heizung des Hauses."
Ein wenig habe ich das Gefühl, er will die nächste Frage hinauszögern.
Heute brennt ein gemütliches Feuer darin, wärmend und gleichzeitig dem Ambiente dienend. Wir sehen uns beeindruckt um. Der Boden ist mit Tonziegeln belegt. Hinter der Küche, durch einen halbrunden Torbogen optisch abgegrenzt, befindet sich der Essraum. Darin steht der vier Meter lange und einen Meter breite Esstisch aus Kastanienholz. Vier Gedecke sind fein säuberlich bereitgelegt. In der Mitte des Tisches und an den Wänden brennen Kerzen, ein antiker Kerzenleuchter baumelt von der Decke.
„Ein Wahnsinnsort", haucht Jay – sie hat recht. „Ist das ein Ort, der dir besonders viel Kraft gibt, wenn du deine Batterien aufladen möchtest?", fragt Jay während sie sich noch umschaut.
„Das kommt der Sache schon sehr nah, ja." Chris scheint Jays Blick zu folgen. „Aber auch die Bergwelt oder einfach nur Wald. Für mich ist die Natur unglaublich wichtig. Ich gehe oft einfach so raus, nur mit mir allein. Wobei, wenn ich so darüber nachdenke: Das kann ich auch mitten in einer Großstadt. Wo ich mich am besten erholen kann, ändert sich mit der Stimmung, mit dem Moment. Nicht jeden Tag brauche ich den gleichen Ort. Müsste ich Länder aufzählen, so wären das nebst Italien auch Frankreich, Neuseeland, Norwegen oder der Südwesten der USA und natürlich die Schweiz", erzählt er träumerisch.
„Ich kann es verstehen. Für mich ist es definitiv noch mal etwas anderes, ob ich in einer Großstadt oder in der 'freien' Natur unterwegs bin ... Wandern ... Da fühle ich mich frei und einfach wohl", entgegnet Jay ihm offensichtlich selbst in Gedanken irgendwo anders.
„Au ja! Einfach 'gehen': schlendern, flanieren, wandern, wandeln, ... Selbstverständlich auch die Sauna, das Dampfbad und eine Wellnessoase. Aber was mir richtig guttut, ist Fahren! Auf der Autobahn. Wenn möglich mit einem richtig großen Fahrzeug. Da kann ich mich so richtig gut erholen – stundenlang."
Wir kommen alle mit unseren Blick wieder zurück. „Auf dem Herd köchelt noch der Sugo alla verdura für die handgemachten Pasta, welche als Primo dienen werden, zusammen mit frischen Muscheln oder Scampi, wenn ihr mögt", beginnt er zu erzählen. „Im Ofen gart das Secondo, ein Brasato Cinghiale mit Steinpilzen und roten Zwiebeln. Frisches handgemachtes Brot liegt bereit. Als Contorno gibt es eine Kugel Polenta." Chris' Menüzusammenstellung lässt uns das Wasser im Mund zusammenlaufen. Doch er kommt natürlich nicht so einfach mit Kochen und Servieren davon. Die Fragen lauern.
„Wie ist es für dich auf der anderen Seite zu stehen beim Interview?", feuere ich auch gleich los. Er legt den Kochlöffel aus der Hand. „Ungewohnt. Der Platz hinter der Kamera liegt mir deutlich besser als der davor. Es wird mir bewusst, was es bedeutet, über sich selbst nachzudenken – das mache ich grundsätzlich zu wenig. Aber ich finde es spannend; denn ich denke, wir alle müssten das öfters tun. Weg von Glamour, hin zu den dunkelsten und verborgensten Winkeln unserer Seele; einfach mal schauen, was in uns drin so schlummert. Ich freue mich darüber. Das ist Psychohygiene."
Unser Nicken bestätigt seine Aussage. Wo er recht hat, hat er recht. Bevor er wieder in der Sauce zu rühren beginnt, schiebe ich gleich die nächste Frage nach. „Beschreibe dich in drei Wörtern. Nutze dabei am besten welche, mit denen du etwas Positives verbindest, und die nicht häufig verwendet werden."
„Geduldig – Das zeigt sich vor allem im Umgang mit Jugendlichen. Ich habe eine schier unendliche Geduld, Ihnen die immer gleichen Dinge noch einmal zu zeigen und zu erklären. Jemand, der etwas nie begreift, ist eine spannende Herausforderung für mich. Das ist wie eine Challenge – wie kann ich das noch anders machen, damit auch er (oder sie) den Zugang zum Lerninhalt findet? Lehrplan und Pflichtprogramm? – In die Tonne damit. Individuelle Fortschritte bringen die Jugendlichen zum Spaß am Lernen und damit zur Selbstständigkeit.
Vielseitig – Für mich bedeutet das vor allem ‚offen für Neues'. Was ich nicht kann, probiere ich erst aus, bevor ich entscheide, ob es mir gefällt oder nicht. Was ich schon alles erfahren oder gemacht habe, hilft mir im Beruf, aber auch als Autor.
Neugierig – Ich will alles ganz genau wissen. Gossip ist bei mir am richtigen Ort. Was man mir anvertraut, plappere ich nicht weiter. Sprachen lerne ich so schnell, weil ich hinhöre und neugierig bin, wie die Menschen sprechen, wie eine Sprache klingt. Fremde Kulturen faszinieren mich – daher reise ich gern. Maschinen faszinieren mich – ich muss wissen, wie sie funktionieren."
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Jay
Wir drei schauen uns an und verstehen uns mittlerweile auch ohne gesprochene Worte – das bringt die Kommunikation über die Ferne wahrscheinlich mit sich. Ria, die Beobachtende und die uns aufmerksam macht; Sia, die Leidenschaftliche, hat sich gerade auf ihre Fragen konzentriert, ... außer als ich mich eventuell dazwischen gefunkt habe ... Und ich bin die eigentlich ruhige liebe Jay *räusper* ... Okay, ich bin die, die auch ordentlich pfeffern kann. Aber ich bin auch vieles mehr. Wir wissen sofort, dass es besser ist, wenn Sia sich nun den Kochlöffel aus Chris' Hand schnappt, sodass ich losfeuern kann. Wir lachen uns innerlich kringelig.
„Nicht nur Maschinen, wie mir bisher schien. Auch Menschen", greife ich von eben auf. Verwundert schaut er von seiner nun leeren Hand zu Sia, dann zu Ria, um dann mich anzublicken. „Allein die Interviews zeigen das ja. Gibt oder gab es einen Menschen in deinem Leben (ob nur für kurz oder lang), der dir etwas Wichtiges oder Bedeutsames beigebracht hat und die Person dadurch ein ‚kleine*r Held*in' deines Lebens wurde?"
Chris muss gar nicht lange nachdenken. „Mein Vater. Von ihm habe ich die Liebe zu Büchern. Von ihm habe ich die Begabung für die Sprache, das Gefühl für die richtigen Worte zur rechten Zeit. Von ihm habe ich ebenfalls gelernt, sich die Zeit zu nehmen für die wichtigen Dinge im Leben – obwohl er selbst das erst viel zu spät erkannte. Meine Mutter. Von ihr habe ich gelernt, dass die Menschen der Familie und des Freundeskreises zum Wertvollsten gehören, das wir auf unserem Lebensweg bei uns haben."
„Das klingt nach richtig tollen Eltern, die dir Wunderbares mitgeben konnten. Hattest du in deiner Kindheit auch Held*innen aus Büchern, mit denen du dich besonders identifizieren konntest und deren Abenteuer du gern selbst erlebt hättest?"
Ein Grinsen legt sich sofort über sein Gesicht. „Ich war ein großer Fan der 'Drei ???'. Ich hätte da gerne mit gerätselt. Aber Justus war mir zu aufgeblasen, Peter zu sportlich – ich war immer Bob. Im Hintergrund stehend, aber lösungsorientiert."
Ich versuche die zwei Bilder in Einklang zu bringen und bin sicher, genauso zu grinsen wie er.
„Mir haben auch die drei Bücher von Heiner Gross gefallen: '3:0 für die Bärte', 'Tumult auf der Kyburg' und 'Sabors Wunderboot'. Diese Fantasywelt mit den Robotern hat mich fasziniert."
Ich habe null Ahnung, wovon er spricht, aber ich nehme mir vor, diese Titel in einer Suchmaschine einzugeben ...
„Fernsehen gab es bei mir noch nicht (und von Internet wollen wir lieber gar nicht reden; da war ich schon längst erwachsen, als man das erfunden hat), also waren meine Helden alle in Büchern oder in Leseheften – 'Silberpfeil' habe ich auch geliebt. Oder auch Erzählungen über American Natives. Ich habe mich dabei interessanterweise mehr mit der Squaw Mondkind identifiziert als mit dem starken Häuptling Silberpfeil. Aber erzählt das bloß keinem Psychologen."
„O-okay. Keine Sorge", erwidere ich lachend und habe noch nicht einmal ein Bild vor Augen von Mondkind oder Silberpfeil. Sorry Bro. Aber ... „Auch ich bin mit Büchern und Heften aufgewachsen und nicht mit 30 Stunden täglich TV und Internet." Zwinker, Zwinker. „Dafür muss mensch kein alter Knacker sein." Zwinker, Zwinker. „Wenn wir schon mal bei den die Welt verändernden Ereignisse sind: Welches große geschichtliche Ereignis hättest du gern miterlebt (oder hast es vielleicht sogar)?"
Übertrieben zwinkert er mir zurück und ich schnaufe aus. Er nimmt es mir nicht übel; versteht meinen Spaß.
„Selbst miterlebt: Das war der Mauerfall in Deutschland, in Berlin. Die Öffnung der ehemaligen Sowjetunion und die Bildung der selbstständigen Länder – das hat mich unglaublich interessiert und beeindruckt. Damals habe ich sehr viel gelesen oder im Fernsehen geschaut, das es dann schon gab." Das musste natürlich nun betont werden.
„Die Erfindung eines ‚Netzes', in welchem man mit ‚Computern' über die ganze Welt Informationen austauschen kann, war erstaunlich unwichtig und eher langweilig. Die erste E-Mail weltweit, das erste Mobiltelefon (das ohne Kilogramm schweren Akku auskam), die Erfindung der CD – das war alles irgendwie schon okay, aber eher öde. Ich weiß noch, wie wir uns über einen Kollegen lustig machten, weil er sich für viele Tausend Franken einen Computer kaufte, der 1 MB Harddisk hatte! Wir so: Ein Megabyte Speicher? Du Idiot! Wer braucht im Leben schon so viel Speicher?"
Obwohl ich lachen muss, erinnere ich mich selbst an meine Kindheitstage. „Ich weiß. Damals war das alles noch sooo erstaunlich viel. Aber die Disketten habe ich geliebt!"
Er lacht. „Ja, ich auch. Wunsch-Ereignis: Ich hätte gerne die Städte der Inka, der Maya oder der Azteken in ihrer Blütezeit miterlebt. Oder das alte Ägypten oder China. Hochkulturen zu einer Zeit, wo sie in Europa sich gegenseitig noch die Keulen auf die Birne gedonnert haben – das wäre wohl sehr spannend."
„Da wäre ich sofort mit dabei, auch wenn ich womöglich nicht lange überleben würde." Das wären spannende Reisen. Das alte Ägypten fand ich schon immer faszinierend. Genauso aber auch die anderen Kulturen.
„Erinnerst du dich an das erste Buch, das du auf Wattpad gelesen hast?", gehe ich zur nächsten Frage über.
„Aber ja doch, Jay: Das war 'Aurelia' von lenasworldofstories. Mich hat die Geschichte interessiert, das Cover angesprochen. Anfangs dachte ich: ‚Hoppla, neunzig Kapitel – schaff ich das?' (Dazu müsst ihr wissen, dass ich nicht gerne am Bildschirm lese ...) Doch das Buch, das Setting, war so spannend, ich konnte nicht aufhören. Diese Idee, diese Welt, diese Genauigkeit – Wow. Lena, dein Buch ist der Wahnsinn!"
Ich möchte gerade auf seine euphorische Aussage eingehen, aber er spricht weiter, ganz in seinen Erinnerungen versunken ...
„Danach kam dann bald das erste Buch von FleurDeCel – 'Herzbruchversicherung'. Schon ihren Namen fand ich großartig (ich liebe das grobe Salz aus der Camargue); aber das Buch, das ich des Titels wegen lesen wollte, packte mich von Beginn weg; großartig und deshalb wollte ich mehr von ihr lesen. Dass alle ihre anderen Bücher mir sogar noch besser gefallen, habe ich dann erst nach und nach gemerkt. Heute sind Fleur und ich befreundet, was mir sehr viel bedeutet. Fleur, du bist für mich DIE große Autorin der Gegenwart."
„Es ist wirklich schön, dass sich über die Plattform auch Freundschaften bilden. Das habe ich auch erleben dürfen."
Er nickt mir zu, scheint aber noch immer nicht fertig zu sein mit seiner Antwort, welches seine erste Geschichte auf WP war, was mich schmunzeln lässt. „Die Kingston-Trilogie von SevenTimes- ist unglaublich spannend; aber leider nicht fertig. Auch sie hat sehr viel Talent, aber leider wenig Zeit. Hach – ich freue mich auf die Pension (Deutschland = Rente) – dann habe ich endlich Zeit, all diese guten Bücher auf Wattpad zu entdecken und zu lesen – eure Bücher stehen da auch noch auf dem Programm."
„Das freut uns natürlich." Wir lächeln. „Ich hätte vorher nicht gedacht, dass du bereitwillig die Fragen so ausführlich beantwortest, mal schauen, ob wir heute noch durchmachen, he?!", sage ich lachend. „Von der ersten oder den ersten vielen Geschichten auf Wattpad", ich zwinkere ihm zu, „gehen wir mal zu den Covern: Was macht für dich ein tolles Buchcover aus oder gibt es eins, das dir in Erinnerung geblieben ist, weil es dich so angesprochen hat?"
„Ein gutes Cover sollte in sich stimmig sein, grafisch aufgeräumt. Das bedeutet, dass es als solches geplant sein muss und man das bemerken sollte (also kein Gebastel). Farblich ausgewogen wie ein wirkungsvolles Werbeplakat, denn als solches muss es herhalten. Es wirbt für das Buch. Elemente der Geschichte müssen erkennbar sein. Falls ein Bild verwendet wird, sind alle Farben der Grafik aus dem Bild entnommen. Kontrastfarben werden, wenn überhaupt, nur für den Titel verwendet und allenfalls im Autorennamen wiederholt. Die Schrift ist gut lesbar; auf dem Cover hat es nicht mehr Text als unbedingt nötig. Menschen sind nie fotografiert, sondern immer als Grafik gezeichnet."
„Interessant, und ich habe einen Verbündeten gefunden, der auch keine fotografierten Personen auf Covern mag. Und zu den Farben: Definitiv. Es sollte in sich stimmig sein." Dabei schaue ich aus dem Fenster. Das hier ... würde ein fantastisches Bild geben.
„Man sollte das gesamte Cover als solches, als Einheit wahrnehmen und dennoch mit den Augen gezielt zu den wichtigen Elementen geführt werden. Das Cover geht in die Tiefe, erzählt mehr als nur den Titel. Ein gutes Cover ist nie überladen. Schlicht, aber wirkungsvoll. Es gibt gute Cover auf Wattpad, obschon sie selten sind. Eines, das mir in Erinnerung geblieben ist: Das erste (ehemalige und leider ersetzte) Cover von "Schildkröten sprechen nicht". Das war eine sehr gute Basis, mit der man hätte arbeiten können (sollen). Geniale Cover sind meiner Meinung nach jene von 'Code' (GlitterSplitter, Cover erstellt von xDreamLikex), von 'Der Winterdieb' (BellOfSilence) oder das von 'The Bucket List' (applepie1912 , Cover von MorganKingsman). Da ich an ein Cover sehr hohe Ansprüche stelle, bin ich auch mit meinen eigenen recht zufrieden."
Nach unserem verdienten Urlaub werden wir uns all die aufgezählten mal anschauen. „Bleiben wir noch bei Büchern und deren Inhalt. Gibt es ein Buch, von dem du wünschtest, du hättest es geschrieben ODER bei dem du während des Entstehungsprozesses gern in den Kopf des Autors geschaut hättest?"
„Oh ja, viele. Bisher habe ich allerdings keine solchen auf Wattpad gefunden – aber ich bin ja noch nicht lange dabei. Bitte nicht falsch verstehen – es gibt viele sehr gute Geschichten hier; ich habe nur noch keine entdeckt, die mich komplett umgehauen hat. Ich echt: Tote Mädchen lügen nicht (Jay Asher), Playlist (Sebastian Fitzek), Black Out (Marc Elsberg), Blind (Christine Brand), einige Bücher von Frank Schätzing (Schwarm, Limit, Schmetterling), Stumme Gedanken (Meyra Su) – die Liste ist lang. Aus der Fantasywelt natürlich Harry Potter oder Herr der Ringe. Mich fasziniert immer die Idee, die hinter einer Geschichte steckt. Ich mag die Mischung aus Fiktion und Realität. Oder die Mischung aus Romantik und Abenteuer. Abgesehen davon mag ich es, wenn ein Buch ohne die hochgestochenen Literaturelemente auskommt; in einer verständlichen, aber treffenden Sprache geschrieben ist."
„Das kann ich wirklich verstehen." Chris schaut mich verwirrt an. „Ich meinte das auf deine letzten Worte bezogen. Die Mischung, aber auch, dass es nicht künstlich und gepresst in einer anderen Sprache gedrückt sein sollte." Da fällt mir etwas ein. „Ich bin dir und tedsi90 übrigens noch eine Antwort schuldig: ›Die Haut meiner Seelen‹. Das Buch wäre auf jeden Fall dabei. Die anderen zwei liefere ich noch nach." Ich zwinkere ihm zu.
Der köstliche Duft des Essens weht zu uns herüber. Ich glaube, Chris kann Sia ehrlich vertrauen, was das angeht ... Mmmh. Und Ria macht ihrem Charakter wieder alle Ehre, beobachtet uns und die Umgebung. Unentwegt schauen Sia, Ria und ich uns an und mir ist so, als würden wir alle drei über das gleiche nachdenken, was Chris angeht. Es formt sich etwas zusammen ...
Unbeirrt fahre ich dennoch erst einmal fort. „Gibt es ein Lieblings-Zitat, das dir direkt aus der Seele gesprochen hat?"
„'I don't teach children – I give them joy and happiness.' Keine Ahnung, von wem das ist. Ich habe es auf einem Plakat einer Tanzschule irgendwo in Italien gelesen. Das wurde sofort zu meiner Grundhaltung in meinem Stammberuf. Es geht nicht ums Lehren – es geht ums Anleiten zum Selbermachen. Dabei soll man Freude spüren und miteinander glücklich sein. So sollte Schule funktionieren, denn so funktioniert Lernen."
Wir nicken ihm bestätigend zu; sehen es genauso.
„Dann vielleicht auch noch den: ‚Der einzige Fehler, den du machen kannst, ist es nicht zu versuchen.'"
„Da muss ich sofort an Pipi Langstrumpf denken, die meint: ‚Das habe ich noch nie versucht, also schaffe ich das' oder so ähnlich." Da kommt mir die nächste Frage in den Sinn. Kunst, Inspiration ... „Wie wichtig ist dir Musik beim Lesen und Schreiben und welche Künstler*innen oder Songs gehören zu deinen Favoriten? Oder inspiriert dich anderes mehr?"
„Enorm, unendlich wichtig. Songs, Gefühle und Texte – das gehört für mich zusammen. Ich verbinde viele Gefühle, Erlebnisse und Bilder mit Musik, die ich in diesem Moment gehört habe. Bei mir läuft immer Musik, überall. Dabei höre ich querbeet fast alle Arten von Musik – ich wäre schneller fertig aufzuzählen, was ich nicht höre. Welche Art Musik in welchem Moment erklingt, ist sehr stimmungsabhängig. Meine Favoriten: Amy McDonald, Dire Straits, Barclay James Harvest, Patent Ochsner, Madison Violet, Tina Turner, ... die Liste ist auch hier sehr lang."
Kein Anwärter für den neuen Club „Keine Musik beim Schreiben", wie ich bemerke.
„Und welches Genre liegt dir am ehesten beim Schreiben, unterscheiden sie sich von deinen Lieblingstropes? Was hast du schon ausprobiert, was passt so gar nicht zu dir? Wie hast du das festgestellt, woran machst du das fest?", prasselt so aus mir heraus.
„Was zur Hölle sind 'Tropes'?" er schaut mich fragend an.
"Motive". Wir lachen alle.
"Aha, Motive – warum sagt ihr das nicht? Die Abenteuergeschichten, worin ich auch etwas Liebe und Drama verpacken kann, wo Leser*innen zudem noch etwas erfahren können – das ist meine Ecke. Meine Leserinnen und Leser sollen nachdenken, schmunzeln, genießen und sich unterhalten.
Als ich einen Krimi geschrieben habe, leckte ich Blut (bei der Vampirgeschichte ebenso). Tief in mir drin entdeckte ich eine Lust, schwarz zu schreiben, mich mit den Abgründen der Menschheit zu befassen. Da schlummern auch Suspense und Thrill. Könnte spannend oder gruselig werden, wenn ich mich mehr auf dieses Terrain wage, was ich absolut vorhabe.
Schreiben bedeutet für mich, Ideen auf Papier (oder zumindest virtuelles Papier, I und 0, ihr wisst schon) zu bringen. Es bedeutet für mich eine andere Welt, die ich mir zurechtlegen kann und wo ich immer dann hinkann, wenn mir die aktuelle Realität über den Kopf wächst; nennt es einen Fluchtort aber auch einen Ort der Erholung – und genau deshalb sind es die Abenteuergeschichten, denn das Reisen gehört zu mir wie der karierte Deckel auf Omas Konfi."
„Klingt echt super und leidenschaftlich. Ich bin bei dir!" Und es klingt sehr danach, als wenn die Geschichten näher sind, als ich bisher annahm. Dass sie hier irgendwo zu entdecken sind, hatte ich bereits herausgefunden ... „Seit wann schreibst du?", ist daher meine nächste Frage.
„Bücher? Seit ich auf einer Italien-Reise nichts mehr zu lesen dabei hatte: Das war im Oktober 2020. Bei mir hatte das nichts mit Corona zu tun, sondern mit Ideen, die raus wollten. Durch das Haus in Italien und durch meinen Camper durfte ich immer reisen; die Grenzen waren nicht wirklich geschlossen, nur der Reiseweg eingeschränkt; die Coronazeit war also nicht langweilig – aber die Straßen waren deutlich weniger verstopft", lässt er uns grinsend und zwinkernd wissen.
„Wenn ich so darüber nachdenke", fährt er fort, „ist das nicht normal. Jetzt habe ich bald zwei Romane auf dem Markt und vier weitere sind schon geschrieben. Sechs Romane in drei Jahren; und das in vier verschiedenen Genres – verrückt. Ich lasse endlich raus, was seit vielen Jahren in mir schlummert.
Texte und Kolumnen schreibe ich hingegen schon sehr lange. Meine einseitigen Texte sind zum Teil mehr als zwanzig Jahre alt. Ich schreibe aber nicht seit meiner Schulzeit, wenn ihr das meint. Obwohl ich als Schüler die Aufsätze immer sehr mochte – ich konnte mit jeder Aufgabe meiner Lehrperson umgehen und hatte immer eine Idee, was ich schreiben könnte. An Fantasie hat es mir noch nie gemangelt."
„Also zwei Antworten von mir dazu: Als verrückt in dem Sinne, den du meinst, wie ich denke, würde ich es ganz und gar nicht bezeichnen. Und zweitens: Verrückt sind wir alle und das finde ich crazy-toll!"
Ich – oder wir – kommen der Sache näher. Sia und Ria – die Namenszwillinge, wie wir sie nennen – grinsen mir zu und nicken im gleichen Tempo dazu. „So Chris: Hollywood ruft an und will eine Drehbuchidee von dir – worum ginge es und welche Schauspieler*innen sollen welche Hauptprotagonist*innen spielen?" Mit meinen Händen schnappe ich wie eine Videoklappe vor seinen Augen zu.
„Es wäre auf jeden Fall eine spannende Geschichte, mit Action und Liebe. Ich denke, aus den–" Er stockt.
„Ja?", hake ich gespielt gekünstelt dramatisierend nach.
„Aus den ... ähm Pignatelli-Büchern könnten spannende Filme entstehen; oder auch aus dem 'Bus nach Irgendwann'. Cast für die Pignatelli-Geschichten: Elena Pignatelli – Laura Marano (oder auch Vanessa, ihre ältere Schwester) / Umbigwe – Sinqua Walls / Java – Nathalie Emmanuel / Marco – schwer zu besetzen; Scott Eastwood oder Nat Wolff vielleicht? / Maria, Duce, Capitano – ebenfalls schwer zu besetzen ... Duce vielleicht Sean Connery oder Sam Elliott; bei Maria denke ich an Diana Rigg, Maggie Smith oder Helen Mirren – irgendeine 'Badass Grandma' halt / Selina – Gaia Weiss."
Sia kommt vom Ofen zu uns und wir drei stellen uns ihm gegenüber. Ich lege meinen Kopf schief, versuche es so gut wie möglich zu formulieren. Aber ach. Ich winke mit meiner Hand über meine Schulter und ernte verwirrte Blicke. „Wegen vorhin. Christine ist dein weiblicher Anteil. Die Texte kommen aber von ihm. Wie war das gemeint? Sie kommen von ihm? Von dir? Oder noch was anderes?" Ich ziehe meine Augenbraue hoch – wohlwissend, dass ich es gar nicht kann –, blicke dann zu Sia und Ria – die beiden können es, na toll! – und dann lächeln wir ihm herzlich entgegen.
„Ihr wisst es?", spricht er überrascht aus.
„Jetzt schon", erwidere ich lachend – wie auch nicht, nach all den Infos. „Bis eben war es eine Vermutung."
„Also macht es euch nichts aus?"
Ich und auch die beiden Namenszwillinge schütteln mit dem Kopf. „Die meisten nutzen Pseudonyme auf der Plattform. Mein Name ist auch ein Pseudonym."
„Okay. Ja. Du hast recht, Jay." Er schaut zu uns dreien. „Ihr drei habt recht. Bruno. Bruno ist der Schreiber; er ist der Texter, der die abstrusesten Ideen in packende Szenen verwandelt und aus jedem Setting einen Film macht; in Worte gepackt wie die mundgeblasene, gläserne Christbaumkugel in Watte. Er ist meine männliche Seite, der Tollpatsch, der Träumer aber auch der Abenteurer und Entdecker; manchmal auch der Kuschelbär, mit dem Christine ein Glas Wein trinkt. Ich mag auch ihn, irgendwie."
Die beiden Seiten ergeben ein Bild zusammen. Allein wenn ich an deren Interview denke. Es macht Sinn. Und ich mag auch Bruno, genauso wie auch Chris-tine.
„Als dann Christines Buch so erfolgreich war, gab es kein Zurück mehr. Weil ich aber ein grundehrlicher Mensch bin, habe ich meine beiden Pseudonyme in die Pflicht genommen, ihnen ins Gewissen geredet. Nun ist klar: Beide sind ich – und ich bin beide. Beide werden ihre Aufgabe weiterhin sehr ernst nehmen. Wenn ich als Christine an den Tasten sitze und Wattpad-Ratschläge gebe, Rezensionen schreibe, bin ich Christine. Wenn ich Bücher schreibe, Lesungen veranstalte, an Buchmessen gehe, bin ich Bruno. Wenn ich Verträge unterzeichne und im knallharten Buchhandel unterwegs bin, bin ich Chris."
Wir grinsen ihm zu und freuen uns einfach für ihn.
„Danke euch! Aber wollen wir nicht mal langsam etwas essen?"
„Da ist er wieder ... Schön am ablenken!", meint Ria. Natürlich hat sie recht, aber vielleicht sollten wir ihm eine Pause gönnen. Ganz die Unschuldsmiene aufsetzend blickt er drollig nach unten. Ja ja.
„Sia und ich servieren das Essen und Ria kann ja schon mal übernehmen", lasse ich ihn schmunzelnd wissen und von meiner Befragung frei.
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Ria
Ich schaue Sia und Jay hinterher, wie sie die zwei Schritte in die Küche gehen und blicke dann zu Chris beziehungsweise Bruno. „Wo du das immer fragst: Wie bist du eigentlich zu Wattpad gekommen? Und was bedeuten dir die Zahlen und Follower?"
„Dass ich Wattpad kenne, daran sind meine zwei jüngsten Nichten beteiligt. Sie haben mir die Plattform gezeigt. Eine von ihnen ist eine begeisterte Leserin, die andere schreibt auch (MiaKadaxy).
Als meine ‚Reise' den Watty gewonnen hatte, gab es für mich kein Halten mehr. Ich wollte auf Wattpad bleiben. Dass ich sogar ins Star-Programm aufgenommen wurde, bestätigte meinen Weg. Trotz der riesigen Enttäuschung, die mit dem Sternchen einherging, bleibe ich WP treu, betrachte die Sache heute allerdings neutraler, objektiver – mit dem Auge des Geschäftstüchtigen.
Anfangs hat es mich sehr traurig gemacht, wenn meine Followerzahl rückläufig war (auch heute noch, aber ich weine inzwischen nicht mehr). Ich fragte mich jeweils, was ich falsch gemacht habe; versuchte herauszufinden, wer mich denn verlassen hatte. Inzwischen freue ich mich ganz einfach über alle jene, welche gekommen sind um zu bleiben! Vor allem aber freue ich mich über jene Kontakte, mit denen ich in einem regelmäßigen Austausch sein kann oder die ich sogar als meine Freunde und Freundinnen bezeichnen darf. Ihr seid die Größten – carissimi abbracci forti!"
Sia und Jay kommen mit dem Essen auf uns zu, wir nehmen ihnen Teller und Zutaten ab. „Wo geht es nun lang? Bleiben wir hier drin oder gehen wir raus?"
Es geht raus, wie ich zu meiner Freude erfahre. Auf dem Weg nach draußen wende ich mich an Chris: „Wenn Liebe durch den Magen geht: Welches Gericht besitzt den Schlüssel zu deinem Herzen? Und welches wird ihn nie in die Finger kriegen?"
„Also gleich mal vornweg", beginnt er überdeutlich, „Liebe geht IMMER durch den Magen." Er streichelt über sein Bäuchlein. „Erst verlierst du verträumt den Appetit, dann schwirren die Schmetterlinge im Bauch rum, danach hast du Heißhunger, wirst nimmersatt und am Ende ist dir schlecht."
Ich muss lachen.
„Okay, ich schweife ab, zurück zur Frage. Ich bin ein typischer Alles-Esser. Mit einem perfekt zubereiteten Menü hast du mich; egal, was es ist. Perfekt bedeutet: Passendes Ambiente, würzig ausgewogen, nicht verkocht, nicht verbrannt. Ich muss schmecken, was ich esse.
Tomaten in der Schweiz verdienen den Namen nicht. Wenn du jemals Mango frisch vom Baum, reif, gekostet hast, wirst du in Europa keine Mango mehr kaufen. Ich bin ein absoluter Fan von natürlichem, einfachem Essen; und von Slow-Food. Ich liebe es, stundenlang in der Küche zu stehen. Zur Bestätigung bitte kurz den Deckel von dem hier anheben ..."
Oh ja, das habe ich auch schon erlebt. Ich weiß, was er meint ...
„Meinen Schlüssel nie kriegen? Hmm; wenn das Essen kalt ist, wenn es auf den Tisch kommt und nach nichts schmeckt, lieblos zubereitet wurde. Halb aufgewärmte Spaghetti alla Pampa mit dünner Fertigsoße – Yack."
„Das wird uns heute zum Glück nicht passieren. Es duftet köstlich und schaut auch so aus."
Nach dem Essen haben wir uns nach drinnen verzogen und vegetieren seitdem im sogenannten Food-Koma vor uns hin.
Oder Food Baby? Denn ich ertappe Jay dabei, wie sie den obersten Knopf ihrer Jeans aufmacht.
„Ups, erwischt", gluckst sie, als sie meinen vermutlich sehr amüsierten Gesichtsausdruck bemerkt.
Inzwischen hat sich ein dunkler Schleier auf die Landschaft niedergelegt und das immer schwächer werdende Tageslicht genügt nicht mehr, um die Innenräume zu erhellen.
Sia scheint gerade zur selben Schlussfolgerung zu gelangen, denn sie stellt ihr Weinglas mit einem Klirren auf dem Couchtisch ab und blickt sich mit leicht zusammengekniffenen Augen um.
Chris hebt eine Braue. „Kann man dir helfen?"
„Wo ist denn der Lichtschalter?"
Unser Gastgeber rappelt sich auf und winkt Sia zu sich.
„Ich hab' 'ne bessere Idee", brummt er. „Komm mal mit."
Es dauert nicht lang, bis die zwei Kerzenständer auf der Treppe und im Raum verteilen und wir uns in warmem Flackerlicht gegenübersitzen.
Es war ein langer Tag und man merkt, dass langsam Müdigkeit einkehrt. Statt zu quasseln scheint jeder von uns gerade lieber dem Feuer zu lauschen, das gemütlich im Kamin vor sich hin knistert. Allmählich wird es kleiner, aber wenn wir die Glut zusammen schüren, funkelt sie wahrscheinlich noch so lange, dass wir morgen früh nur frisches Holz auflegen zu brauchen, damit es wieder brennt.
„Schaut mal."
Chris, Jay und Sia schrecken auf, als ich mit einer beeindruckenden Mischung aus Flüstern und Rufen ihre Aufmerksamkeit auf mich ziehe. Sie folgen meinem ausgestreckten Zeigefinger zu den Balken oberhalb des Esstisches, wo der kleine runde Körper eines Mäuschens zum Vorschein kommt.
„Oh", Chris lacht leise, „die wohnen im Zwischenboden, zwischen dem Holzwerk und den Tonziegeln. Dort hat es einen zirka zehn Zentimeter hohen Zwischenraum."
Jay verzieht den Mund zu einem Schmunzeln.
„Die dachten bestimmt, wir sind eingeschlafen und sie können sich über unsere Knabbereien hermachen."
Ich muss kichern.
„Also viel hat bei mir nicht gefehlt." Ich zupfe mir ein Stück Rosmarinbrot ab, das vom Abendessen übrig geblieben ist. „Aber, wo wir gerade wieder munter sind, wollte ich dich sowieso noch was fragen."
Chris hebt sein Rotweinglas zum Mund.
„Na dann schieß mal los."
„Wie bist du eigentlich ausgerechnet auf uns drei für das Interview gekommen?"
Chris überlegt einen Moment und sagt: „Zwischen Ria und mir habe ich von Beginn weg eine Verbindung gespürt, die ich schlecht in Worte fassen kann; sie war einfach da. Diese ReggaeGirl4 war mir auf Anhieb sympathisch. Ich denke ganz einfach, wir zwei würden uns super verstehen und könnten gemeinsam den Westcoast-Trail wandern, ohne dass uns auch nur eine Minute langweilig würde. Ich meine damit – mit dir kann man Pferde stehlen! Da du ebenfalls Fleurs Bücher magst, warst du für mich eigentlich klar gesetzt als Interviewführende. Zudem hast du mich enttarnt; einfach so, aus dem Nichts – und das will etwas heißen. Sia verschwand nach Italien, was meine Aufmerksamkeit erhaschte. Nicht in meine Favoriten-Region aber hey – ich meine: Italien! Einfach so. Bang – auf und davon. Ich war ganz schön neidisch, muss ich zugeben. Wie du bei anderen Büchern Kommentare gibst, mag ich sehr. Ich mag deine sympathische Art zu kommunizieren. Jay, bei dir waren es ebenfalls die Kommentare, die du immer schreibst. So geistreich, so hilfreich, so wohlwollend und respektvoll. Das kam sehr sympathisch rüber, zu mir in die kalte Schweiz." Chris reibt die Handflächen aneinander. „Apropos sympathisch: Ich will euch unbedingt noch etwas zeigen, bevor wir uns zur Nachtruhe verabschieden." Er kommt auf die Füße. „Am besten schnappt ihr euch eine Decke oder zieht eine Strickjacke über."
Jay und Sia steuern den Sessel an und kichern, als sie merken, dass sie es auf dieselbe kuschelige Wolldecke abgesehen haben, die über seine Lehne drapiert ist.
„Nimm du sie", schlägt Jay vor, „da drüben liegt noch eine."
Ich ziehe mir unterdessen eine weinrote Kapuzenjacke über und puste die letzte noch brennende Kerze auf der untersten Treppenstufe aus.
Kühle Luft streichelt uns über die Gesichter, als wir in den schwach von einer Außenlampe beleuchteten Garten treten.
„Was gibt's denn hier draußen um diese Zeit?", erkundige ich mich bei Brunos Hinterkopf, da er direkt vor mir hergeht.
„Einiges", antwortet er. „Nachts kommen die Wildschweine und fressen die heruntergefallenen Oliven oder die Früchte bei den Aprikosen- und Apfelbäumen im Sommer. Sie suhlen sich gerne im Schlamm, wenn es einmal geregnet hat – dabei hinterlassen sie riesige ‚Badewannen', welche auch schon einen kleineren Olivenbaum zum Umfallen brachten. Das nervt zwar, aber einhaken mag ich nicht – Natur ist Natur und mit einer Schaufel oder einem kleinen Traktor kann man die Löcher wieder zuschütten."
Sia dreht sich mit weit aufgerissenen Augen einmal um die eigene Achse.
„Die haben mehr Angst vor dir, als du vor ihnen", gluckst Jay und stupst sie mit dem Ellenbogen an.
„Das ... bezweifle ich."
Ich schüttle lachend den Kopf und blicke nach oben.
Wow ...
Der Sternenhimmel sieht fantastisch aus. Bruno, oder eben Chris, meinte vorhin, der nächste Ort und damit das nächste künstliche Licht ist etwa vier Kilometer entfernt. So viele Sterne sieht man bei uns in Mitteleuropa nie.
Außerdem fällt mir auf, dass die Zikaden und ihr lautstarkes Zirpen verstummt sind, seit die Sonne hinter dem Horizont verschwunden ist.
In einiger Entfernung blinken kleine Lichter auf. Der Garten glitzert – oder sind das ...?
„Glühwürmchen", verkündet Chris, als hätte er meine Gedanken gelesen. „Spannend sind auch die Fledermäuse, welche am Abend draußen um die Häuser flattern. Sie wohnen im Dach der Scheune, auf der hinteren Seite zur Straße hin – also dem Haus abgewandt. Sie fliegen dann abends um die Häuser und fressen die Mücken – das ist ein großer Vorteil und ein super Insektenschutz", erklärt er weiter.
Der Schein des einzelnen Windlichts, das er mit nach draußen genommen hat, fällt auf eine kleine Sitzgruppe, wo es sich jeder von uns in einem Gartenstuhl gemütlich macht, soweit das auf Gartenstühlen eben möglich ist.
Jay blickt durch die Runde.
„Ich würde sagen, wir haben Chris für heute genügend ausgequetscht oder was meint ihr?"
„Ich denke auch", sage ich und meine Worte gehen fließend in ein Gähnen über.
Chris schnaubt belustigt. „Bin ich entlassen, ja?"
Ich zwinkere ihm zu. „Fast ... Das Schlusswort gehört natürlich dir."
Er lehnt sich tief in die Lehne des Gartenstuhls und blickt in die dunkle Ferne. „Was immer du auch tust, mach es ganz und mach es richtig", sagt er schließlich. „Glaube an deine Fähigkeiten, stehe zu dir und störe dich nicht an der Kritik der anderen, welche dich aus Neid minderwertig darstellen wollen. Trage Sorge zur Natur, zu deinen Freunden und zu deiner Familie; sie geben dir die Unterstützung und die Kraft in allem, was du unternehmen wirst."
Ich stütze mein Kinn in der Handfläche ab. „Das hast du echt schön gesagt."
„Hm", murmeln Jay und Sia zustimmend. Der perfekte Abschluss eines ereignis- und vor allem enthüllungsreichen Tages.
„Ich danke euch dreien für euer Vertrauen und die unglaublich interessanten Fragen." Chris zwinkert uns zu. „Ihr solltet das Werk weiterführen – vielleicht in Zusammenarbeit mit Christine?"
Die Worte hängen zwischen uns, aber weder Jay noch Sia oder ich sagen etwas dazu. Ich denke, das ist auch keine Verpflichtung, für die man sich spontan zwischen Tür und Angel entscheidet. So etwas will gut überlegt sein.
„Darüber muss ich schlafen", spricht Sia meine Gedanken in ähnlicher Form laut aus.
Chris schmunzelt wissend und bohrt nicht weiter nach.
„Esst und trinkt noch etwas – wenn ihr noch könnt! Lasst uns vor allem den Abend genießen und über unsere Buch-Ideen plaudern, die wir demnächst angehen werden."
***
So, nun ist es draußen. Christine ist Bruno - Bruno ist Christine und sie beide sind 'Ich'. Als Autor heiße ich Bruno Heter. Als Beraterin und Vermittlerin heiße ich Christine und als Mensch bin ich einfach ich. Viele von euch wussten es bereits; viele vermuteten es wahrscheinlich und einige werde ich vielleicht heute etwas überrascht haben. Wie auch immer - für Kommentare, Bemerkungen und Fragen bin ich bereit - nur zu; ich bin ein offener und ehrlicher Mensch, der sich vor keinen Fragen scheut.
Das war das letzte Interview im Author's Corner. Vielen herzlichen Dank an Ria, Sia und Jay. Es hat sehr großen Spaß gemacht, mit euch drei sympathischen Frauen zu schreiben. Wer weiß, vielleicht planen wir irgendwann etwas Gemeinsames? Eine Kurzgeschichte aus vier verschiedenen Blickwinkeln, beispielsweise? Oder einen Adventskalender, wo jeder von uns nur sechs Texte schreiben muss, anstatt deren vierundzwanzig? Oder eine vierteilige Novelle, wo jeder von uns einen Teil schreibt? - Ich wäre für solche Ideen auf jeden Fall zu haben.
Danke, dass ihr mein Buch gelesen habt.
Macht's gut - Eure Christine
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