10 Stunden zuvor
Es war Montag, der 4. Mai. Noch vor Arbeitsbeginn betritt Enrico das Büro von Dr. Anisch, Chefärztin der Psychiatrie in Köln. Er lehnte sich gespannt an eines ihrer vier gefüllten Bücherregale und wartete, bis sie mit Aurels Akte zurückkam.
"Diagnose Schizophrenie. Halluzinationen, Störungen des Affekts. Ursache, psychosoziale Strukturen im Jugendalter, übermäßiger Konsum von Cannabis, Ecstasy und Schmerzmitteln, besonders Codein. Behandlung durch regelmäßige Verhaltenstherapie und Medikamenten wie Clozapin und Antipsychotika. Tritt in regelmäßigen Schüben auf, die von starken Wahnvorstellungen und extremen Realität -, Gefühls - und Kontrollverlust geprägt sind, weswegen ihm der Führerschein bereits früh entzogen werden musste. Eine Einlieferung in die Psychiatrie ist aufgrund extremer Suizidgedanken, die durch die schizophrenen Schübe verursacht wurden, und Mord an Krankenschwester Lili Tolmar notwendig. Auf Wunsch des Patienten erfolgte die Einlieferung in die Psychiatrie Köln.", las Dr. Anisch aus der Akte vor. Sie zog ihre Lesebrille ab, wodurch ihre großen, grünen Augen zum Vorschein kamen und schaute Enrico eindrucksvoll an.
"Aurel ist einer der schwierigeren Fälle. Niederlagen oder tiefgreifende Veränderungen, die sich negativ auf ihn auswirken, kann er nicht verkraften und reagiert impulsiv. Er nimmt Gefühle anders war, verliert auch über seine eigenen die Kontrolle. Du kennst ihn doch, wie war das früher, in eurer Schulzeit ? Beziehungen zu Gleichaltrigen ?"
"Er hatte die Diagnose mit 17 Jahren bekommen. Er hatte auf der Klassenfahrt eine Stimme gehört, die ihn dazu aufforderte aus dem Fenster zu springen. Ich und ein paar Kumpels hielten ihn davon ab. Ansonsten genauso wie du es aus der Akte vorgelesen hast. Von seinem Beziehungen zu Frauen weiß ich nicht viel. Bei seiner Ex, mit der er am längsten zusammen war, war er der festen Überzeugung sie würde ihm fremdgehen, weil es manchmal nicht so lief wie er es gerne gehabt hätte. Außerdem habe sie öfter telefoniert und er hat in der Anruferliste Namen gelesen, die sie anscheinend nie angerufen hatte.", erläuterte er und überlegte einen kurzen Augenblick, um die vorhandenen Informationen zu verknüpfen. "Lili hatte er ja auch bei einem Telefonat "erwischt". Handys haben anscheinend in seinem bisherigen Beziehungen öfter eine Rolle gespielt.", stellte er beeindruckt fest und stemmte die Arme in die Hüften.
"Das ergibt Sinn. All seine bisherigen Beziehungen waren kein Erfolg. Seine Krankheit fraß ihn förmlich von Innen auf, sie beherrschte ihn und er ließ sich beherrschen.", bestätigte er.
"Die meisten Patienten kommen mit Schizophrenie schwer zurecht, obwohl sie behandelbar ist, stellt sie einen vor viele unzumutbaren Herausforderungen. Eben, weil sie vererbbar ist und man an ihr erst später erkrankt und nicht bereits ab der Geburt an. Doch genau deshalb kommt er zu uns, seine Lasten werden ihm endgültig genommen. Doch was er nicht weiß, ist, dass er sie sich selbst nehmen wird." erklärte Dr. Anisch und fuhr fort, "Es klingt vielleicht noch ein wenig zu weit hervorgegriffen, aber das Handy, das er auch mit Lili verbindet, begleitet ihn schon über seine Einlieferung hinaus. Es stellt sich als ein wichtiges Therapiemittel heraus. Aurels Krankheit lässt ihn Dinge sehen und fühlen, die er durch das Handy mit dem Unfall in Verbindung setzt. Somit leitet er eine Selbstheilung ein, ohne es bewusst zu wollen. Nur wenige psychische Krankheiten haben kleinere Vorteile. Ist jemand paranoid, wird es demjenigen nie passieren, dass er das Kleingedruckte nicht liest. Ist jemand zwangsneurotisch, wird er nie vergessen den Herd auszuschalten. Ist man psychopathisch umgibt einem ein mächtiges Gefühl von Selbstwertgefühl, Intelligenz, Überzeugungskraft und oberflächlichem Charme. Es ist eine selbstverständlich kritisierende Feststellung, aber eine Feststellung. Und warum sollte es nicht auch funktionieren, die Menschen sich selbst durch ihre Krankheit, wenn zu heilen. Wir müssten den Prozess nur einleiten."
"Mit einem Handy?"
"Genau."
"Interessant."
"Es war der Auslöser seiner Tat, die er aber schnellst möglich vergessen wollte. Er leidet außerdem unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, mit der man bekannterweise wie umgeht?"
"Mit einer seelischen und geistigen Stabilisierung, woran der Patient im Anschluss das Trauma überwindet, indem er sich dem Trauma nähert."
"Bei der Stabilisierung müssen wir uns keine Gedanken machen, das erledigst du bereits als eine wichtige Bezugsperson. Doch um das Trauma zu überwinden, stellt seine Krankheit eine wichtige Funktion dar. Du platzierst das Handy und wir werden feststellen, dass sich seine Seele durch eintretende Erkenntnis langsam, aber Gewiss regeneriert."
Enrico warf einen kurzen Blick auf die Uhr, die gegenüber an der Wand hing. "Dann mache ich mich mal auf den Weg.", sagte er entschlossen und nahm den Aufzug ins Erdgeschoss, von dort aus er sich zur Cafeteria begab, in der er sich in wenigen Minuten mit Aurel treffen würde.
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