11 - Juliana
Ju ist immer wieder erstaunt, über die Bindung, die ihre Kinder zueinander haben. Obwohl Felix fast 6 Jahre älter ist, als Melli, spielt er dauernd mit ihr und beschäftigt sie stundenlang. Er kann aber genauso Verantwortung für sie übernehmen und passt auf sie auf, wenn Ju gerade beschäftigt ist, oder etwas ins strugglen kommt.
Was ziemlich oft vorkommt. So geduldig und ausgeglichen Ju meistens ist, so zerstreut ist sie auch.
Deshalb sucht sie jetzt schon, seit über einer halben Stunde, nach ihrem Handy. Gestern, nachdem sie ihr Gespräch mit Anja beendet hat, hat sie es irgendwo hin gelegt. Seither ist es weg.
Sie wollte doch nur kurz ein paar Bilder an Sven schicken und dann mit den Kindern endlich das Feriendorf erkunden.
Sie sieht sich suchend in dem schnuckeligen Wohnzimmer um. Auf dem Kamin hat sie schon nachgeschaut, die ganze Küche hat sie abgesucht. Sogar den Kühlschrank. Da drin hat sie schon oft in ihrer Geistesabwesenheit Schlüssel, Bücher, ihr Handy und sogar ihre Lesebrille gefunden.
Früher hat sie öfters Sven in der Küche plötzlich schallend lachen gehört. Als sie dann nachschauen wollte, was er so witzig fand, kam er ihr mit den absurdesten Gegenständen entgegen, die er im Kühlschrank gefunden hat.
„Deswegen liebe ich dich, mein Schusselchen. Ich hätte nicht halb so viel zu lachen, ohne dich."
Ju muss bei dem Gedanken daran lächeln. Sie schwelgt in schönen Erinnerungen mit Sven.
Sie zieht scharf die Luft ein, als sich ein Bild von ihrem hübschen Nachbar auf Zeit, in ihren Kopf drängt. Ihr wird abwechselnd heiß und kalt, ihr Herz pocht und sie schämt sich für das Glücksgefühl, das dieser Mann in ihr auslöst. Schnell verdrängt sie den Gedanken an ihn.
Ju schaut sich nochmal um, sie hebt die Decken am Sofa hoch. „Ha! Hab ich dich du Schlingel!", ruft sie triumphierend aus und schaut gleich drauf.
Eine Nachricht von Anja, dass sie sie vermisst und überlegt ihr einfach nachzufliegen, weil sie ihre Schwiegereltern dazu bringen, ernsthaft über Scheidung nachzudenken.
Ju lacht. Anja und Sam sind das Traumpaar schlechthin. Sie lieben sich wie am ersten Tag und obwohl sie leider noch keine Kinder bekommen konnten, halten sie zusammen wie Pech und Schwefel.
Anjas Schwiegermutter macht ihr jedes Mal unterschwellige Vorwürfe, dass sie noch keine Enkel produziert haben. Über den Schmerz, den Anja und Sam dadurch selbst haben, scheint sie sich überhaupt keine Gedanken zu machen.
Ju antwortet ihr, dass ihr Bett ziemlich kalt sei, ohne Sven und sie sich daher über Gesellschaft sehr freuen würde und schickt ein Zwinker Emoji hinterher. Warum sie dabei schon wieder an den Miesepeter, ein paar Meter weiter, denkt, ist ihr ein Rätsel. Die Schuldgefühle Sven gegenüber fressen sie auf.
Von Sven gibt es keine Neuigkeiten, sie schickt ihm schnell die Bilder und flitzt dann raus, um die Kinder zu rufen.
„Felix, Melli, ich bin fertig, wir können losgehen." ruft sie nach draußen und läuft schonmal in den Flur, um in ihre Sandalen zu schlüpfen.
Sie schnappt sich die Schlüssel und wartet auf ihre Kinder. Als keiner der beiden auftaucht, schmunzelt sie und läuft wieder zur Terassentür.
Dort angekommen schaut sie in das verzweifelte Gesicht von Felix, der, den Tränen nahe, durch den Garten schaut. „Hey Großer, was ist los? Hast du dich verletzt?", schnellen Schrittes läuft sie zu ihrem Sohn und nimmt ihn in die Arme. Dabei hält sie schon mal Ausschau nach ihrer Tochter. Sie kann sie aber nirgends entdecken und wendet sich ihrem Sohn wieder zu.
„Sie ist weg, Mama. Ich hab doch nur kurz oben auf dem Gerüst gelegen. Ich... Ich wollte.. ich hab doch.."
„Hey, hey mein Schatz, es ist alles gut. Beruhige dich. Wo war Melli denn zuletzt?"
„Hier unten im Sandkasten, sie hat unter mir gespielt und ich dachte, sie kommt schon kurz alleine klar. Es tut mir so leid Mama, ich wollte doch auf sie aufpassen, es ist meine Schuld!"
„Das ist doch nicht deine Schuld. Melli kann schon auch mal allein spielen da hast du vollkommen recht. Sie kann nicht weit sein, vielleicht ist sie nur eine Runde spazieren. Komm, wir gehen sie suchen."
Felix nickt bedröppelt und weint immer noch, als seine Mutter ihn an der Hand nimmt und zu dem offen stehenden Gartentor führt. Das war ihr zuvor noch gar nicht aufgefallen. Klar, dass Melli das entdeckt und dann auf Wanderschaft geht. Das sieht ihrer Weltenentdeckerin ähnlich.
Äußerlich bleibt Ju ganz ruhig. Sie will Felix nicht noch mehr belasten und in solchen Situationen ist Ruhe bewahren einfach das Beste. Auch wenn sie innerlich sehr aufgewühlt ist und ihre Gedanken um all die Dinge kreisen, die Melli hier zustoßen könnten.
Man weiß nie, wer sich in solchen Parks rumtreibt, die meisten Menschen hier sprechen kein Deutsch, und Melli kann sich nicht auf englisch verständigen.
Gibt es hier Teiche? Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie in den Park hinein gelaufen ist? Ist sie vielleicht in den angrenzenden Wald gegangen? Ju bemüht sich wirklich Ruhe zu bewahren, aber sie wird nun doch nervös, bei all den möglichen Richtungen, die ihre Tochter eingeschlagen haben könnte.
Sie fängt direkt an, nach Melli zu rufen, als sie aus dem Gartenstück rauslaufen. Sie hält die Hand ihres Sohnes fest umschlossen und wirft ihm einen aufmunternden Blick zu. „Was denkst du wo ist sie lang gelaufen?"
„Keine Ahnung Mama ich hab's doch nicht gesehen sonst wär ich ja hinterher."
„Das weiß ich, mein Schatz! Aber du hast immer so ein tolles Bauchgefühl, vor allem wenn es um Melli geht, deshalb frage ich dich das."
Felix sieht sich nachdenklich um.
Plötzlich steht die Frau aus dem Flugzeug vor den beiden. Ju war so aufgewühlt, dass sie gar nicht gemerkt hat, wie sie zu ihnen gelaufen kam.
„Hey Felix, schön dich wiederzusehen! Ist alles in Ordnung bei euch?"
„Maike, hallo!", Felix freut sich, aber er ist immer noch bedrückt.
„Meine Schwester, Melli. Sie ist weg. Vorhin waren wir noch in unserem Garten."
Er zeigt hinter sich auf das Gartengrundstück. „Und als Mama uns gerufen hat, hab ich gemerkt, dass sie weg ist, ich hab nicht richtig aufgepasst."
Er ist schon wieder den Tränen nahe und Ju streicht ihm behutsam über den Rücken.
„Hey, das ist doch nicht deine Schuld, so klein ist deine Schwester doch gar nicht mehr, dass man sie immer im Blick haben muss. Jeder läuft doch mal weg, um sich umzusehen. Wir helfen euch beim suchen, ja?", aufmunternd schaut Maike auch Ju an und dreht sich direkt zum Haus, das Ju's gegenüber steht.
„Finn, Marlon. Kommt bitte, wir bräuchten hier Hilfe", ruft sie Richtung Nachbarhaus und promt geht die Türe auf und die beiden Männer, die Ju auch im Flugzeug schon aufgefallen sind, kommen heraus. Eine Gänsehaut zieht auf Ju's Armen auf. Sie ist gefesselt vom Anblick des Mannes, der sie aber keines Blickes würdigt. Etwas frustriert wendet sie den Blick ab und versucht ihr rasendes Herz unter Kontrolle zu bringen.
Jetzt sieht Ju erst richtig, wie groß und muskulös die beiden sind. Sie könnten direkt aus einer Bruno Armani Werbung oder so stammen. Einer der Männer, der sich als Finn vorstellt, geht schnellen Schrittes auf die kleine Gruppe zu und schaut Ju offen an. Mr. Brummbär hält den Blick weiterhin gesenkt, bis er bei der Gruppe ankommt und blickt dann stur in Maikes Gesicht. „Was gibt's denn?", fragt er gedämpft.
Ju bekommt direkt eine Gänsehaut beim Klang seiner rauen, tiefen Stimme.
Sie kann den Blick gar nicht von seinem Gesicht wenden, obwohl er so starr an ihr vorbei sieht. Jetzt, wo er so nah steht, sieht sie wie leuchtend seine blauen Augen sind. Wie das offene Meer. Sie kann es sich nicht erklären aber sie hat den dringenden Wunsch, dass er den Blick auf sie richtet. Auch sein Duft vernebelt ihr die Sinne und bevor sie merkt was sie tut, spricht sie mit klarer Stimme.
„Meine Tochter ist verschwunden. Sie ist 4 Jahre, ca so groß", dabei hält sie sich eine Hand an die Hüfte, der Blick des Brummbärs folgt ihrer Hand und richtet sich nun starr auf ihre Hüfte. Die Stelle, auf die seine Augen gerichtet sind, beginnt angenehm zu kribbeln und Ju widersteht dem Drang, sich genau dort über die Haut zu fahren.
„Hat schulterlange braune wellige Haare, so wie ich und..", weiter kommt sie nicht, weil Mr. Brummbär sie schon unterbricht. „Wir haben sie im Flugzeug gesehen, wir wissen wie sie aussieht. Finn, Maike, geht Richtung Dorf rein, ich laufe in den Wald und suche dort. Juliana, du solltest an die Rezeption, vielleicht ist sie dort, wenn nicht, kannst du sie dort ausrufen lassen oder noch jemanden zum suchen schicken", während er seine Befehle runterrattert, würdigt er Ju immer noch keines Blickes. Das frustriert sie ungemein.
Ihre beiden Nachbarn laufen schon los Richtung Dorf und Ju schaut dem Brummbär noch hinterher als er sich abwendet und Richtung Waldstück läuft. Schnell läuft sie mit Felix an der Hand zur Rezeption, wo sie sich direkt erkundigt, ob ein Mädchen gesehen wurde, dass alleine unterwegs ist. Die freundliche alte Dame an der Rezeption verneint bedauernd und bietet an, einige Mitarbeiter suchen zu lassen, diese kennen den Park schließlich am besten.
Ju bedankt sich und läuft direkt wieder raus, wo sie sich umschaut und den Platz nach ihrer Tochter absucht. Der kleine Springbrunnen in der Mitte ist sehr idyllisch, aber Ju nimmt das gar nicht wahr, sondern sieht nur eine Gefahrenquelle. Sofort rennt sie hin und schaut hinein. Zum Glück ist das Wasser klar und auf dem Grund ist nichts zu sehen.
Erleichtert atmet Ju auf, sieht sich dann aber sofort weiter um, sie läuft auf das Haus mit dem Schriftzug „Spielparadies" zu. Melli kann zwar noch nicht lesen aber die ganze Fassade des Hauses schreit nur so „Spiel und Spaß". Wenn Melli das entdeckt hat, ist sie mit Sicherheit hineingelaufen. Im Spielparadies angekommen, schaut sie sich um und drängt sich eilig zwischen den Menschen durch, Felix lässt ihre Hand los mit den Worten „Ich schau mal in die Klos, treffen wir uns am Ausgang?"
„Ist gut Schatz, danke." murmelt Ju nur und sieht sich weiter suchend um. Nach etlichen Minuten und bestimmt 5 Runden durch das ganze Haus, geht Ju entmutigt aus dem Haus und trifft dort Felix. Der winkt schon Maike, die aufgeregt auf die beiden zuläuft.
„Juliana, komm schnell zu eurem Haus, wir haben sie gefunden!"
Ju wundert sich kurz, woher Maike ihren Namen kennt, da fällt ihr auf dass Mr. Brummbär sie vorher auch beim Namen genannt hat. Sie kann sich nicht erinnern, sich vorgestellt zu haben, aber vielleicht hat Felix im Flugzeug erzählt, wie sie heißen. Sie schüttelt den Gedanken ab, das ist jetzt unwichtig, schnell läuft sie auf Maike zu, um zurück zum Haus zu eilen.
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