Part 2: Selia

Kapitel 6

Das erste was ich sehe ist der Umriss zweier Gestalten, die mich freundlich lächelnd festhalten, als ich stolpere und beinahe hinfalle.
Direkt hinter mir kommt Atrius aus dem Nichts zum Vorschein, kein einziger Lichtstrahl ist zu sehen, nur eine kleine Luke, die in der Luft schwebt.
„Herzlich Willkommen.", grüßt der erste Wache mit den braunen Augen. Er trägt eine Art Rüstung, die jedoch stark vereinfacht und leichter aussieht.
„Wir haben dem König bescheid gegeben, er müsste gleich hier sein.", sagt der zweite. Auch er trägt diese Art Rüstung, nur ist seine rot, die des anderen jedoch grün.
Langsam bildet sich eine Menschenmenge um uns, wir befinden uns vor einem Tor, dahinter kann man einige Geschäfte erblicken.
Einige Leute zeigen mit dem Finger auf Atrius, andere auf mich, und sie flüstern sich gegenseitig irgendwelche Sachen zu.
Immer mehr Soldaten umrunden uns und die Menge der Menschen vergrößert sich weiter.
Manche von ihnen halten Flaggen in den Händen, diese sind weiß und haben eine große, goldene Sonne auf sich abgebildet.
„Aus dem Weg! Lassen Sie mich durch!", ruft auf einmal eine Männerstimme.
„Weg da!"
Ein recht kleiner Mann mit unordentlichen blonden Haaren und tiefen Augenringen kommt zum Vorschein.
Sobald er Atrius erblickt, bleibt er kurz ungläubig stehen, dann eilt er auf ihn zu und zieht ihn in eine feste Umarmung.
„Ich fasse es nicht. Als ich hörte, du seist anscheinend angekommen, wollte ich es tatsächlich nicht glauben. Aber hier stehst du. Unfassbar."
Auch Atrius scheint unglaublich froh, den Mann wiederzusehen.
„Etalon. Ich muss dir jemanden vorstellen."
„Ich wusste, du würdest sie finden. Hast dir ganz schön viel Zeit gelassen."
Atrius grinst.
„Das ist Lia, Meandras Tochter. Lia, das ist Etalon, ein sehr guter Freund von mir."
„Endlich lerne ich dich kennen. Du siehst deiner Mutter wirklich unheimlich ähnlich."
Er reicht mir die Hand und blickt mich prüfend aus seinen grauen Augen an.
Seine Augenbrauen hängen ihm tief über die Augen, seine Lippen sind trocken und schmal, sein Gesicht recht kantig und an der Stirn hat er einige Falten.
Seine Stimme klingt leicht rauchig und seine Gestalt etwas in sich gekehrt.
„Es freut mich sehr dich endlich kennenzulernen, Amelia."
„Woher kennen Sie-"
„Deine Kette."
Ich blicke ihn erstaunt an.
Anscheinend fällt ihm jedes Detail direkt auf.
„Freut mich auch."
Wir reichen uns die Hände.
„Du bist es wirklich. Deine Augen..."
Ich schlucke und sehe betreten weg. Ich weiß, dass mir noch einige Leute so ungläubig in die Augen schauen würden, doch es war jedes mal aufs neue komisch.
Mittlerweile befindet sich um uns drei eine riesige Horde an Menschen, die von Soldaten eingekreist wurde.
In dem Moment ertönt eine Trompete und zwei Ritter scheuchen die Menge auseinander, um Platz für eine große sonnengelbe Kutsche zu machen.
Die Leute werden still, sie warten darauf, dass die Tür geöffnet wird.
Auch ich schaue interessiert zur Kutsche, mittlerweile wird es immer dunkler, doch die ganze Stadt ist hell beleuchtet.
Die erste Person die aussteigt, ist eine recht junge Frau mit hochgesteckten braunen Haaren, und direkt hinter ihr ein ebenfalls junger Mann mit dunkelblonden, langen Haaren.
Sie lächeln in die Menge, beide mit braunen Augen, und kommen langsam auf uns zu.
„Atrius. Es ist schön dich wiederzusehen.", begrüßt die Frau ihn.
Sie trägt ein langes, recht einfaches, blaues Kleid, und ich schätze sie direkt als die Königin ein.
„Ganz meinerseits, Rina."
Er lächelt und küsste ihre Hand, eine für ihn so untypische Geste, dass ich automatisch wegschaue.
„Ist sie es wirklich?", fragt der Mann.
Atrius nickt.
„Lia, das sind König Harkan und Königin Rina von Selia."
„Freut mich sehr dich kennenzulernen, Lia."
Die Frau hält mir ihre Hand hin.
Unsicher ergreife ich sie und blicke ihr dabei in die rehbraunen Augen.
Ich murmele schnell ein: „Ebenfalls", dann schaue ich betreten weg.
Kontakt mit Erwachsenen war noch nie meine Stärke.
Das Murmeln der Menschenmenge fängt wieder an, während ich die Hand vom Mann schüttele.
„Du bist bestimmt müde.", schlussfolgert Atrius.
Ich nicke.
Irgendwie kam das alles jetzt ein bisschen schnell.
Gerade noch habe ich mich von meinen anscheinend nicht echten Eltern verabschiedet, dann laufe ich durch ein verdammtes Lichtportal, und im nächsten Moment habe ich für das erste mal in meinem Leben Körperkontakt mit königlichen Leuten.
„Komm mit, ich zeige dir dein Zimmer.", entscheidet Etalon und schiebt mich sanft von hinten in Richtung eines großen Gebäudes.
Es sieht aus wie ein Hotel, wie ein sehr teures Hotel.
Viel erkennen kann ich nicht, dafür fehlt das Tageslicht und meine Konzentration, die mit jedem Schritt ein wenig nachlässt.
Meine Tasche trägt Etalon, ich hatte sie komplett vergessen.
Er führt mich eine kleine Treppe hoch und einen langen Flur entlang, bis zu einer verschlossenen Tür, die er mit einem im Schloss steckenden Schlüssel aufschließt.
Er drückt mir diesen in die Hand, wünscht mir noch eine gute Nacht, und lässt mich dann alleine.
Ich stehe mindestens noch zehn Minuten einfach rum, unfähig irgendetwas zu tun.
Meine Gedanken kreisen die ganze Zeit um meine Eltern, Selia und meine Augen.
Weitere zehn brauche ich, um mein riesiges Zimmer zu besichtigen und mich bettfertig zu machen.
Ich schaue absichtlich nicht auf die Uhr, wahrscheinlich ist es noch nicht einmal so spät, doch diese Routine würde mich an London erinnern, und das ist das letzte, was ich momentan gebrauchen kann.
Das Bett riecht fremd, fühlt sich fremd an und sieht fremd aus.
Aber das ist es ja auch.
Alles hier ist fremd, mein ganzes Leben momentan scheint wie von einer mir fremden Person.

Als ich aufwache, ist es viel heller als normalerweise, und schnell schaue ich auf meine Uhr.
Es ist auch viel später als sonst.
Und dann rasseln alle Ereignisse auf mich ein, der ganze gestrige Tag spielt sich in rasender Geschwindigkeit vor meinem inneren Auge ab.
Ich weiß nicht was ich denken oder machen soll, also bleibe ich liegen und höre meinem Herzschlag dabei zu, wie er sich verlangsamt.
Es ist kurz nach elf Uhr, so lange schlafe ich eigentlich nie.
Anscheinend habe ich den Schlaf gebraucht.
Heute ist Sonntag, der 2 November, und morgen hätte ich eigentlich wieder Schule.
Was werden nur alle denken, wenn ich ganz auf einmal nicht mehr da bin? Und dann auch noch nach dem Feuer?
Plötzlich stockt mir der Atem.
Könnte es sein, dass ich für dieses riesige Feuer verantwortlich war?
Ich erinnere mich an mein ungewolltes Schnipsen und an meinen komischen Zusammenbruch.
Sobald ich Atrius sehe, muss ich ihn danach fragen.
Langsam werde ich wach und stemme mich aus dem riesigen Bett.
Mein Zimmer ist wunderschön eingerichtet, alles sieht unfassbar teuer und edel aus.
Und es ist viel zu groß.
Ich angele irgendwelche Klamotten aus meiner Tasche und bürste mir schnell meine Haare, dann trete ich auch schon aus der Tür.
Im Flur bleibe ich jedoch stehen, weil sich direkt mir gegenüber ein riesiger Spiegel befindet.
Ich sehe müde aus, trotz meines langen Schlafs.
Meine Hose und mein T-Shirt sind wegen des schnellen Packens und der Reise zerknittert, doch das ist mir herzlich egal.
Ich muss nachher unbedingt duschen, meine Haare kleben mir unangenehm am Kopf.
Ich löse meinen Blick vom Spiegel und suche mit meinen Augen die Wände nach irgendwelchen Orientierungshilfen ab, weil ich keine Ahnung habe, wie ich mich in diesem endlosen Gang zurecht finden soll.
Seufzend überlege ich, in welche Richtung ich jetzt am besten gehe, als mich eine unbekannte Stimme aus meinen Überlegungen reißt.
„Bist du Lia?", fragt sie.
Ich drehe mich um und blicke direkt in warme braune Augen.
Anscheinend war ich so auf mein Spiegelbild konzentriert, dass ich niemanden habe kommen hören.
Vor mir steht ein recht kleines Mädchen, welches ich aber trotzdem auf mein Alter schätze.
Ihre langen dunkelbraunen Haare fallen ihr glatt und seidig über die schmalen Schultern.
Sie lächelt mich warm an, und die Art, wie sie ihre vollen Lippen rechts hoch zieht, sieht so natürlich und echt aus, dass sie mir sofort sympathisch vorkommt.
Ihre Augen stechen stark aus ihrem schmalen Gesicht heraus, weil sie so groß sind und von dichten schwarzen Wimpern umrundet werden.
Auch der hoch geschwungene Bogen ihrer dunklen Augenbrauen betonen die Form.
Ihre Nase ist spitz, mit ein paar Sommersprossen, und ihre Wangen genauso rosig wie ihre Lippen.
Sie ist wirklich hübsch, dass erkenne ich sofort.
Mir fällt auf, dass ich ihr noch gar nicht geantwortet habe und nicke schnell.
„Freut mich dich kennenzulernen. Ich bin May.", sagt das Mädchen und hält mir ihre Hand hin.
Ohne zu zögern ergreife und schüttel ich diese.
„Bist du verloren?", fragt May grinsend.
„Ziemlich. Könntest du mir zeigen, wo ich hinmuss?"
„Klar! Du hast wirklich lange geschlafen, hoffentlich ist noch Frühstück für dich übrig, und wenn nicht, dann brauchst du nur deinen Namen zu nennen und alle Küchenhilfen werden dir gleichzeitig eins machen."
„Wie meinst du das?"
„Wir warten schon jahrelang auf Atrius und dich, einige hatten schon die Hoffnung verloren.
Du magst es zwar noch nicht wissen, aber du bist hier eine echte Berühmtheit.
Alle haben Respekt vor dir.", erklärt May.
„Ich habe doch keine Ahnung von Magie, wieso machen alle so einen Trubel um mich?"
„Klingt jetzt doof, aber deine Herkunft ist allen klar und macht dich in dieser Welt auch aus.
Meandra und Miron sind beide sehr mächtig, und du mit deinen beiden Augenfarben machst das alles noch komplett."
„Wieso ist diese ganze Sache mit meinen Augen überhaupt so wichtig?", frage ich.
May lächelt.
„Das erklärt Atrius dir."
Ich nicke und folge ihr eine Treppe runter.
Langsam sind Stimmen zu hören, und je näher wir einer riesigen Tür am Ende des Flures kommen, desto lauter werden sie.
May stößt die Tür auf und gibt mir somit den Blick auf einen riesigen Raum frei.
Überall stehen Tische, einige Leute sind noch da und an einer Seite steht ein Büffet.
Fast alle Blicke schellen zu uns, als ich May zu einem freien Tisch folge.
Ich versuche mich hinter meinen Haaren zu verstecken, und das langsam entstehende Gemurmel macht alles noch viel schlimmer.
Außerdem schnappe ich mindestens zehn Mal den Namen "Meandra" auf, was mich irgendwie aufregt.
Ich möchte nicht immer direkt mit ihr in Verbindung gebracht werden.
Für mich ist sie eine Fremde, nichts weiter, und meine Adoptiveltern in London die einzigen Eltern, die ich besitze.
Zum Glück ist noch Essen da, doch weil May schon etwas hatte, nehme nur ich mir etwas von den unheimlich gut riechenden Tellern auf dem Büffet.
In den nächsten fünfzehn Minuten erfahre ich alles über May, was man für eine einigermaßen gute Freundschaft wissen muss.
Sie ist fünfzehn Jahre alt, liebt es zu malen und hat früher mal Geige gespielt.
Sie ist ruhig, hält sich meistens aus nervigen Streitereien raus und würde sich selbst nicht als eine mutige Person beschreiben.
Sie war noch nie in einer Schule, ihr Leben lang hat sie zuhause Unterricht bekommen.
„Wieso?", frage ich.
May seufzt.
„Meine Eltern sind...Genauso wie deine keine gewöhnlichen Menschen."
„Bist du etwa auch ein Ringträgerkind?", frage ich erstaunt.
Dann wäre sie...Meine Cousine.
Das klingt so komisch, dass ich nicht weiß, welche Antwort ich mir wünschen soll.
„Nein,", sagt sie,„meine Eltern sind Rina und Harkan, die Königin und der König von Selia."
Ich verschlucke mich fast an meinem Essen.
Ich wusste nicht, dass es eine Prinzessin von Selia gibt.
Nie im Leben hätte ich gedacht, jemals Körperkontakt mit jemandem aus einer königlichen Familie zu haben, diese Tatsache hat sich jedoch schon gestern erfüllt.
Aber an einem Tisch zu sitzen und fröhlich mit einer echten Prinzessin zu plaudern, das hätte ich mir nie erträumt.
May lächelt mich unsicher an, und ich versuche, meine Überraschung durch einen äußerst schlecht gespielten Hustenanfall zu verdecken.
„Tut mir leid." Ich räuspere mich.
„Das...Hatte ich nicht erwartet."
„Wie dem auch sei. Und was machst du gerne?"
So dankbar ich ihr wegen des Themenwechsels auch bin, den Gedanken an ihre Herkunft kann ich nicht verbannen, als ich ihr von meiner Leidenschaft fürs Turnen erzähle.
Nach einer Weile geht es wieder, was nur an Mays überfreundlichem Charakter liegt.
Irgendetwas an ihr lässt einen runterkommen, sorgt dafür, dass man ihr Dinge erzählen, und Dinge von ihr wissen will.
Weitere fünfzehn Minuten sitzen wir an unserem Tisch, die Leute vollkommen ausgeblendet und erzählen uns die banalsten Dinge voneinander.
Nach dieser kurzen Zeit habe ich schon das Gefühl, sie fast so gut zu kennen, wie ich Hazel kenne.
Der Gedanke an meine beste Freundin versetzt mir ein Stich, doch May lässt ihn mich schnell vergessen.
„Lia, da bist du ja!", ruft mich auf einmal jemand.
Ich drehe mich um und erblicke Atrius, der lächelnd auf unseren Tisch zukommt.
„May. Schön dich wiederzusehen.", sagt er.
„Ebenfalls.", antwortet diese und grinst ihm zu.
„Ich muss dir leider Lia entführen, aber ihr seht euch heute Nachmittag bestimmt wieder.", meint Atrius und nickt in Richtung des Ausgangs.
Ich stehe auf, verabschiede mich von May und folge Atrius aus dem Saal.
„Geh dir schnell eine Jacke holen und triff mich dann draußen vor der Tür, wir müssen noch über ein paar Dinge sprechen.", sagt er und lächelt mir noch einmal kurz zu, bevor er mit geradem Rücken und wehendem Mantel in Richtung der Ausgangstür läuft.
Ich beeile mich, nach oben zu kommen, versuche dabei mich nicht zu verirren, und schließe dann schnell meine Tür auf.
Auch in Selia ist es Herbst, weshalb ich nach einem Schal und einer dicken Jacke greife.
Ich putze mir eilig die Zähne und ziehe dann die Kleidung über.
Ohne auf Ordnung zu achten, schließe ich einfach hinter mir die Tür und versuche dann, möglichst schnell und ohne auszurutschen die Treppe runter zu kommen.
Atrius steht alleine vor der großen Tür, als ich dann endlich nach draußen trete.
Er dreht sich um, erblickt mich und macht mir dann ein Zeichen, ihm zu folgen.
Stirnrunzelnd laufe ich ihm hinterher, bis wir an einem Brunnen mit lauter eingeritzten Zeichnungen stehen bleiben.
Wir sind an einem kleinen Platz, niemand außer uns ist hier.
„Du musst Fragen haben.", meint Atrius.
Ich nicke.
„Wo habe ich übernachtet?", frage ich als erstes.
Er lächelt.
„Das schickste Hotel in Selia, alle wichtigen Besucher übernachten dort, und es ist der Versammlungsort der Ringträgerkinder.
Auch der König und die Königin leben momentan da.
Aber ich meinte eigentlich nicht solche Fragen. Etwas...Was mit dir zu tun hat, über dein momentanes Leben."
Ich überlege.
„Naja...Sollte ich welche haben?"
Ich schaue ihn fragend an.
Atrius zuckt mit den Schultern.
„Wunderst du dich nicht, wieso du so viele neidische Blicke bekommst?"
„Wieso sind meine Augen so...Wertvoll?", frage ich schließlich.
Atrius schließt kurz seine Augen.
„Es gab schon vor Urzeiten eine Prophezeihung, die sich auf die Augenfarben bezog.
"Feuer besiegt Erde,
Erde besiegt Luft,
Luft besiegt Wasser,
Und Wasser besiegt Feuer"",rezitiert er.
„Es ist ein Fakt."
„Heißt das, Menschen mit der Feuermagie besiegen in einem Kampf die mit Luftmagie, die mit Luftmagie die mit Wassermagie und so weiter?"
Atrius nickt.
„Natürlich wird durch einen Feuerball nicht nur jemand mit braunen Augen verletzt, sondern auch jeder andere, der keine grünen Augen hat. Allerdings können sich dann nur diejenigen mit blauen und grünen Augen wehren.
Weißt du noch, als du das erste Mal mit zu mir nachhause gekommen bist, habe ich dir mal erzählt, dass es verboten ist, dass zwei Zauberer mit unterschiedlichen Augenfarben ein Kind bekommen. Erinnerst du dich?"
Ich nicke.
„Genau aus diesem Grund.
Ein Zauberer mit zwei verschiedenen Augenfarben wäre viel zu mächtig.
Es ist nämlich so, dass eine Magie nur durch das Element, dass sie verletzt, gerettet werden kann.
Das bedeutet, dass jemand mit Wassermagie, der von jemandem mit Luftmagie angegriffen wird, von jemand anderem mit Luftmagie gerettet werden kann.
Jemand mit der selben Magie wie der Angreifer kann dessen Magie blockieren.
Du kannst also entscheiden, ob deine Magie rettet oder verletzt.
Verstanden?"
Ich nicke langsam.
„Bei deinem Fall ist es genau so.
Sollte jemand mit Wassermagie versuchen, deine Feuermagie zu verletzen, kannst du den Angriff mit deiner eigenen Wassermagie abwehren.
Deine Wassermagie ist zwar immer noch verletzlich, doch schon alleine deine Fähigkeit, mit zwei Kräften angreifen zu können und dabei nur eine verletzliche zu besitzen, ist unfassbar."
„Aber...Wieso gibt es dann nicht viel mehr Leute wie mich? Ich meine, nur weil es verboten ist? Nicht jeder lässt sich davon abhalten. Mir ist ja auch nichts passiert. "
Atrius lacht leise auf.
„Das liegt daran, dass Meandra deine Mutter ist. Sie konnte dich immer vor der Organisation, die sich um solche Fälle kümmert, beschützen.
Normalerweise müsstest du schon längst tot sein, doch deine Rolle ist jetzt einfach zu wichtig."
Ich schlucke.
„Und wieso hast du keine zwei Augenfarben?", frage ich.
„Nicht immer ist es der Fall, dass das Kind dann beide Augenfarben erbt. Auch wenn er erst mit sechzehn seine Magie bekommen hat, hat James Augenfarbe sich wohl durchgesetzt, und nicht das Grün meiner Mutter. Bei dir ist es fast genauso, dein Grün ist auch viel stärker als dein Blau. Nur ein winziger Tupfer, und doch genügt er, um dich mächtiger zu machen, als dir bewusst ist. "
„Und wieso habe ich dann erst mit sechzehn meine zwei Augenfarben bekommen?"
„Ich schätze, Meandra hat irgendeinen Zauber benutzt, um deine Magie bis zu deinem sechzehnten Geburtstag unsichtbar zu machen. Wie gesagt, Magie kann ein erfahrener Zauberer spüren.
Doch ab sechzehn Jahren ist kein Zauber mehr stark genug, um die immer mächtiger werdende Kraft des Kindes zu verbergen.
Wer weiß, vielleicht war es bei James genauso, er hat seine Macht ja auch erst ab sechzehn Jahren weiterentwickeln können."
Ich nicke langsam.
„Was passiert denn, wenn jemand mit Feuermagie mich angreift?",frage ich.
„Verletzt kannst du nicht werden, aber du kannst durch Feuerseile gefesselt werden,zum Beispiel."
„Bin ich denn in Gefahr? Sobald das alles hier vorbei ist, werde ich dann wegen meinen Augen von der Organisation gejagt?"
Atrius lächelt.
„Sie würden dich umbringen wollen, und das würde ich nicht zulassen.
Also ja, du wirst in Gefahr sein, doch dir wird nichts passieren.
Mach dir erst darüber Gedanken, wenn das alles hier wirklich vorbei ist."

Nach meinem Gespräch mit Atrius habe ich mich dazu entschieden, ein wenig in Selia rumzulaufen.
Ich habe noch erfahren, dass die Zeichnungen in dem Brunnen alle die goldene Sonne, das Zeichen von Selia repräsentieren sollen.
Mittlerweile befinde ich mich auf einer großen Straße.
Es müsste jetzt ungefähr ein Uhr Nachmittags sein, und die Leute strömen herum wie Vögel im Schwarm.
Die Atmosphäre ist angenehm, alle scheinen entspannt und freundlich zu sein.
Ich bleibe lange in der Stadt, schaue mir alles genau an.
Atrius hatte Recht, Selia gefällt mir tatsächlich.
Nach einer Weile finde ich eine Telefonzelle und versuche direkt, Hazel anzurufen, doch sie geht nicht ran.
Meine Eltern jedoch heben direkt ab und fragen mich natürlich sofort nach meinem Praktikum.
Ich verwickele mich immer mehr in die Lüge, schwärme ihnen von Paris vor, und habe bei meinen Beschreibungen durchgängig Selia im Kopf.
Sie glauben mir, natürlich tun sie das.
Ich habe ihnen keinen Grund gegeben, es nicht zu tun.
Lügen war zwar noch nie eine meiner Stärken, aber der Wille, dass meinen Eltern nichts passiert, ist viel stärker und verleiht meiner Stimme somit das nötige Selbstbewusstsein.
Ich wünschte, meine Eltern würden mir überhaupt nicht glauben und von mir verlangen, direkt zurück zu kommen.
Doch so ist es nicht.
Ich bleibe sehr lange in der Stadt, genieße die Normalität eines einfachen Spazierganges.
Langsam wird es dunkel, die Straßenbeleuchtung geht an.
Gerade als ich umkehren möchte, fällt mir etwas weiter ein Stück Mauer auf, welches leicht versteckt ist.
Ich weiß, dass ich umkehren sollte,
doch meine Neugierde treibt mich genau auf die Mauer zu.
Ich müsste mich jetzt ziemlich am hinteren Teil von Selia befinden, so weit, wie ich gelaufen bin.
Es war dumm, alleine so weit weg zu gehen, doch irgendwie habe ich die Zeit komplett vergessen.
Mein Bauch knurrt.
Und doch gehe ich auf diese Mauer zu.
Sie ist vollgesprüht mit Graffiti und strahlt trotzdem etwas Altes aus.
Sobald man näher dran geht, erkennt man, dass es eine Art Labyrinth aus solchen Mauern ist.
Ich überlege gar nicht, sondern gehe direkt hinein.
Nach fünf Minuten höre ich Stimmen, und versuche so leise wie möglich zu sein, um besser lauschen zu können.
„Kann mal jemand neues Bier holen?", fragt irgendein ziemlich betrunken klingender Junge.
Er müsste ungefähr in meinem Alter sein, vielleicht etwas älter.
„Ich mach schon.", sagt ein anderer seufzend.
Mittlerweile ist es wirklich dunkel und in diesem Labyrinth sind natürlich keine Lampen.
Irgendwie ist mir das hier nicht geheuer, und ich will gehen, doch dann wird es plötzlich spannend.
„Wir müssen morgen mal wieder ordentlich abräumen.
Sonst schaffen wir's nie ins Hotel.", meint noch jemand anders.
„Brauchen wir denn echt unbedingt dieses beschissene Geld?", fragt der erste und rülpst.
„Versuch gar nicht erst, das zu verstehen.", antwortet der dritte. Obwohl ich ihn nicht sehe, kann ich mir denken, dass er gerade seine Augen verdreht.
Gerade als ich näher kommen will, hält mir jemand von hinten seine Hand vor den Mund und erstickt somit meinen Überraschungsschrei.
Ich werde nach hinten gezogen, raus aus dem Mauerlabyrinth.
Am Ausgang angekommen knallt die Person meine Arme gegen eine Mauer und kommt mir näher.
Vom Körperbau würde ich sagen es ist ein Junge, vom Gesicht her kann ich es nicht erkennen, weil es dafür zu dunkel ist.
Nur seine stechend grünen Augen kann ich sehen.
„Wer bist du?", fragt er.
Seine Stimme klingt tief und unheimlich wütend.
Ich versuche mich aus seinem eisernen Griff zu winden.
Wie hat er mich überhaupt gehört?
Dann fällt mir ein, dass er wahrscheinlich der Junge ist, der das Bier holen sollte.
„Amelia.", murmele ich unter Anstrengung.
Nie im Leben würde ich ihm meinen bekannten Namen nennen, den wahrscheinlich schon jeder kennt.
Für ihn bin ich Amelia, nicht Lia, Meandras Tochter.
Doch egal wie sehr ich mich bemühe mich zu befreien, ich habe keine Chance.
Er ist zu stark.
„Was machst du hier?", fragt er weiter.
„Nichts. Ich wollte nur gucken, wirklich.", antworte ich ehrlich.
„Das sagen sie alle.", meint der Junge.
„Lass mich los, du tust mir weh.", beschwere ich mich.
Langsam bekomme ich es wirklich mit der Angst zu tun.
Verfluchte Mauer.
„Du hast Glück, dass ich dich erwischt habe. Die andern hätten dich verraten. Aber sollte ich dich hier nur ein weiteres mal in der Nähe sehen, bist du tot, klar?"
Ich nicke schnell und winde mich aus seinem sich langsam lockerndem Griff.
Ohne mich umzudrehen renne ich raus, und ich verlangsame mich erst, als meine Beine anfangen höllisch zu brennen.
Ich sollte wirklich meine Ausdauer trainieren.
Ich muss noch eine gefühlte Ewigkeit laufen, weil ich auf dem Hinweg viel zu weit gegangen bin.
Mein Herz schlägt viel zu laut und schnell.
Als ich dann endlich am Hotel ankomme, stehen vor der Tür Atrius, die königliche Familie inklusive May, Etalon und immer mehr werdende Soldaten.
Atrius fährt sich immer wieder gestresst durch die Haare und trommelt mit seinen Fingern an seinen Beinen rum.
May zittert und scheint kurz vor den Tränen zu stehen.
Natürlich ist es Etalon, der mich als erstes bemerkt.
„Da ist sie!", ruft er erleichtert und kommt direkt auf mich zu.
„Lia! Meine Güte, wo warst du denn so lange?", fragt Atrius, als er mich in eine feste Umarmung zieht.
„Ich bin zu weit gelaufen und habe deshalb auf dem Rückweg so viel Zeit gebraucht. Es tut mir leid."
Auch May schließt mich in ihre Arme und seufzt erleichtert auf.
„Du darfst alleine rumlaufen, Lia, aber garantiert nicht nachts. Klar?", ruft Atrius mir ins Gedächtnis.
Ich nicke und versuche mir nicht anzumerken, dass da noch etwas anderes war.
Etalon schaut mich zwar prüfend an, sagt aber nichts.
Atrius ist damit beschäftigt die Soldaten wegzuschicken und May scheint zu erleichtert zu sein, um mir irgendwas anzumerken.
„Wer soll mir denn hier irgendetwas antun?", frage ich.
„Man weiß nie.", antwortet Atrius knapp, legt mir seine Hand auf den Rücken und schiebt mich so ins Hotel.
Sollte ich ihm sagen, dass irgendeine Bande eine Art Angriff auf diesen Ort plant?
Doch ich lasse es erstmal.
„Morgen fängt übrigens dein Training an. Und du wirst die anderen Ringträgerkinder kennenlernen.
Wir fangen recht früh morgens an, wunder dich also nicht, wenn jemand dich weckt.", erklärt Atrius.
Ich nicke.
„Werde ich also wirklich lernen, mich mit Magie zu verteidigen?", frage ich, einfach nur um die Worte auszusprechen.
Magie.
Das klingt...Fremd.
„Nicht nur. Du wirst auch lernen, anzugreifen."

Am nächsten Morgen werde ich tatsächlich ungefähr um neun Uhr geweckt, und zwar von einer mich leicht schüttelnden May.
Ihre Augen strahlen, und ihr Lächeln ist so breit wie immer.
Sie ist eindeutig ein Morgenmensch.
Ich brauche mal wieder ewig, um mich aus meinem Bett zu hieven und stolpere dann fast über meine eigenen Füße, was May zum lachen und mich zum stöhnen bringt.
„Ich warte im Flur auf dich.", sagt sie lächelnd.
Geduscht habe ich gestern Abend noch, weshalb ich mich direkt umziehe, meine unordentlichen Haare etwas in Ordnung bringe und dann auch schon nach draußen trete.
Gerade als wir um die Ecke biegen wollen, stürmt uns ein Mädchen mit wehenden blonden Locken entgegen.
„May! Hier bist du also, hast du- Wer ist das denn?"
Sie bleibt atemlos stehen und stützt ihre Hände auf ihren Oberschenkeln ab.
Ihre blitzenden blauen Augen sind weit augerissen und ihr Oberkörper hebt sich ungleichmäßig.
„Das ist Lia.", antwortet May und lächelt mich an.
„Hailey.", stellt sich das Mädchen vor und reicht mir ihre Hand.
Ich schüttel sie und betrachte Hailey genauer.
Ihre Wimpern sind getuscht und ihre eisblauen Augen von einem dünnen Kajalstrich umrundet.
Ihr schmales Gesicht wird von großen Locken umrundet und ihre hohen Wangenknochen lassen das Gesamtbild noch definierter wirken.
Ihre Augenbrauen sind dünn und der Bogen recht hoch, was gut zu ihrer schmalen Nase passt.
Wäre ihr makelloses Gesicht nicht so rot, und würde sie insgesamt etwas weniger aus der Puste aussehen, wäre sie noch hübscher, als sie es sowieso schon ist.
„Was ist los mit dir?", fragt May Hailey grinsend.
„Ich versuche, meine Kondition aufzubessern. Du weißt schon, für die Reise."
„Du bist auch ein Ringträgerkind?", frage ich direkt.
„Ja, die Tochter von Fazira. Dann bist du also...Die Tochter von Meandra? Ich habe gehört, du sollst vorgestern angekommen sein."
Ich erstarre.
Dieses Mädchen vor mir, mit dem ich noch nie zuvor ein Wort gewechselt habe, welches ich noch nie in meinem Leben gesehen habe, gehört zu meiner Familie.
Sie ist meine Cousine.
Ich nicke als Antwort, starre sie aber weiterhin an.
„Alles in Ordnung?", fragt May vorsichtig.
„Wir sind verwandt.", sage ich nur.
„Ja, das wird dir am Anfang komisch vorkommen, aber nach einer Weile gewöhnst du dich daran.
Bereit, weitere fünf Verwandte zu treffen?"
Ich starre sie an.
„Fünf?!"
„Du bist das einzige Einzelkind unter uns, wir anderen haben alle Geschwister. Ich habe einen älteren Bruder, sein Name ist Shane.
Komm, ich stell ihn dir vor.", meint Hailey aufgeregt.
May und ich folgen ihr die Treppe runter und dann in den riesigen Raum, wo ich auch gestern gefrühstückt habe.
Wir steuern auf einen Tisch zu, an dem genau fünf andere Kinder sitzen.
„Leute, das hier ist Lia. Sie ist Meandras Tochter.", stellt Hailey mich vor.
Die Kinder hören auf zu essen und starren mich an.
Als erstes steht ein schwarzhaariger und dunkelhäutiger Junge auf, der mir freundlich lächelnd die Hand reicht.
„Ich bin Tyler, und das ist mein kleiner Bruder Eric." Er zeigt auf einen ebenfalls schwarzhaarigen, dunkelhäutigen und nett lächelnden Jungen, der ihm unglaublich ähnlich sieht.
Beide haben dieselben warmen, dunkelbraunen Augen.
„Wir stammen von Morton ab.", erklärt Tyler.
„Lia.", sage ich nur und lächele zurück.
Ich bin froh, so nette Leute als Familie bezeichnen zu können, doch andererseits ist es auch einfach komisch.
Der nächste, der mir die Hand reicht, ist ein blonder Junge mit grauen Augen und verschmitztem Lächeln.
Er strahlt Selbstbewusstsein aus.
„Shane.", sagt er und schüttelt meine Hand.
Mir fällt ein, dass das dann wohl Haileys Bruder sein muss.
Sobald er May erblickt, schiebt er sich an mir vorbei und küsst sie.
Ich reiße überrascht meine Augen auf.
May lächelt und scheint überhaupt nicht verstört, so wie ich es bin.
Wieso hat sie mir nicht gesagt, dass sie einen Freund hat?
Und dazu auch noch einen mit blauen Augen, obwohl sie braune hat?
Ich versuche, nicht weiter darüber nachzudenken, und widme meine Aufmerksamkeit den zwei letzten verbleibenden Personen, die sich nicht einmal die Mühe gemacht haben, aufzustehen.
Es sind zwei dunkelblonde Mädchen mit blauen Augen, die aussehen wie eineiige Zwillinge.
„Das sind Maddison und Amy. Sie sind die Töchter von Arton.", stellt Hailey sie augenverdrehend vor.
Die zwei schenken mir jedoch weiterhin keine Aufmerksamkeit.
„Vergiss die beiden, so behandeln sie jeden.", versucht Hailey mich aufzumuntern.
Doch trotzdem versetzt es mir einen Stich.
Ich hatte früher weder Geschwister noch Cousinen oder Cousins, nur meine Adoptiveltern.
Ich habe es mir immer schön vorgestellt, doch anscheinend ist es nicht jedem so wichtig wie mir.
May und Shane unterhalten sich, Maddison und Amy sind unerreichbar und Tyler, Eric und Hailey fangen auch ein Gespräch an.
Ich fühle mich komplett fehl am Platz.
Ohne ein Wort gehe ich zum Büffet um mir etwas zu essen zu holen.
Niemand folgt mir, wieso sollten sie auch, und automatisch denke ich an Hazel.
In diesem Moment vermisse ich sie so sehr, dass mir eine einzelne Träne über die Wange läuft.
Es werden immer mehr, weshalb ich mein Essen stehen lasse und schnell die nächste Toilette aufsuche.
Ich kann es nicht mehr aufhalten, immer mehr Tränen fließen aus meinen Augen und durchnässen mein schwarzes T-Shirt.
Zum ersten Mal seit diesem ganzen Chaos weine ich, lasse meine Trauer diese langsam entstehende Mauer, die sich Einsamkeit nennt, durchbrechen.
Natürlich sind hier viele nette Leute, doch die, die alles von mir wissen, immer da waren, die fehlen.
Merken die anderen am Tisch, dass ich weg bin? Vermutlich nicht.
Hazel würde es direkt merken.
Und schon wieder schüttelt mich ein Schluchzen.
Ich höre Lachen aus dem Raum, fühle mich einen Moment lang albern, doch dann denke ich mir, dass auch ich mal loslassen darf.
Für manche Bewohner in Selia mag ich wahrscheinlich eine Heldin sein, weil ich ein Ringträgerkind bin und ihre Hoffnung auf meinen Schultern ruht.
Doch das will ich gar nicht sein.
Ich will zurück nach London und mein altes Leben ohne Magie weiterführen.
Ich will meine alten Augen zurück.
Unabsichtlich trifft mein Blick den Spiegel, und ich sehe mich selbst, mit verquollenen, roten Augen, und nassen Tränenspuren im Gesicht.
„Wo ist Lia?", höre ich plötzlich Atrius fragen.
„Wo ist sie? Was habt ihr getan?", fragt er direkt panisch.
Ich möchte die anderen verteidigen, ihm sagen, dass es nicht ihre Schuld ist, dass ich weinend vor dem Spiegel stehe, doch ich bringe es nicht über mich, aus dieser Tür zu treten und allem zu zeigen, dass ich eigentlich schwach bin.
Ich fühle mich feige.
Danach verstehe ich nichts mehr, weil alle durcheinander reden.
„Helft mir, sie zu suchen.", befiehlt Atrius.
Etalon ist schließlich derjenige, der die Toilettentür aufstößt.
Er verrät mich nicht, er lächelt nur aufmunternd und kniet sich vor meinen zusammengesunkenen Körper.
„Es ist okay.", flüstert er, und ich fühle mich wieder ins Krankenhaus versetzt, als meine Mutter genau das selbe gesagt hat.
Nur liege ich hier auf einem perfekt geputztem Toilettenboden und nicht in einem weißen Bett, und die Person, die mich beruhigt, ist auch eine andere.
Er bleibt bei mir, während weitere Schluchzer mich schütteln, wiegt mich leicht hin und her und flüstert mir beruhigende Worte zu.
Es dauert eine Weile, bis ich mich beruhigt habe, doch dann trocknen meine Tränen.
„Willst du darüber reden?", fragt Etalon leise.
Ich zucke mit den Schultern.
„Manchmal hilft das.", meint er.
„Ich gehöre einfach nicht hierher.", flüstere ich.
„Alle kennen sich, können zaubern, und dann komme ich. Ich passe nicht in diesen Ort.
Das ist alles zu viel für mich."
Ich schließe meine Augen und versuche, mich zu fassen.
„Weißt du, Lia, manchmal kommt es nicht darauf an, wie lange man irgendetwas macht, sondern mit wie viel Motivation man es angeht.
Genauso ist es beim lernen.
Du kannst dir irgendetwas so oft wie du willst durchlesen, doch im Endeffekt musst du es auch wollen.
Sonst bringt dir die Arbeit nichts.
Bei dir ist das etwas anderes, du wurdest praktisch gezwungen.
Keiner hier kann sich in dich reinversetzten, weil du einiges durchgemacht hast.
Du musstest später deine Freunde verlassen, und hattest zusätzlich noch eine andere Familie.
Das kann positiv, aber auch negativ sein.
Du hattest zwar eine längere schöne Zeit, doch dafür ist es jetzt schlimmer für dich.
Die anderen Kinder sind das nicht gewohnt, verstehst du? Sie hatten nie etwas, dass man Freundschaft von Geburt aus nennt, oder Eltern, die sie so sehr geliebt haben, dass sie ihnen die Wahrheit über ihre Herkunft verschwiegen haben."
„Ich weiß.", murmele ich nur.
„Du musst stark sein Lia, ich weiß, dass du du es sein kannst.
Ganz egal, wie wenig Leute du hier kennst, oder wie wenig Magie du anwenden kannst, alle haben so angefangen wie du.
Nur hast du es einfach etwas schwerer als die anderen.
Aber sag mir, ist dein Ziel, die Menschheit zu retten, diese Schwierigkeit nicht wert?
Bist du nicht neugierig, diese Welt hier zu erkunden?
Du musst an dich glauben.
Egal wie wenig du sie magst, deine Eltern waren starke Leute, und ich bin mir sicher, diese Stärke befindet sich in dir drin und wartet nur darauf, von dir aufgerufen zu werden.
Du bist mächtig, Lia.
Nutze diese Macht gut, versuche die richtigen Wege zu wählen und lass dich nicht von schwarzen Wolken beeindrucken.
Sie sind es nicht wert."
Es dauert zwar noch zehn Minuten, bis ich wieder normal aussehe, doch dann stehe ich auf und folge Etalon durch die Tür wieder in den großen Raum.
Genau in dem Moment kommt Atrius rein und atmet erleichtert auf.
„Du machst mich wahnsinnig, Lia.", sagt er leicht lächelnd, als er mich in eine Umarmung zieht.
„Tut mir leid.", murmele ich schuldbewusst.
Die nächste, die in den Raum kommt ist May, und ich kann sehen, dass sie geweint hat.
Ich fühle mich unglaublich schlecht.
„Es tut mir so leid, Lia. Ich hätte mich viel mehr um dich kümmern sollen, dass ist alles meine Schuld.", sagt sie direkt.
„Hör auf mit dem Schwachsinn. Nichts hiervon ist deine Schuld, ich habe einfach Zeit für mich gebraucht. Mir tut es leid."
Auch Hailey entschuldigt sich, was mich noch mehr schockiert.
Ich kenne sie seit einer guten halben Stunde, und schon fühlt sie sich verantwortlich, mir meinen Aufenthalt hier so angenehm wie möglich zu bereiten.
Atrius sagt auch den anderen Kindern bescheid, dass ich in Sicherheit bin, und geht dann mit Etalon nach draußen.
Wahrscheinlich hat er gedacht, ich würde versuchen, alleine zurück nach Hause zu gehen.
Ich bleibe mit May und Hailey im großen Raum und suche mir noch schnell ein kleines Frühstück zusammen.
„Du hast gleich Training, oder?", fragt Hailey mich.
Ich nicke kauend.
„Du wirst dich am Anfang wahrscheinlich ein bisschen komisch bei Edmon fühlen, so ist er einfach.
Er wurde anscheinend von Morton adoptiert."
Schon jetzt fühle ich einen gewissen Verbindungsdraht zu diesem Jungen.
Zu jedem adoptierten Kind.
„Wie alt ist er?", frage ich neugierig.
„Ich glaube er ist 17, aber ganz sicher kann ich es dir auch nicht sagen. Er erzählt nicht viel von sich."
Ich nicke verständnisvoll.
Plötzlich fällt mir wieder etwas ein.
„Wieso hast du mir nicht erzählt, dass du mit Shane zusammen bist?", frage ich May.
Sie seufzt.
„Das ist kompliziert. Mal sind wir es, mal wieder nicht. Shane sagt manchmal dumme Dinge oder tut unüberlegte Sachen, verstehst du?", erklärt sie mir und reibt sich müde über die ungeschminkten Augen.
„Und das mit euren Augenfarben...Ist das in Ordnung?", frage ich zögernd.
„Solange wir keine Kinder kriegen, ja.", antwortet sie.
Ich bohre nicht weiter nach, sondern frage nach dem Trainingsort und dem Ablauf.
„Wenn du willst können wir dich hinbringen und dann zuschauen, damit du nicht alleine mit Edmon sein musst.", schlägt May vor.
Ich nicke.
„Das wäre echt nett, danke."
„Klar, kein Problem. Das wird lustig.", meint Hailey und grinst.
Ich lächele unsicher und folge dann den Mädchen nach oben, wo wir uns dann alle trennen um uns kurz die Zähne zu putzen und uns dann wieder unten am Hotelausgang treffen.
Der Trainingsort ist nicht weit entfernt, zehn Minuten zu Fuß.
Wir landen vor einer Art alten Scheune, doch von meinem Trainer ist nichts zu sehen.
„Wo ist Edmon?", frage ich.
„Bestimmt drinnen. Komm!", ruft Hailey und ich folge ihr in das etwas kaputte Gebäude.
In der Scheune ist nichts besonderes, nur alte Möbel und ein ungemachtes kleines Bett in einer Ecke.
Hinten sieht man nur einen Rücken, den man jedoch direkt einem Jungen meiner ungefähren Altersklasse zuordnen kann.
Er hat recht breite Schultern und trägt ein kurzärmliges, normales schwarzes T-Shirt.
Auch seine Hose ist schwarz, genau wie seine Schuhe.
Doch als er sich umdreht, stockt mir der Atem.
Er hat stechend grüne Augen, genau dieselben wie der Junge gestern, der mich im Mauerlabyrinth erwischt hat.
Auch er scheint mich wieder zu erkennen, was wegen meiner roten Haare aber auch nicht verwunderlich ist.
„Kennt ihr euch?", fragt Hailey überrascht.
„Nein.", sagt Edmon direkt.
Auch die tiefe Stimme ist genau dieselbe wie gestern Abend.
Ich soll ernsthaft von jemandem trainiert werden, der vermutlich einen Angriff auf seine eigenen Leute plant?
Edmon kommt schnellen Schrittes auf mich zu, sein Blick ist leicht drohend.
„Edmon.", sagt er und reicht mir gezwungenermaßen seine Hand.
„Lia.", murmele ich und ergreife sie für eine Sekunde, dann lasse ich sie direkt los.
Gestern konnte ich es wegen der Maske und der Dunkelheit nicht erkennen, doch Edmons Gesicht ist unheimlich gutaussehend.
Seine Lippen sind voll, seine Wangenknochen markant und seine kurzen Haare pechschwarz und leicht abstehend.
Seine Augenbrauen sind recht buschig und hängen ihm tief über den Augen, die von dichten, langen Wimpern umrundet werden.
Er hat Augenringe, lächelt nicht und hat etwas Dreck im Gesicht.
Sein Gesichtsausdruck ist ernst und schlau, und er runzelt seine Stirn.
Er kratzt sich kurz an der geraden Nase, dann räuspert er sich.
„Also gut. Hast du schon mal Training gehabt?", fragt Edmon mich.
Ich kann mich kaum konzentrieren.
Ist er ein Verräter?
Schnell beantworte ich ihm seine Frage mit einem Kopfschütteln.
Er seufzt und ich sehe, wie Hailey ihr Kichern zurückhält.
Kein Wunder, Edmon sieht nicht sehr geduldig aus.
„Hast du überhaupt irgendeine Idee, wie man Magie aufruft?"
Ich schüttele den Kopf und Edmon stöhnt leise.
Was kann ich denn dafür?
Ich mag ihn jetzt schon nicht.
„Keine Sorge, Lia. Du schaffst das schon.", versucht May mich lächelnd aufzumuntern, wofür ich ihr unfassbar dankbar bin.
„Es ist wirklich nicht so schwer wie du denkst.", fügt Hailey hinzu.
Edmon kneift seine Augen zusammen und kommt mir näher.
„Du hast wirklich zwei verschiedene Augenfarben.", sagt er.„Das wird es schwerer machen."
Ich schlucke.
Er ist mir eindeutig zu nah.
Auch er scheint es zu merken, denn er geht direkt ein paar Schritte zurück.
„Fangen wir an.", entscheidet er.
„Du musst dich konzentrieren, klar?"
Ich nicke.
„Denk an das was du erreichen willst, widme deine ganze Aufmerksamkeit diesem einen Wunsch. Später wirst du lernen, nur einen Teil zu widmen, um dich auch auf deine Umgebung konzentrieren zu können.
Doch jetzt denkst du nur an das, an nichts anderes.
Stell dir vor, du rufst einen Feuerfunken auf, einen kleinen.
Denk daran, fest.
Und dann mach irgendeine Handbewegung. Ein Schnipsen, irgendetwas, wo sich deine Finger bewegen.
Versuch es mal."
Ich befolge genau seine Anweisungen, doch es geht nicht.
„Mach genau was ich gesagt habe, los, nochmal!", befiehlt er.
Schon jetzt klingt er genervt.
Ich versuche es nochmal, doch es klappt wieder nicht.
Edmon reibt sich die Schläfen.
„Nochmal.", sagt er nur.
Doch auch diesmal klappt es nicht.
„Ich glaube, so bringt das nichts.", sagt May plötzlich.
„Wer von uns beiden ist hier der Trainer? Ich habe schon einigen beigebracht zu zaubern, selbst dir ein wenig. Also danke, aber ich brauche deine Ratschläge nicht.", sagt Edmon schnippisch.
Er ist wirklich unerträglich.
„Was meinst du, May?", frage ich
„Lass mich ausreden, Edmon.
Ich habe mal gehört, dass die Maske erst ihre Magie mit 16 bekommen hat, genau wie Lia, nachdem was ich gehört habe.
Irgendein Zauber, der erst durchbrochen werden musste, keine Ahnung.
Was ist, wenn ein Stück vom Zauber noch da ist, und somit immer noch manchmal verhindert, dass sie zaubern kann?"
Ich schaue sie nachdenklich an.
„Hast du überhaupt schon mal irgendetwas gezaubert? Unbewusst vielleicht?", fragt Hailey.
Edmon bleibt leise.
Ich denke nach.
Dann fällt es mir wieder ein.
„Es gab mal ein Feuer in der Schule, und ich glaube, ich habe es ausgelöst.
Ich habe am Boden gelegen und unbewusst meine Hand ausgestreckt, dann ist es ausgebrochen."
„Das ist doch Schwachsinn. Niemand, der noch nie gezaubert hat, löst einfach so ein Feuer aus.
Man fängt leicht an, mit Funken zum Beispiel."
„Vielleicht wurde die Magie solange zurückgehalten, dass dann alles auf einmal ausgebrochen ist.", rate ich.„Ich wollte das Feuer ja noch nicht mal auslösen."
Edmon runzelt seine Stirn und scheint nachzudenken.
„Das kann doch gut sein! Wir müssen nur rausfinden, wie wir diese letzte Blockade überwinden können."
Sag ihm, er soll dich angreifen.
Ich erstarre.
Schon seit einer Ewigkeit habe ich diese fremde Stimme in meinem Kopf nicht mehr gehört.
Ich kann noch nicht mal sagen, ob sie von einem Mann oder einer Frau kommt.
Doch die Stimme hat mir eigentlich immer geholfen, weshalb ich ihr auch dieses Mal vertraue.
„Vielleicht, wenn du mich angreifst.", schlage ich Edmon vor.
„Wer weiß, es kann doch sein, dass dann automatisch irgendein Beschützungssystem von mir eingeschaltet wird. Probieren wir's doch einfach mal aus."
„Auf keinen Fall. Das mache ich nicht."
„Du kannst mich sowieso nicht verletzten, du hast grüne Augen.
Versuch mich zu fesseln oder so."
Edmon scheint immer noch zu überlegen, doch dann stellt er sich aufrecht vor mich hin.
Innerhalb einer Sekunde bin ich an einen Stuhl gefesselt.
Edmon löst die Fesseln mit einer weiteren Handbewegung und will sich schon genervt umdrehen, weil er glaubt dass es nicht gebracht hat, da wird er auch schon von einer kleinen Welle aus dem Nichts zum Stolpern gebracht.
Es war nur ein kleines Zucken, dass nach Edmons Angriff durch meinen Körper fuhr, doch ich wusste, dass es wichtig war.
Ich habe mich auf die Welle voll und ganz konzentriert, mir genau vorgestellt, wie sie Edmon überrascht und ihn, so klein sie auch sein mag, fast zum Fallen bringt.
Alle drei anderen starren mich still an, dann springen May und Hailey auf und umarmen mich stürmisch.
Edmon steht überrascht da, er scheint meinen Erfolg wirklich nicht erwartet zu haben.
Und dann üben wir weiter.
Es ist auf einmal unglaublich leicht, den Funken aufzurufen, weshalb wir auch bald zu schwierigeren Sachen übergehen.
Ich schlage mich gut, das weiß ich, auch wenn Edmon es mir nicht sagt.
Es fühlt sich gut an, zu lernen, wie man sich verteidigt, wie man angreift.
Irgendein Gefühl in mir lässt mich vermuten, dass ich dieses Gelernte schon sehr bald anwenden muss.

Voilà, Kapitel 6 :)
Rückmeldung und Voten ist wichtig, nicht vergessen!
Was haltet ihr von den anderen Ringträgerkindern?
Könnt ihr Lias Zusammenbruch verstehen?
Wie findet ihr die Geschichte so generell?
Gibt es Fragen?
Was hat es mit dem Mauerlabyrinth auf sich?
Ich wünsche euch noch einen schönen Abend! :)

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