Kapitel 103 ~ Soror missa
Still und ruhig glitzerte der Golf von Neapel schwach im bleichen Licht des Mondes. Ein milder Sommerwind fuhr in die Baumkronen und brachte deren Blätter spielerisch zum Rascheln. Nachdenklich lehnte Gaius über der Brüstung des Balkons, welcher an sein Schlafzimmer grenzte und starrte auf einen Punkt etwas weiter westlich von hier. Eines dieser schwachen Lichter dort war die Villa seiner Schwester Agrippina, in die Aurelia sie verbannt hatte.
Mittlerweile hatte Gaius sich zusammengereimt, was Agrippina getan haben könnte, dass Aurelia eine solch drastische Entscheidung über sie gefällt hatte. Seit er wieder nach Rom zurückgekehrt war, erreichten ihn täglich fünf Briefe von Agrippina. Keinen einzigen hatte er geöffnet. Weshalb hätte er sie lesen sollen? Es war offensichtlich, dass sie mit ihm sprechen wollte. Sonst hätte sie schon längst aufgegeben.
Aber Gaius war nicht bereit sich Agrippina zu stellen. Er wollte ihre Ausreden nicht hören. Denn für ihn spielte es keine Rolle, was sie zu ihrer Verteidigung vorbringen könnte. Agrippina hatte bewusst mit dem Leben seiner Frau gespielt, damit das Leben seiner Tochter gar nicht erst begonnen hätte. Wie sollte er ihr das jemals verzeihen können? Wie sollte er ihr zuhören, wenn das unschuldige Lächeln seiner Tochter ihn im nächsten Augenblick nur wieder an ihren Verrat erinnern würde? Denn in seinen Augen hatte Agrippina nicht nur Aurelia verraten, sondern auch ihn, ihren großen Bruder, der ihr bisher alles durchgehen ließ. Aber sie hatte eine Grenze überschritten, über die Gaius weder verhandeln konnte noch wollte.
Das Knistern von Stoff riss ihn aus seinen düsteren Gedanken und ein Lächeln legte sich auf seine Lippen, als Aurelia mit offenem Haar neben ihn trat. Sofort begann der Wind sein neckendes Spiel mit ihrer goldenen Mähne. Fasziniert genoss er ihren Anblick.
„Vergangene Nacht hat sie versucht ihren Wächtern zu entwischen", berichtete Aurelia mit emotionsloser Stimme und ein Frösteln durchlief seinen Körper. Instinktiv schloss er die Distanz zwischen ihnen und nahm sie in seine Arme. Sofort sank ihr weicher Körper gegen ihn und ihr köstlicher Duft betörte seinen Geist. Trotz der milden Temperaturen zitterte sie in seinen Armen. Am liebsten hätte er ihr gesagt, dass sie darüber nicht sprechen müsste. Er wollte es nicht hören. Sacht legten sich ihre Hände auf seinen Arm und zogen ihn näher an sich. Federleicht berührten seine Lippen ihr seidiges, goldenes Haar. Nach einer Ewigkeit entspannte sie sich und er wisperte nachdenklich: „Wenn ich sie lange genug ignoriere, gibt sie auf"
Ein trockenes und freudloses Lachen entsprang ihrer Kehle und er konnte es ihr nicht verdenken. Selbst glaubte er auch nicht daran, dass seine Schwester aufgeben würde. Dazu war keiner von ihnen erzogen worden. Mit ruhiger, gefasster Stimme begann Aurelia ihm alles zu erzählen und bestätigte damit nur, was er bereits vermutet hatte. Dennoch verstärkte er unbewusst seinen Griff um sie, als sie ihm von dem Giftbecher erzählte. Es war so verdammt knapp gewesen. Kalter Zorn loderte in seinem Inneren.
Als sie auf die Briefe zu sprechen kam, die Clemens für sie öffnete und las, schloss Gaius die Augen und inhalierte panisch ihren beruhigenden Geruch. Augenblicklich verstummte Aurelia und zeichnete unsichtbare Muster auf seine Haut. Sofort ging es ihm besser, aber er verharrte noch eine Weile, bevor er seinen Griff um sie ein wenig lockerte.
Nachdenklich musterte er die kleinen Lichter am Horizont und fragte sich, weshalb sie nicht einfach nach Dianium gefahren waren. Die Insel war so abgeschieden, dass er sie ganz für sich haben konnte.
Nach einer Weile wandte Aurelia sich in seinen Armen und plötzlich war ihr Gesicht dem seinen so nahe, dass er sie einfach küssen musste. Lächelnd presste sie sich an ihn und ihre Finger wanderten sanft über seinen Körper. Als sie sich schwer atmend voneinander lösten, lehnte er seine Stirn an ihre und schloss die Augen.
„Glaubst du wirklich, dass sie jemals aufgeben wird?", raunte sie erschöpft, gab ihm einen raschen Kuss, drehte sich um und lief zurück ins Schlafzimmer. Frustriert huschte sein Blick zu den Lichtern am Horizont. Er wusste, was er zu tun hatte.
„Ich habe gehört, sie heißt Antonia", sagte eine Stimme hinter ihm, aber er drehte sich nicht zu ihr um. Stur hielt er seinen Blick auf sein kleines Mädchen gerichtet, das unter dem Kirschbaum mit großen Augen den Worten ihres Bruders lauschte. Aurelia war dagegen gewesen die Kinder an diesen Ort zu bringen. Aber Gaius hatte gewollt, dass seine Schwester sie ein einziges Mal sah. Damit sie endlich begriff, um was für einen Schatz sie ihn beinahe gebracht hätte.
Agrippinas Parfum drang in seine Nase und er schloss für einen Moment die Augen, um das Gefühl der aufkommenden Übelkeit zu bekämpfen. Sobald er eine Rose auch nur sah, schrien seine verdrängten Erinnerungen an Tiberius um seine Aufmerksamkeit. Seit wann nutze auch Agrippina Rosenwasser?
Ab und zu raschelte der Stoff von Agrippinas Kleid, weil sie die Falten nervös zurecht zupfte oder unruhig das Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte. Ansonsten herrschte in ihrem Arbeitszimmer absolute Stille. Dann brach es aus ihr heraus. Die ganze, scheinheilige Entschuldigungsrede, die sie seit Jahren an diesem Ort gefangen geübt hatte, damit sie ihm ihren Fall vortragen konnte. Wie lange sie wohl von diesem Moment geträumt hatte? Hätte sie ihn doch niemals hintergangen. Sie rechtfertigte sich, sie gewährte ihm vermeintliche Einblick in ihre verdorbene Seele, sie flehte sogar um Vergebung. Aber vor allem sprach sie wie immer nur von sich selbst.
„Und doch war es auch mein Kind. Von meinem Blut. Von unserem Blut, Agrippina", unterbrach Gaius ihre Rede spitz, bevor sie die Frechheit besaß, ihn um eine weitere Chance anzubetteln und rieb sich frustriert das Kinn. Dann fuhr er um einen sachlichen Ton bemüht fort: „Du warst bereit das Leben meiner Frau aufs Spiel zu setzen und sage jetzt ja nicht, du hättest das für Rom getan. Es wäre zu keinem neuen Bürgerkrieg gekommen, nur weil Aurelia... nicht mehr da gewesen wäre, um ihn zu verhindern. Wir hatten jedes einzelne, mögliche Szenario für die Zeit meiner Abwesenheit geplant. Nein, du hast es nur getan, weil du das Gefühl hattest die Kontrolle zu verlieren. Das war schon immer dein größter Fehler. Wenn du deinen Willen nicht bekommen hast, schlägst du um dich wie ein verwundetes Tier. Hast du nicht damals diese lächerliche Affäre mit Macro angefangen, um wieder Kontrolle über dein erbärmliches Leben zu erhalten, hm? Und nun sieh dich an. Du bist gefangen in deinem eigenen Zuhause, eingesperrt mit deinem Bastardsohn, der Dank deiner List und der Gutmütigkeit meiner Frau in dem Glauben lebt, sein Vater wäre ein langweiliger, harmloser Trinker gewesen. Einen Mann, den du auf dem Gewissen hast! Versuch erst gar nicht es zu leugnen, Agrippina, wir beide kennen die Wahrheit. Ebenso wie wir beide wissen, dass du ihr den Kelch nur aus der Hand geschlagen hast, weil dir klar geworden ist, dass sie dich und deinen Plan durchschaut hatte. Was du getan hast, war Schadensbegrenzung und es ist mir egal, was du mir sagen willst. Du hast das Vertrauen meiner Frau missbrauchst und indem du sie hintergangen hast, hast du mich verraten. Ich werde dir nie wieder vertrauen. Also denke jeden einzelnen Tag daran, während du hier eingesperrt bist wie die Verbrecherin, die du bist, dass der Verlust deiner Familie und deiner Freiheit allein dir zuzuschreiben ist. Ich hoffe, das war es wert"
„Bruder, bitte", flehte sie mit tränenerstickter Stimme. Aber es berührte ihn nicht.
„Du bist nicht mehr meine Schwester", erwiderte er kalt. „Schon seit Jahren nicht"
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top