Kapitel 72 ~ Novationes
30. November 38 n. Chr.
Seit einer Stunde stand er sich die Beine in den Bauch und wartete darauf, dass die Auspizien endlich gelesen wurden, damit die Senatssitzung einberufen werden konnte. Aber die Auguren waren erst vor einer halben Stunde aufgetaucht und beugten sich nun mit wichtigtuerischen Mienen über die Innereien des Opfertieres. Ganz so als hätte ihre Meinung noch irgendein Gewicht. An Tagen wie diesen ertappte er sich bei der Frage, die Aurelia ihm vor gar nicht langer Zeit gestellt hatte: Warum hielten sie an diesen uralten Ritualen immer noch fest, wenn niemand mehr daran glaubte? Selbst jetzt hatte er noch immer keine Antwort darauf. Vielleicht hielten sie an diesen kleinen Ritualen fest, weil diese zu ihrer Kultur gehörten und es keinen wirklichen Grund gab sie abzuschaffen. Vielleicht hielten sie aus Bequemlichkeit daran fest, denn wenn sie einen der uralten Bräuche abschaffen würden, müssten sie ihre ganze Religion einer Generalüberholung unterziehen. Vielleicht hatte sein Vorfahr Augustus diese Rituale beibehalten, damit die Fassade der Republik gewahrt werden konnte. Vielleicht aber auch nur, damit Menschen wie Gaius Sallustius Crispus Passienus die Chance bekamen sich wichtig zu fühlen. Gaius mochte Passienus nicht sonderlich – möglicherweise weil er mit der Schwester von Agrippinas nichtsnutzigen Ehemann verheiratet war, möglicherweise weil Passienus ein aufgeblasener Wichtigtuer war, der es genoss, den Senat in der Kälte stehen zu lassen, indem er das Lesen der Auspizien unnötig in die Länge zog.
Ungeduldig knirschte Gaius mit den Zähnen und erntete einen mahnenden Stoß in die Rippen von Onkel Claudius, der neben ihm stand und sein Schlottern zu unterdrücken versuchte. Sofort setzte Gaius seine undurchdringliche Maske der höflichen Gelassenheit auf und versuchte seine Ungeduld zu zügeln. In seiner Position als Pontifex Maximus hätte er jederzeit das Lesen der Auspizien übernehmen können und er gab zu, dass er vor Passienus' Ankunft dies durchaus in Erwägung gezogen hatte. Aber heute war Passienus mit dieser Aufgabe betrautbund ihn jetzt noch abzulösen, käme einer öffentlichen Bloßstellung gleich und würde Gaius mehr Probleme bereiten als Passienus.
Schon vor Wochen hatte er mit Aurelias Hilfe für alle Ämter geeignete Kandidaten ausgewählt und die Statthalter der Provinzen hatte er vor ein paar Tagen gezogen. Dennoch war er an diesem Tag nervöser als gewöhnlich. Seit Monaten arbeitete er mit Aurelia im Verborgenen an diesem Plan und obwohl er während der unnötigen Wartezeit seine Rede immer wieder in Gedanken durchging, konnte er seine Unruhe nicht unterdrücken. Dies war die erste Eingabe, die ihm wirklich am Herzen lag. Was wenn sein Antrag im Senat scheiterte?
Endlich hob Passienus seinen Kopf und verkündete, dass die Vorzeichen günstig seien. Am liebsten hätte Gaius die Augen verdreht oder wenigstens den Wichtigtuer mit einem bösen Blick bedacht. Stattdessen stapfte er in bester Stimmung wortlos an Passienus vorbei und genoss die wohlige Wärme im Inneren des Tempels. Für November war es wirklich unerhört kalt.
Natürlich verstrich eine weitere Stunde mit höflichen Plaudereien und Warten, erst dann hatten endlich die meisten Senatoren ihre Plätze eingenommen und langsam kehrte Stille ein. Gelassen ließ Gaius seinen Blick über die Magistrate schweifen, dann erhob er sich mit ernster Miene und brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. Einen Wimpernschlag schwieg er und beobachtete zufrieden, wie die Spannung seines Publikums stieg. Die Meisten beugten sich interessiert nach vorn.
„Verehrten Senatoren, wir stehen im pulsierenden Herzen der Welt", begann Gaius ernst. „Rom ist das Zentrum der Künste, des Handels und der Politik – aber es ist nicht das Zentrum von Bildung und Wissen. Wie schon Tullius Cicero und viele andere große Männer treffend feststellten, befinden wir Römer uns seit Jahrhunderten im Wettstreit mit den Griechen und Ägyptern, die bereits vor uns nach Wissen strebten. Philosophia, die Liebe zur Weisheit, ist eines dieser Wörter, die wir von den Griechen übernommen haben. Mein göttlicher Vorfahr Augustus hat in seiner großen Weitsicht die erste öffentlich zugängliche Bibliothek Roms errichten lassen. Wir haben hier kluge Köpfe, die nach Wissen streben. Wir haben hier Orte, an denen jeder jederzeit das Wissen aller klugen Männer finden kann. Aber dennoch ist auch heute noch eine Studienreise nach Griechenland oder Alexandria nötig, damit ein Römer wahrlich vollkommen gebildet ist. Woher kommt dies? Was müssen wir tun, damit unsere Stadt zu der wird, die sie bestimmt ist zu seien – das Zentrum allen Strebens, Denkens und Seiens. Ist es also nicht unsere Pflicht, meine Herren, dafür Sorge zu tragen, dass die uns nachfolgenden Generationen hier in Rom genau den Ort vorfinden, an dem sie ihr Wissen erhalten? Alle Voraussetzungen sind bereits gelegt. Was Rom braucht, Senatoren, ist ein Universität, eine unabhängige Einrichtung, an der alle Künste unterrichtet werden"
In seiner Rede führte er alles auf, was Aurelia und er in den vergangenen Monaten diskutiert und geplant hatten. Er offenbarte das ganze Konzept, enthüllte die Vorzüge und nahm ihre möglichen Gegenargumente vorweg. Dabei spürte er ganz deutlich, wie sich die Skepsis seiner Zuhörer immer mehr in Zustimmung verwandelte. Am Ende seiner Rede fühlte er sich, als hätte er einen Marathon hinter sich, aber der donnernde Applaus der Senatoren brachte seinen Körper zum Beben und verlieh ihm neue Kräfte. Betont langsam nahm er wieder auf seinem kurulischen Stuhl Platz. Stumm beobachtete er, wie einer nach dem anderen aufsprangen und in einer eigenen Rede überschwenglich seine Zustimmung zum Ausdruck brachte. Jeder von ihnen wollte seine Konkurrenten im Ringen um die Gunst des Princeps ausstechen. Was für ein Theater.
Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie Onkel Claudius ihm leicht zunickte, bevor er sicher hob und den sprechenden Praetor durch seinen höheren Rang zum Schweigen brachte. Unauffällig lächelte Gaius in sich hinein, während er interessiert der Panegyrik seines Onkels lauschte. Auch wenn die Senatoren es noch nicht ahnten, so bildete die Universität nur den Anfang seiner Reformen. Schon bald würde er ihnen Stück für Stück seine anderen Vorhaben offenbaren. Die Zeit war nun gekommen Rom endgültig seinen Stempel aufzudrücken.
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