Kapitel 77 ~ Bellum praeparari
Gesoriacum, Gallia Belgica, 20. April 41 n. Chr.
Mit einem Satz sprang Gaius von seinem Pferd und ignorierte die nervösen Blicke, die ihm die Tribunen zuwarfen. Sie sahen nur wenige Jahre jünger aus als er selbst. Aber im Gegensatz zu ihnen war er zwischen Soldaten, Tribunen und Legaten aufgewachsen, während sie auf Landgütern gespielt oder ihre Zeit in den Gärten ihrer reichen Freunde in Rom verbracht hatten. Im Gegensatz zu ihnen, die noch so unerfahren waren, konnte er sich nicht nur im Schlaf in einem römischen Militärlager zurechtfinden, sondern kannte auch alle Strategien und Winkelzüge, mit denen Siege errungen werden konnten. Jetzt befanden sie sich noch in einem dauerhaften Lager, aber bald würden sie diese Bequemlichkeiten aufgeben müssen.
Ernst reichte er die Zügel seines Pferdes dem Strator und stapfte in Richtung Praetorium davon, dort würde er in den nächsten Wochen bis zur Überfahrt wohnen. Schon bald würde er die Villa gegen ein Zelt tauschen und ehrlich gesagt freute er sich schon darauf. Suetonius und drei andere Prätorianer folgten ihm in angemessenem Abstand. Im ersten Augenblick wunderte er sich über den Respekt, den die Soldaten ihm entgegenbrachten, hatte er ihn sich doch bisher noch nicht verdienen können. Denn er war nicht mehr der kleine Junge, der in einer extra für ihn angefertigten Rüstung durch das Lager lief, als wäre es sein Spielplatz. Er war der Feldherr dieser Armee und er würde jedem einzelnen seiner Legionäre beweisen, dass er nicht nur der Sohn des großen Germanicus war. Bald würden sie ihn für seine eigenen Leistungen respektieren und nicht mehr nur für die seines Vaters. Ohne zu zögern öffnete Gaius die Tür des Praetoriums und verschwand im Inneren der Villa. Als er eintrat, erhob sich Hesiod und gab den Sklaven ein Zeichen seine Verpflegung vorzubereiten.
Natürlich würde Gaius am liebsten sofort seinen Stab zusammenrufen, aber er stank wie ein Barbar und sein Magen knurrte. Rasch aß er das Brot und den Käse, dann spülte er beides mit einem Becher Traubensaft herunter. Im Anschluss machte er sich auf den Weg in die Therme seiner Villa und ließ sich den Dreck der Reise entfernen.
„Wie steht es mit den Bauarbeiten des Leuchtturms?", verlangte er zu erfahren und musterte den Kommandanten des Kastells.
„Er wird in ungefähr zwei Monaten einsatzbereit sein, Princeps", erklärte der Mann nervös und Gaius nickte mit ernster Miene. In der vergangenen Stunde hatte er sich von den Mitgliedern seines Stabs über jede Kleinigkeit informieren lassen. Auf dem Tisch vor ihm lagen Landkarten, auf denen besonders der Oceanus Britannicus gut zu sehen war. Das geringe Wissen, welches sie über Britannien besaßen, stammte noch von Caesar und Aurelia hatte ihm immer wieder die verschiedenen Gründe aufgezählt, weshalb er sich auf die von ihr angefertigten Karten nicht verlassen konnte. Aber im Moment reichte das Wenige, was sie bereits wussten, für die weitere Planung vollkommen aus. Oberste Priorität war die Überquerung des Fretum Gallicum. Danach würde er auf Vericas Unterstützung zählen können. Verica war der Anführer der Atrebaten, zu denen Rom ein Amicitia-Verhältnis pflegte und Vericas Hilfegesuch aufgrund der Bedrohung seines Herrschaftsgebietes durch die Catuvellaunen legitimierte Gaius' gesamten Britannienfeldzug. Der Leuchtturm war nicht nur eine Garantie für ihre sichere Hinfahrt, sondern auch für die lebenswichtigen Getreidelieferungen und später für ihre Rückfahrt. Denn Gaius bezweifelte stark, dass sie auf der Insel genügend Vorräte für seine Legionen finden würde und er wollte auf alles vorbereitet sein. Eine hungernde Legion war eine unberechenbare Legion, die nicht nur schlechter kämpfte, sondern sich im schlimmsten Fall gegen ihre Befehlshaber stellen würde. Hunger macht böse hatte Aurelia mal leise gemurmelt. Sie hatte so recht.
„Gibt es Neuigkeiten von der Legio II Augusta?", fragte Gaius und die Stille ließ ihn von der Betrachtung seiner Landkarten aufblicken. Onkel Claudius schüttelte leicht den Kopf und Gaius unterdrückte ein Stöhnen. Sofort richtete er seine Aufmerksamkeit auf Sabinus und wollte von ihm wissen, ob er etwas von seinem Bruder gehört hätte. Sabinus schüttelte ebenfalls nur den Kopf. Nachdenklich rieb sich Gaius den Nacken. Drei Legionen waren zu wenig, um ganz Britannien zu befrieden.
„Sie wird sicher bald hier eintreffen", meinte Gaius und ignorierte den überraschten Blick seines Onkels. Onkel Claudius hatte aufgrund seiner körperlichen Beschwerden noch nie an einem Feldzug teilgenommen und Gaius wusste, dass Unpünktlichkeit und Unzuverlässigkeit in einer Schlacht die Vernichtung der ganzen Armee bedeuten konnte. Dennoch hielt er es für besser seine Legaten nicht schon anzuklagen, wenn sie sich nicht vor ihm verantworten konnten. Hoffentlich hatte Vespasian bei seiner Ankunft in Gesoriacum einen guten Grund für seine Unpünktlichkeit vorzuweisen. Sabinus' Miene blieb unbewegt. Entweder wusste er wirklich nichts oder er wollte es ihm nicht verraten. Leicht beunruhigt forderte Gaius den Anwesenden der beiden Flavius-Brüder auf über den Zustand seiner eigenen Legion zu berichten. Aber Gaius hörte Sabinus nur mit halbem Ohr zu. Immer wieder glitten seine Gedanken zu dem Bruder ab, der fehlte.
Vespasian traf mit seiner Legion aus Germanien einen Monat nach Gaius' eigener Ankunft ein und suchte als Erstes seinen Feldherren auf. Erleichtert blickte Gaius von seinem halbfertigen Brief an Aurelia auf und gab Hesiod zu verstehen, dass er Vespasian zu ihm bringen konnte. Hin und her gerissen betrachtete Gaius seinen Brief, legte ihn jedoch beiseite und setzte sich gerader auf seinem Stuhl auf. Sein Freund würde den Brief sowieso nicht lesen können, weil er mit Aurelia nicht die üblichen Codierungssysteme nutzte, sondern in dieser seltsamen Sprache kommunizierte, die sie Englisch nannte. In die Form, die sie beide für ihre privaten Briefe verwanden, würde sich die Sprache erst in einigen Jahrhunderten wandeln und ihm erschien diese Methode einer noch nicht gesprochenen und ebenfalls noch nicht existierenden Sprache effizienter als ein Verschlüsselungssystem, welches von seinen Zeitgenossen ohne große Anstrengungen geknackt werden konnte.
Als die Tür geöffnet wurde und sein Freund in voller Rüstung eintrat, erhob sich Gaius und beobachtete, wie Vespasian den Helm in geübter Manier unter seinen Arm klemmte und mit der anderen vor ihm salutierte. Lächelnd trat Gaius zu ihm und hielt ihn seinen Arm entgegen, den Vespasian grinsend ergriff.
„Es ist das erste Mal, dass ich dich in caligae sehe", zog Vespasian ihn auf und er antwortete mit einem wenig amüsierten Schnauben. Vespasian verstand sofort. In letzter Zeit hatte Gaius immer wieder beobachtet, wie er von allen Seiten gemustert wurde. Sein Ruf eilte ihm voraus und immer wieder hörte er seinen ungeliebten Spitznamen, Caligula, Soldatenstiefelchen, der Aurelia so aus der Fassung bringen konnte. Durch sie hatte er den Spitznamen noch mehr zu hassen begonnen und er hatte sich geschworen, dass er niemals Caligula sein werde. Als er einmal einen Legionär direkt dabei ertappt hatte, wie er ihn so nannte, ließ er den Soldaten öffentlich auspeitschen und drohte bei der Wiederholung eines solchen Vorfalls seinen Legionen mit Dezimation. Das hier war Krieg, kein Spiel und er brauchte den Respekt seiner Soldaten, nicht ihren Klatsch.
Ernst erkundigte er sich nach dem Grund für Vespasians verspätete Ankunft. Augenblicklich wich der Scherz aus den Augen seines Freundes.
„Ich hatte eine kleine Angelegenheit auf der anderen Seite des Rhenus zu erledigen, weshalb mich dein Befehl erst vor drei Wochen erreichte. So schnell ich konnte, habe ich meine Männer zusammengerufen und mich mit ihnen auf den Weg gemacht", berichtete Vespasian und hielt seinem prüfenden Blick stand. Gaius spürte, dass sein Freund einige Details ausließ und es missfiel ihm sehr. Wenn dieser Feldzug erfolgreich sein sollte, dann musste er seine Legaten vertrauen können. Vespasian war ihm immer ein guter Freund gewesen, nur deshalb würde er nicht weiter nachhaken – zumindest vorerst. Deshalb nickte Gaius, als wäre damit alles gesagt und lud Vespasian zum heutigen Abendessen ein.
Gedankenverloren stand Gaius auf der kleinen Plattform an der Spitze des von seinen Soldaten neu errichteten Leuchtturms und blickte hinaus auf das friedlich im Sonnenlicht glitzernde Wasser des Meeres. Am Horizont wirkte die mystische Insel bereits zum Greifen nah und dennoch fern. Nun, Mitte Juni, waren die letzten Vorbereitungen endlich abgeschlossen und die eigentliche Invasion Britanniens konnte beginnen. Mit feierlichem Gesichtsausdruck trat er an das Kohlebecken, streckte wortlos seine rechte Hand aus, in die Onkel Claudius sofort die Fackel legte. Mit großer Geste entzündete Gaius das Feuer und er spürte, wie eine Welle der Hoffnung über sein Heer schwappte. Dieser Leuchtturm war das Symbol ihrer sicheren Heimkehr. Sein Licht würde ihn sicher zu Aurelia zurückführen.
Am nächsten Tag rief Gaius mit zufriedener Miene seine Soldaten am Strand zusammen und nachdem er ihre Tüchtigkeit ausreichend gelobt hatte, begann er seine eigentliche Rede. Doch schon bald musste er feststellen, dass der beruhigende Effekt der Einweihung des Leuchtturmes verpufft war. Vor ihm standen Männer, die vor Angst um ihr Leben und den abergläubischen Geschichten über die Insel schlotterten. Fieberhafte überlegte Gaius, wie er sie zur Überfahrt überzeugen sollte, aber sein Kopf war wie leergefegt. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich an seiner vorgefertigten Rede entlang zu hangeln und das Beste zu hoffen.
Aus dem Augenwinkel registrierte er am Rande der vor ihm aufgereihten Legionen eine Bewegung, die direkt auf ihm zukam. Unbeirrt fuhr er in seiner Rede fort. Die Gestalt kam schräg vor ihm zum Stehen, sodass Gaius noch von allen Soldaten gesehen werden konnte.
„Soldaten, dies sind jene Signa, die vor 32 Jahren in den Tiefen Germaniens verloren worden sind!", rief Vespasian und rammte die beiden frisch polierten Feldzeichen neben sich in den Boden. Beharrlich fuhr er mit fester, klarer Stimme fort: „Es war niemand anderes als unser Princeps, der diese Symbole unserer stolzen Armeen von ihrem ungewollten Exil befreit hat und sie zurück in ihre Heimat gebracht hat. Die Ehre unserer Armee ist damit wiederhergestellt. Zeigen wir den Briten, was es bedeutet ein Römer zu sein!"
Das Heer brach in tosenden Applaus aus und schrie seine Zustimmung. Einen Augenblick genoss Gaius diesen kleinen Triumph und gab sich der Erleichterung hin es nicht länger mit meuternden Soldaten zu tu zu haben. Dann hob er die Hand und die Menge verstummte artig. Mit lauter Stimme dankte er seinem Heer für ihr Vertrauen und gab eine ganze Reihe an Befehlen aus.
Mit einem nachdenklichen Lächeln auf den Lippen beobachtete Gaius seine Gäste, die im Grunde alle seinem Stab angehörten. Obwohl sie es noch nicht wussten, würden diese Gelage, die nicht annähernd dem Standard gleichkamen, den er sich in Rom gönnen musste, bald ganz aufhören. Das Leben im Lager würde hart werden, vor allem für die weniger günstigen Seelen, die nicht als Offiziere hergekommen waren. Sobald sie das Meer überquert hätten, würde Gaius es nicht länger mit seinem Gewissen vereinbaren können etwas anderes zu sich zu nehmen als die Menschen, ohne die sein Feldzug von vornherein zum Scheitern verurteilt wäre. So gönnte er seinen Vertrauten den letzten Rest Luxus, bevor sie seine Art der Kriegsführung kennenlernen würden. Immerhin gab es keine Frauen oder Tänzerinnen, für deren Bemühungen er Interesse heucheln musste.
Gerade als Sabinus versuchte besonders ungezwungen über einen von Onkel Claudius' Witzen zu lachen, beugte sich Vespasian unauffälliger näher zu ihm herüber und flüsterte ihm leise ins Ohr: „Der Befehl kam von ihr, nicht wahr?"
Im ersten Moment wollte Gaius die Frage seines Freundes ignorieren und so tun, als hätte er diese nicht gehört. Aber als ihre Blicke sich kreuzten und er den Ernst in den Augen seines Freundes erblickte, konnte er sich nicht dazu durchringen. Natürlich war ihm sofort klar gewesen, dass Aurelia hinter Vespasians Aktion stecken musste. Nur war er bisher davon ausgegangen, dass Vespasian von Aurelias Plan zumindest teilweise gewusst haben musste.
„Sie ist wirklich eine bemerkenswerte Frau", murmelte Gaius mehr zu sich selbst und seinen Lippen verzogen sich zu einem stolzen Lächeln. Denn sie gehörte ihm allein. Vespasian nickte zustimmend, wich seinem Blick aus und nippte an seinem Weinkelch.
Sobald seine Gäste sich auf den Weg zu ihren Unterkünften begeben hatten, holte Gaius seinen Brief an Aurelia hervor, fügte lächelnd ein paar Worte hinzu, rollte den Brief zusammen, versiegelte ihn und reichte ihn an Hesiod, der sich um die weitere Zustellung kümmern würde. Gedankenverloren lehnte sich Gaius gegen den Fensterrahmen und starrte aufs Meer hinaus zu der geheimnisvollen Insel. Ohne seine Frau wäre er bereits gescheitert.
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