I

Energisch zog Vespasian seine Tunika über den Kopf und ließ sie achtlos zu Boden fallen. Am nächsten Morgen würde sich einer seiner Sklaven darum kümmern. Aber jetzt wollte er nur noch schlafen, damit dieser verrückte Tag endlich ein Ende finden würde. Kaum hatte sein Kopf das weiche Kissen berührt, schlossen sich seine Lider und er sank in Somnus' feste Umarmung.

In seinem Traum war Vespasian ein Geist. Vielleicht war er auch ein Teil der Luft, denn als er sich nach allen Seiten umschauen wollte, hatte er keinerlei Kontrolle.
Vor ihm saß ein zweiter Vespasian auf einer Picknickdecke im Sand und starrte mit ernster Miene auf das Meer hinaus. Neben dem anderen Vespasian hockte Aurelia. In ihren Händen hielt sie ein Schriftstück, welches sie mit zusammengekniffenen Augen aufmerksam las. Langsam ließ sie den Brief sinken, dann drehte sie ihren hübschen Kopf dem anderen Vespasian zu.
„Was hat das zu bedeuten?", verlangte sie verwirrt zu erfahren und Vespasian wollte ihr schon antworten. Aber in seinem Traum hatte er keine Stimme und so antwortete sein Doppelgänger für ihn. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, verkündete der andere Vespasian wenig erfreut: „Unsere Väter haben beschlosssen, dass wir heiraten werden. Der Vertrag ist bereits unterzeichnet."
Fassungslos starrte er das Paar auf der Picknickdecke an und versuchte diese Information zu verarbeiten. Aurelia hatte sich doch gerade erst mit Gaius verlobt. Wieso träumte er nun davon, dass sein Onkel und sein Vater ihr diese Entscheidung abnahmen?
Aufgebracht sprang die junge Frau auf und lief vor dem anderen Vespasian auf und ab, während aus ihrem Mund ein solcher Schwall an wirren Gedanken strömte, dass es einem Wasserfall glich. Am liebsten hätte er seinen Doppelgänger angeschrien, aber der Mann vor ihm blickte nur schicksalsergeben auf das blau glitzernde Meer hinaus, anstatt mit ihr eine Lösung zu finden. Es war offensichtlich, dass sie ihn nicht heiraten wollte. Warum tat er nichts? Doch dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitz. Sein Vater hatte diese Hochzeit ausgehandelt und als Sohn musste sich Vespasian dessen Willen beugen. Mit seiner Unterschrift hatte Titus Flavius Sabinus das Schicksal seines Jüngsten besiegelt so wie Vespasius Aurelias mit der seinen. In diesem Traum waren sie Gefangene ihrer eigenen Familie.
„Ich werde versuchen dich zu lieben", sagte der andere Vespasian, woraufhin Aurelia wie erstarrt stehen blieb und ihn mit großen Augen anblickte. Langsam wandte der andere Vespasian seinen Blick vom Meer ab und sah sie direkt an. Mit zwei großen Schritten war Aurelia bei ihm und ließ sich vor ihm auf die Knie sinken, sodass sie sich auf Augenhöhe begegneten. Ihre Gesichter waren nur wenige Zentimeter entfernt.
„Was ist mit Caenis?", fragte sie ihn und die Verzweiflung in ihrer Stimme schien den anderen Vespasian nicht zu berühren, der viel zu sehr in seiner eigenen Welt gefangen war, um sie richtig wahrzunehmen. Am liebsten hätte er seinen Doppelgänger geschüttelt. Doch er konnte nur stumm und unsichtbar zuschauen.
„Dir geht es doch gar nicht um Caenis und mich, sondern um Gaius und dich", hielt ihr der andere Vespasian leise vor. Betroffen schnappte Aurelia nach Luft und wich vor ihm zurück, während er kurz davor war seinen Doppelgänger für seine Grobheit zu schlagen. Der andere fuhr unbeirrt fort: „Dieser Ehevertrag verhindert nicht, dass ich mich weiterhin mit ihr treffe. Aber er vernichtet vorerst jegliche Chance auf eine Zukunft mit ihm für dich. Das weißt du genau. Du glaubst, dass du keine Wahl hast. Aber das stimmt nicht. Du kannst dich entscheiden, ob du lieber ein gefährliches Leben ohne den Segen deiner Familie mit ihm oder für ein sicheres und gutes mit mir und dem Segen unserer Väter führen willst. Es sind viele Wochen ohne ein Wort von ihm vergangen. Woher willst du wissen, dass er nicht schon längst eine andere hat, die ihm das Bett wärmt? Denkst du wirklich, er wartet geduldig auf deine Rückkehr, damit ihr gemeinsam glücklich werden könnt, sobald du dafür bereit bist? Wenn er dich wirklich lieben würde, dann würde er um dich kämpfen."
„So wie du um Caenis kämpfst?", entgegnete Aurelia bitter. Doch in ihren Augen glitzerten Tränen. Dieser unsensible Bauer hatte sie mit seinen gemeinen Worten zutiefst verletzt. Vespasian hätte so gern eingegriffen und ihr versichert, dass sie die Liebe seines Freundes nicht verloren hatte. Aber das konnte er nicht. Hilflos sah er zu, wie Aurelia tief Luft holte und gegen ihre Gefühle ankämpfte.
„Ich werde versuchen dich zu lieben", wiederholte der andere Vespasian matt, so als würde er die Worte irgendwann selbst glauben, wenn er sie sich nur lang genug einredete. Dann fuhr er fort: „Ich werde einen Weg finden dich glücklich zu machen. Aber vor allem wirst du bei mir sicher sein. Im Moment bin ich nur eines von vielen neuen Gesichtern, die im Senat sitzen. Aber mit dir an meiner Seite werde ich es bis zum Konsul bringen. Es wird uns gut gehen."
Aurelias Erwiderung verhallte im Nichts. Schlagartig wechselte die Szene und Vespasian brauchte einen Herzschlag, um die Umgebung wiederzuerkennen. Leise Musik drang an sein Ohr. Einige Öllampen erhellten die herrlichen Fresken des Raums. Er war im Triclinium seiner Patronin Antonia. Zwischen dem anderen Vespasian und seinem Onkel lag Aurelia. Es war ihr deutlich anzusehen, wie unangenehm ihr die Situation war. Stur blickte sie auf den Boden oder nippte an ihrem Weinkelch, während sein Doppelgänger Caenis schmachtende Blicke zuwarf. Wollte er seine Verlobte provozieren oder hatte sie eine Möglichkeit gefunden die Verlobung aufzuheben?
„Findest du nicht auch, dass sie ein reizendes Paar abgeben, Gaius?", tönte die Stimme seiner Patronin und Aurelia schrak getroffen zusammen. Sie musste sich auf die Lippe beißen, um nicht zu protestieren.
„Deine Fähigkeiten als Heiratsvermittlerin sind beängstigend", meinte eine männliche Stimme. Aller Scherz in seinem Ton konnte Vespasian nicht über den Schmerz hinwegtäuschen, den diese Worte begleiteten. Energisch riss er sich vom Anblick Aurelias los und entdeckte seinen Freund, der sie wehmütig anstarrte, als würde er nur auf ein Zeichen von ihr warten. Gaius hatte noch nie so verletzlich ausgesehen. Allgemein hatte man ihm seine Gefühle noch nie so deutlich angesehen wie in diesem Augenblick. Alles in ihm schien in tiefem Aufruhr zu sein. Einfach alles an dieser Situation war absolut falsch und verdreht. Am liebsten hätte Vespasian Aurelias Kinn angehoben und sie gezwungen den Princeps anzuschauen, damit sie sich an die eine Person im Raum wandte, die ihr helfen wollte und konnte. Aber sie hatte sich wieder vollkommen in ihre eigene Welt zurückgezogen. Sein Doppelgänger warf seiner Verlobten einen flüchtigen Blick zu, wie als wollte er sich vergewissern, dass sie nichts Dummes tat, ehe er Caenis wieder mit den Augen auszuziehen begann. Sah Vespasian wirklich so aus, wenn er seine Geliebte musterte und sein Verlangen nach ihr in ihm hochstieg? Er hatte immer gedacht, dass er sie diskret begehrte und liebte. Aber als er das schamlose Verhalten seines Doppelgängers beobachtete, wäre er am liebsten vor Scham im Erdboden verschwunden.
Doch dann wurde Vespasian stutzig. Bis eben hatte er angenommen, dass sein Vater und sein Onkel diese Verlobung arrangiert hätten. Aber die Worte seines Freundes machten deutlich, dass seine Patronin Antonia ihre Finger im Spiel gehabt hatte. Wieso sollte sie so etwas tun? Sie wusste doch ganz genau, was er für ihre Sekretärin empfand? Da verstand Vespasian, weshalb sein Alter Ego sich nicht im Zaum hielt. Seine Affäre wurde auch weiterhin von der Besitzerin des Objekts seiner Begierde gebilligt und Aurelia war nur eine Frau, die sich zu fügen und nicht zu beklagen hatte. Durch die Verlobung und die darauf resultierende Ehe würde Vespasian alles gewinnen und nichts verlieren, während Aurelia für ihn auf sehr viele Dinge verzichten musste. Aber vor allem musste sie ihre Zukunft mit Gaius aufgeben. Was sie offensichtlich tat, obwohl sein Freund sie so offen begehrte, wie keine andere Frau vor ihr. Aber ein Gedanke beunruhigte ihn zutiefst: seine Förderin verdammte lieber ihren eigenen Enkelsohn zum Verzicht auf seine Liebe und die Erfüllung seiner Sehnsüchte als ihre Sekretärin. Entweder war Aurelia in Antonias Augen ihrem Enkel und der mit ihm verbundenen gesellschaftlichen Stellung nicht würdig oder sie hatte Angst die Kontrolle über ihren kleinen Princeps zu verlieren, wenn sie ihm gestattete eine Frau zu heiraten, die dieser offensichtlich aus ganzer Seele begehrte und die für seine Großmutter eine Fremde war.
„Wirst du deine Beziehung mit ihr beenden, wenn wir verheiratet sind?", wollte Aurelia von seinem Doppelgänger leise wissen. Doch dieser tat so, als hätte er sie nicht gehört. Obwohl sie so aussah, als würde sie ihn am liebsten vor all den Anwesenden zur Rede stellen, blieb sie stumm. Ihr Feuer schien immer mehr zu erlöschen. Über ihre Köpfe hinweg unterhielt sich sein Onkel mit seiner Patronin und dem Princeps. Die wachsende Verzweiflung seines Freundes nahm sie nicht wahr. Dafür hätte sie ihn anschauen müssen. Aber Vespasian ahnte, weshalb sie seinen Blick mied. Denn bei diesem Anblick würde sie in Tränen ausbrechen und all ihre Würde verlieren. Sie wollte vor ihrer Gastgeberin lieber unglücklich als schwach erscheinen.
Bevor Vespasian der Unterhaltung weiter folgen konnte, wechselte die Szene und er befand sich im Haus seines Onkels. Sein Doppelgänger verharrte unruhig neben seinem Vater und seinem Onkel, während der Ehevertrag verlesen wurde. Vor ihm stand seine Braut und Vespasian hätte Aurelia fast nicht wiedererkannt. Sie war wunderschön, aber sie wirkte unendlich traurig und verloren. Jede Faser ihres Körpers verriet, dass sie vollkommen fehl am Platz war und diese Heirat nicht wollte. Aber warum griff niemand ein? Wieso ergriff kein einziger der Anwesenden für sie Partei? War es in Rom wirklich so normal, dass Frauen in eine Ehe gezwungen wurden, dass sich die Gesellschaft an diesen herzzerreißenden Anblick gewöhnt hatte? Suchend blickte sich Vespasian unter den Gästen um und dort stand er. Wachsam verfolgte Gaius jede ihrer Regungen, doch auch er blieb stumm. Er wartete auf ihr Zeichen.
Plötzlich horchte Vespasian auf und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Brautpaar. Gerade wurde eine ungewöhnliche Klausel über Aurelias Mitgift verlesen. Aus dem Augenwinkel sah er, wie sich auf Gaius' Gesicht ein kleines, triumphierendes Lächeln ausbreitete, während sein Doppelgänger verwirrt von seiner Braut zu seinem Vater und wieder zurück blickte.
„Dies war eine Bedingung von Tiberius", wisperte Aurelias Stimme kraftlos. „Das Vermögen meiner Familie ist nach dem Tod meiner Eltern zwar zu Unrecht an den Staat gefallen, aber er wollte mir mein Erbe nur dann zurückerstatten, wenn es nicht an meinen Ehemann fallen kann."
„Großartig, also werde ich der arme Mann einer sehr reichen Frau sein", grummelte der andere Vespasian missmutig und wenn Vespasian in diesem Traum Hände gehabt hätte, so hätte er jetzt sein Gesicht in ihnen vergraben. Was für ein Bauer!
„Noch können wir diese Ehe verhindern, die du offensichtlich genauso wenig willst wie ich", erinnerte Aurelia ihn sanft und die Hoffnung in ihrer Stimme überhörte sein Doppelgänger geflissentlich. „Aber dafür müssen wir jetzt zusammen arbeiten. Vertrau mir, es ist noch nicht zu spät!"
Die Miene des anderen Vespasians verhärtete sich. Für einen Wimpernschlag huschte sein Blick über Aurelias Kopf zu Gaius und in diesem Augenblick traf sein böser Zwilling seine Entscheidung.
„Ich hatte nie die Möglichkeit diese Ehe zu verhindern", raunte der andere Vespasian, ohne die Lippen zu bewegen und Aurelia wäre wohl zu Boden gegangen, wenn sein Doppelgänger sie nicht so eisern festgehalten hätte. Verzweifelt versuchte Vespasian die beiden auseinanderzubringen oder wenigstens ihre Hände voneinander zu lösen. Aber er hätte ebenso gut versuchen können das ganze Gebäude zu stemmen. Doch anders als Atlas, der sogar den Himmel auf seinen Schultern zu tragen vermochte, war ihm dies im Wachen schon unmöglich. Vespasian öffnete den Mund und schrie, nur damit erneut kein Laut seiner Kehle entschlüpfte. Irgendwann gab er auf und fügte sich widerwillig in seine Rolle als stummer, unsichtbarer Betrachter.
Als die Braut die berühmten Worte verkünden sollte, um ihr Einverständnis zu geben und damit diese Heirat rechtsgültig zu machen, blieb sie stumm und schaute seinen Doppelgänger eindringlich durch ihren roten Schleier an. Streng und kalt hielt der Bräutigam ihrem Blick stand. Wie gern wäre Vespasian jetzt mehr als nur ein Geist ohne Körper und Stimme! Sofort hätte er sie aus dieser Situation gerettet.
Diskret trat seine Mutter näher an die Braut heran und flüsterte ihr leise die Floskel vor. Beharrlich schwieg Aurelia. Ohrenbetäubende Stille senkte sich über die Hochzeitsgesellschaft, während sie alle mit angehaltenen Atem auf die Stimme der Braut warteten. Einen Herzschlag zögerte seine Mutter, dann warf sie einen flüchtigen Blick auf das ernste Gesicht ihres Sohnes und ihre Züge spannten sich vor Entschlossenheit an. Laut und kräftig bekundete Vespasia: „Ubi Gaius ego Gaia!"
Einen Wimpernschlag geschah gar nichts, dann brachen seine Verwandten in lauten Jubel aus. Verwirrt starrte Aurelia ihren Bräutigam an und als sie den Mund öffnete, um zu protestieren, presste ihr Doppelgänger seinen Mund energisch und unnachgiebig auf ihren. Als er endlich von ihr abließ, prustete sie ihren gelben Brautschleier aus und holte zittrig nach Luft. Ihre Augen loderten vor Wut durch den dünnen Stoff. Doch ihr Protest verhallte ungehört im Jubel der Gäste. Suchend strich ihr Blick über die Menge und erst als sie den lustlos klatschenden Gaius entdeckte, brach sie lautlos in Tränen aus. Direkt neben ihm stand seine älteste Schwester Drusilla und musterte Aurelia mit gerunzelter Stirn. Sie klatschte nicht wie ihr Bruder noch zeigte sie irgendein Anzeichen dafür, dass sie sich über diese Eheschließung freute. Im Gegensatz zu den übrigen Anwesenden schien sie als Einzige zu zweifeln. Behutsam legte sie ihrem Bruder eine Hand auf den Arm und nickte Aurelia zu. Vor Erleichterung eine Verbündete in diesem Wahnsinn zu haben, versiegten ihre Tränen. Doch als die Braut sich ihrem Bräutigam zuwandte, musste sie feststellen, dass dieser die Szene mit zusammengekniffenen Augen verfolgt hatte. Gerade als sich Vespasian an Sabinus wenden wollte, in der Hoffnung, dass ihn wenigstens sein eigener Bruder sehen und hören konnte, verschwamm die Welt vor seinen Augen. Hoffnung stieg in ihm auf.
Aber er wurde noch nicht von diesem grässlichen Traum erlöst. Stattdessen stand er blinzelnd in einem kleinen Raum, der von einigen Öllampen spärlich beleuchtet waren. Das Licht war so schwach, dass er die Fresken an den Wänden kaum erkennen konnte.
„Das ist nicht richtig!", rief Aurelias Stimme und ein höhnisches Lachen antwortete ihr. Mit Entsetzen musste Vespasian feststellen, dass diese Laute aus der Kehle seines Doppelgängers drang, der gerade dabei war sich seiner Kleider zu entledigen.
„Ich habe mein Einverständnis nicht gegeben!", beharrte Aurelia standhaft. „Du bist nicht mein Ehemann. Also hör auf mit dem Unsinn und sag die Wahrheit!"
Erneut lachte der andere Vespasian, der sich mittlerweile splitterfasernackt vor seiner Braut bedrohlich aufbaute und fordernd die Hand nach ihr ausstreckte. Entschlossen wich Aurelia vor ihm zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die kalte Steinwand stieß.
„Die Wahrheit interessiert niemanden, sonst hätten unsere Gäste für dich Partei ergriffen und nicht den Bund unserer Ehe bejubelt", entgegnete sein böser Zwilling überraschend sanft. „Außerdem wird dein Wort gegen meines stehen und wer würde dir schon mehr glauben als mir? Selbst dein teurer Gaius hat keinen Finger gerührt. Glaubst du wirklich, dass er dich liebt, wenn er dich mir so kampflos überlässt?"
Getroffen blickte sie ihn an und wieder stiegen ihr Tränen in die Augen. Am liebsten hätte Vespasian sie in den Arm genommen und ihr versichert, dass Gaius jeden Augenblick durch diese Tür kommen und sie vor seinem bösen Zwilling retten würde. Aber seine innere Stimme sagte ihm, dass dies nicht passieren würde. Denn sein Freund war überzeugt, dass Aurelia ihre Liebe zu ihm aufgegeben und diese Ehe freiwillig eingegangen war. Solch eine Tragik hätte Plautus geliebt. Immer wieder musste sich Vespasian sagen, dass dies nur ein Traum war, aus dem er irgendwann aufwachen würde. Das war nicht real. Immerhin war er ein Geist und nicht in seinem eigenen Körper.
„Wieso ich? Du willst mich doch gar nicht. Was hast du mit mir vor?", wisperte sie unsicher und ihr Blick huschte flüchtig durch den Raum. Der andere Vespasian legte seine Hand auf ihre Wange und zwang sie ihm in die Augen zu schauen. Aurelia war noch nicht bereit sich geschlagen zu geben. Sein Alter Ego erkannte dies ebenfalls in ihrer Miene. Gerade als sie unter seinen Armen durchtauchen wollte, um ihrem Schicksal mit ihm zu entfliehen, packte er sie an der Taille und warf sie auf das schmale Bett. Mit seinem ganzen Gewicht drückte sein nackter Doppelgänger sie auf die Matratze. Gefangen und panisch blickte sie zu ihm auf. Heftig hob und senkte sich ihre Brust, als wäre sie einmal durch die Stadt gerannt. Mit aller Kraft versuchte sie sich gegen ihn zu wehren.
„Ich brauche eine standesgemäße Ehefrau, weil ich einen Erben brauche. Ich kann nichts dafür, dass die Wahl auf dich gefallen ist, weil es nicht meine war", gestand er. „Natürlich hat mich dein Erbe von Anfang an gereizt. Aber nur weil es nicht als deine Mitgift direkt an mich fallen kann, heißt das noch lange nicht, dass mein Sohn darauf verzichten muss. Ich werde ihm diese Chance auf Reichtum nicht nehmen. Außerdem bist du wirklich sehr schön. Das macht alles leichter."
Tränen liefen ihr über die Wangen und tropften auf das helle Kopfkissen. Doch ihr war klar, dass er sie niemals gehen lassen würde. Vielleicht glaubte sie auch wirklich, dass niemand ihr Wort über das ihres rechtswidrigen Mannes stellen würde. Mit einem Ruck zerriss sein Doppelgänger ihr Kleid und betrachtete wortlos seine Braut. Ihr Anblick erregte ihn zutiefst. Mit glänzenden Augen leckte sich der andere Vespasian über die Lippen und sagte dann: „Ich werde versuchen dir nicht wehzutun und mit der Zeit werden wir lernen einander zu lieben."
Aurelias Protest erstickte er erneut in einem Kuss. Schweren Herzens schloss Vespasian die Augen, kehrte der Szene den Rücken zu und hielt sich mit aller Kraft die Ohren zu, um die Geräusche wenigstens ein bisschen zu dämpfen. Doch er hörte genug, um zu wissen, dass sein böser Zwilling keine Rücksicht auf seine Braut nahm und Aurelia sehr wohl Schmerzen litt. Womit hatte sie ihn nur erzürnt? Hatte sie etwas gesagt, das er nicht gehört hatte?
Als es still wurde und sich Vespasian sicher war, dass der Akt endlich vorbei war, drehte er sich langsam um und ihr Anblick versetzte ihm einen Stich. Zitternd hockte Aurelia am Kopfende des Bettes. Die Arme hatte sie schützend um sich geschlungen und mit weit aufgerissenen Augen beobachtete sie, wie sein Doppelgänger das weiße Bettlaken anstarrte.
„Ich hätte es wissen müssen", zischte sein böser Zwilling immer wieder und Vespasian verstand nun, weshalb der andere so wütend geworden war. Denn dort, wo als Beweis ihrer Unschuld ein Blutstropfen sein müsste, war nur makelloses Weiß.
„Nein, bitte, es ist nicht so, wie du denkst. Germanien ist anders als Rom. Dort war ich nichts wert und ich konnte mich vor ihnen ebenso wenig wehren wie heute..."
„Kein Wort mehr!", schrie der andere Vespasian so heftig, dass sie zusammenzuckte. Ungerührt tobte er weiter: „Ich habe genug von deinen Lügen! Du hast dich ihm hingegeben und ihr beide habt die Frechheit mir jedes Mal ins Gesicht zu lügen, wenn ich euch danach frage. Aber damit ist jetzt Schluss! Du gehörst mir und er wird dich nie wieder haben!"
Ruckartig fuhr er herum, rannte zu einer Truhe und kramte in ihrem Inneren, bis er mit einem irren Grinsen auf dem Gesicht einen Dolch in den Händen hielt und zu seiner Braut zurückeilte. Verängstigt sah Aurelia zu ihm auf, doch er achtete nicht auf sie. Grob packte er ihren linken Knöchel und schnitt in ihre Fußsohle. Dann hielt er die Wunde über das Laken und sobald ein Tropfen ihres Blutes auf den Stoff fiel, zerrte er es unter ihrem Körper hervor und vom Bett herunter. Mit einem Arm zog er rasch eine Tunika über den Kopf, dann war er auch schon aus dem Zimmer hinaus. Weinend blickte Aurelia ihm nach.
Obwohl Vespasian gern versucht hätte sie tröstend in den Arm zu nehmen, zwang ihn die unsichtbare Macht, welche die Szenen seiner Träume kontrollierte, seinem bösen Zwilling auf dem Schlafzimmer und zu der wartenden Hochzeitsgesellschaft zu folgen, die beim Anblick des Bräutigams mit dem fleckigen Bettlaken in lauten Jubel ausbrach. Mit zusammengebissenen Zähnen kam Gaius auf seinen Doppelgänger zu und schlug ihm zur Gratulation eine Spur zu fest auf die Schulter. Wortlos stapfte der andere Vespasian an seinem Freund vorbei, drückte seiner Mutter das Bettlaken in die Hand und nachdem er von den Gästen ausreichend gefeiert worden war, verschwand er unauffällig hinaus in die Nacht. Vespasian war in der Nähe seines Freundes geblieben, weil er die Gratulation der Gäste für diese scheußliche Tat seines Doppelgängers nicht ertragen hätte und ihn die geheimnisvolle Macht nicht dazu gezwungen hatte. Wer auch immer ihn diese Visionen geschickt hatte, gab ihm zumindest manchmal die Möglichkeit zu entscheiden, was er sehen wollte. So wie er die Szene im Schlafzimmer nicht komplett hatte mitansehen müssen.
Das Verschwinden des anderen Vespasians war Gaius' wachsamen Blick nicht entgangen. Mit gerunzelter Miene drehte er sich zu Drusilla, die nachdenklich mit einem vollen Weinkelch in ihrer Hand spielte.
„Bitte sieh nach ihr", flüsterte Gaius ihr flehend ins Ohr. Sacht schrak Drusilla zusammen und blickte ihrem Bruder forschend ins Gesicht. Dann nickte sie, drückte ihm ihren Kelch in die Hand und verschwand in der Menge. Gern wäre Vespasian ihr gefolgt, doch im nächsten Moment sah er, wie sein Doppelgänger, der noch immer nur mit der leichten Tunika bekleidet war, durch Caenis' Tür schlüpfte und seiner Geliebten einen sanften Kuss auf den Mund drückte. Gequält schloss Vespasian die Augen. Noch nicht einmal in der Hochzeitsnacht hatte er es geschafft seiner Frau treu zu sein.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top