Kapitel 9


„Du bist meine Heldin, Lia!", ruft May überglücklich, als sie mich am Frühstückstisch erwischt, und umarmt mich stürmisch.
„Jetzt übertreib mal nicht", meine ich lachend.
„Ich habe doch gar nichts gemacht."
„Du hast es versucht.
Im Endeffekt war das gar nicht nötig, aber du hast es versucht. Für mich."
Ich nicke. Dafür bin ich jetzt auch unfassbar müde.
„Klar. Kein Ding."
Die anderen am Tisch schauen schon komisch, weshalb ich versuche, May irgendwie wegzuschieben.
„Habt ihr euch ausgesprochen?", frage ich sie leise, damit Shane es nicht mitbekommt.
„Leider nein, aber wenigstens geht es ihm gut.", flüstert May.
Überraschenderweise kommt Edmon in den Raum und blickt sich suchend um.
Als er unseren Tisch erblickt, kommt er darauf zu.
Er trägt unter seinem Pulli ein schlichtes weißes T-Shirt, kombiniert mit einer schwarzen Hose.
Selbst mit solchen einfachen Sachen sieht er meiner Meinung nach besser aus als jeder andere Junge hier.
„Shane, können wir kurz reden?", bittet er, als er ankommt.
Mir wirft er nur einen kurzen Blick und ein kleines, kaum erkennbares Lächeln zu.
Doch das reicht, damit ich rot werde.
„Ich glaube nicht, dass-"
„Ich schon.", unterbricht Edmon Shane.
Mit einer Kopfbewegung deutet er ihm an, ihm aus dem Raum zu folgen.
Shane steht seufzend auf, wirft May einen letzten Blick zu und folgt dann seinem alten Freund.
„Es ist komisch, ihn hier zu sehen.", meint Hailey.
Alle nicken.
„Was will er Shane sagen? Weiß es jemand?", fragt sie.
Auch ich schüttele den Kopf.
Es ist noch nicht an der Zeit, alle einzuweihen.
Und selbst wenn, es ist nicht meine Aufgabe, Edmons Geschichte zu erzählen.
„Wann glaubt ihr, wird die Reise anfangen?", fragt Eric nach einer Weile.
„Recht bald, schätze ich. Ein, zwei Wochen vielleicht?", rät Tyler.
Ich schweige.
„Glaubt ihr, es wird schlimm?", fragt Amy leise.
Alle schauen sie an.
„Keine Ahnung.", antwortet Hailey
„Ist das nicht offensichtlich?", fragt Maddison genervt.
Ich runzele die Stirn.
„Was meinst du?", fragt Tyler meine unausgesprochene Frage.
Maddison seufzt.
„Natürlich wird es schlimm! Denkt ihr im Ernst, es wird so einfach, unsere Eltern umzustimmen?", fragt sie.
„Ich weiß es nicht. Vielleicht wird die Reise ja gar nicht lange dauern.", meint Hailey.
„Klar. Wir müssen ja auch nur quer durch Terrestra, Forestia, Rivera und ans andere Ende von Selia. Und dabei werden vermutlich einige von uns sterben.", sagt Maddison spöttisch.
„Wieso sollten welche sterben?", frage ich verwundert.
„In jeder Stadt wird es gewisse Schwierigkeiten geben.", erklärt Tyler mir.
„Was denn für Schwierigkeiten? Die Ringträger umzustimmen?", frage ich.
„Auch. Aber nicht nur. Ich weiß nicht ob du das wusstest, aber an einem Ende von Selia fängt das Meer an und erstreckt sich weiter nach Terrestra. Darunter gibt es aber zum Glück Höhlen, dann müssen wir nicht mit dem Schiff waren, durch die Strömungen würden wir nicht lange am Leben bleiben.
In Forestia werden wir über Dünen laufen müssen und dann durch eine Wüste.
Am Schluss werden wir am anderen Ende von Selia durch einen Wald laufen, und das wars.", antwortet Eric.
„Was soll daran denn jetzt so gefährlich sein?", frage ich.
„Die Höhlen von Morton befinden sich ja wie gesagt direkt unter dem Meer. Es könnte also gut sein, dass Steine runterfallen. Große Steine.
Die Dünen von Nyra sind dem Meer so nah, dass man den Wind deutlich spüren wird, aber zu weit, um das Wasser zu sehen.
Es wird wahrscheinlich eisig kalt werden.
Die dritte Strecke wird durch die Eiswüste der tausend Schatten führen. Sie soll Angst machen und Fata Morganas aufrufen.
Den Namen hat Fazira ihr gegeben."
„Die Ringträger haben diese Strecken erstellt?!"
„Ja. Manche haben sie nach ihren Partnern benannt, wie zum Beispiel Arton, der die Dünen sozusagen seiner Frau Nyra gewidmet hat."
„Woher weißt du das alles?", frage ich Eric.
„Es gibt einige Prophezeiungen, die uns dann auch die Reihenfolge, in der es am leichtesten sein wird, verraten haben."
„Okay...Und wie kommen wir dann zu Meandra?"
„Nach der Eiswüste der tausend Schatten fängt der Feuerwald des Miron an. Es wird wohl ziemlich warm sein, anstrengend, und brennende Äste könnten runterfallen.", erklärt diesmal Hailey mir.
Anscheinend wissen sie alle genau, worum es geht.
Ich weiß nicht, wie ich das finden soll.
Gedankenverloren drehe ich an meinem Armband, wobei mir einfällt, dass ich dringend mal wieder meine Eltern anrufen sollte.
„Ich...Gehe dann mal.", teile ich den anderen mit.
Alle lächeln mir zu, außer Maddison und Amy, die mir keine Beachtung schenken und einfach weiter essen.
Seufzend drehe ich mich um, laufe schnell nach oben in mein Zimmer um mir die Zähne zu putzen und eine Jacke mitzunehmen.
Heute regnet es nicht, doch sobald ich draußen bin, schlägt mir der kalte Wind entgegen.
Wird es in den Dünen von Nyra noch kälter sein?
Ich verbanne den Gedanken aus meinem Kopf und ziehe meinen dicken Schal fester.
Die Telefonzelle ist wie immer leer, sodass ich direkt drankomme und die Nummer von zuhause wähle.
Wen sollten die Leute hier auch anrufen?
Es geht direkt jemand ran.
„Lia?"
„Hi Dad."
„Wieso hat du dich nicht früher gemeldet? Wir haben uns Sorgen gemacht! Fast hätten wir versucht, Mr. Hentersons Nummer zu finden um ihn anzurufen."
„Es tut mir leid, ich bin nicht dazu gekommen."
„Ist es so anstrengend?"
Kurz überlege ich, was ich jetzt antworten soll.
„Noch nicht mal, aber es macht mir einfach so viel Spaß!", lüge ich.
Mein Vater kauft es mir ab.
Egal wie schlecht ich lüge, wenn es um meine spontane Reise nach Frankreich geht, glauben sie mir alles.
Als er sich nach einer Weile von mir verabschiedet, hasse ich mich dafür, dass ich meine Eltern schon so oft angelogen habe.
Seufzend wähle ich auch Hazels Nummer und erzähle ihr die neusten Dinge.
Plötzlich donnert es, und ich verabschiede mich schnell von ihr.
Mit viel Glück könnte ich zurück im Hotel sein, bevor es richtig anfängt zu stürmen.
Obwohl es erst um die zwei Uhr Nachmittags sein muss, ist es stockdunkel.
Langsam fängt der Regen an, meine Kleidung zu durchnässen.
Die Kapuze bringt bei meinen langen Haaren nichts, die Spitzen sehen schon so aus, als hätte ich
eine Dusche genommen.
Der erste Blitz erscheint am Himmel, weshalb ich versuche, mich noch mehr zu beeilen als sowieso schon.
Ich wünschte, jemand wäre gerade bei mir.
Gewitter mochte ich noch nie.
Ich weiß, manche Leute finden es schön, doch mir macht es irgendwie Angst.
Welcher Tag ist heute nochmal?
Donnerstag.
Passt perfekt.
Ich versuche mich weiterhin abzulenken, weshalb ich mich unfassbar erschrecke, als ich auf einmal stolpere und hinfalle.
Bin ich ausgerutscht?
Schnell stehe ich wieder auf und wische mir die Erde von der Hose.
Dabei fällt mir auch die Wurzel am Boden auf, über die ich wahrscheinlich gestolpert bin.
Bevor ich darüber nachdenken kann, wieso zur Hölle eine Wurzel mitten auf der Straße ist, bemerke ich die Leute, die aussehen wie Schatten.
Sie umkreisen mich, alle tragen lange schwarze Umhänge und verdecken ihr Gesicht mit schwarzen Masken.
Mein Atem beschleunigt sich, und auch mein Herz fängt an noch schneller zu schlagen als sowieso schon.
Einer von den Leuten trägt einen dunkelblauen Umhang, was ich aber nur durch das schwache Licht einer recht weit entfernten Straßenlaterne erkennen kann.
Egal wo ich hinschaue, überall scheinen Umhänge zu sein.
„Amelia.", flüstert die Person mit dem blauen Umhang.
„Endlich."
Langsam bekomme ich es wirklich mit der Panik zu tun.
Wer sind diese Menschen?
Der Kreis wird enger, und die Person mit dem blauen Umhang,
die ich als Anführer einschätze, kommt langsam auf mich zu.
„Weißt du, wer ich bin?", fragt die Person.
Die Stimme ist bedrohlich, und ich glaube erkennen zu können, dass es sich um einen Mann handelt.
„Antworte!", zischt er.
Ich schüttele meinen Kopf.
Woher sollte ich es wissen?
Will ist es garantiert nicht, seine Stimme klingt anders, und er würde nicht so eine Show abziehen, wenn er mich entführen wollen würde.
„Gut.", murmelt der Anführer.
Ich bin vollkommen im Stress, mein Schweiß vermischt sich mit dem Regen und lässt mich nur noch mehr frieren.
Mein ganzer Körper ist vollkommen durchnässt, und mittlerweile kleben meine Haare von überall an meinem Kopf.
„Fesselt sie.", befiehlt der Mann und lässt seinen Leuten Platz.
Gerade als ich irgendwie eingreifen will, ertönt Hufgeklapper.
„Finger weg!", ruft jemand, doch die Stimme ist mir unbekannt und ich kann noch niemandem sehen.
Die Person reitet an der Laterne vorbei, und kurz kann ich das Gesicht erkennen.
Es ist der König aus Terrestra mit den schwarzen Haaren, der mich bei unserem ersten Treffen so interessiert angeschaut hat.
Seinen Namen habe ich leider vollkommen vergessen.
Mittlerweile halten mich zwei Leute fest, doch ich wehre mich zu sehr, als das sie mich schon hätten fesseln können.
„Felis!", ruft der Anführer.
„Ich werde dich nicht anlügen, du bist gerade etwas fehl am Platz.
Aber es war nett, dich mal wiederzusehen.
Wenn du jetzt so gut wärst, meine Freunde, mich, und die liebenswerte Amelia alleine zu lassen?
Vielen Dank.", bittet der Anführer,
woraufhin der König von Terrestra, der, wie ich gerade erfahren habe, Felis heißt, nur lachen kann.
„Elias. Es ist schon lange her.
Sieh nur, was aus dir, und was aus mir geworden ist.
Bereichernd, nicht?", meint Felis provozierend.
„Allerdings. Doch wäre ich du, würde ich jetzt wirklich gehen, sonst wird es hier gleich unschön.
Das wollen wir ja wohl beide vermeiden, habe ich recht?"
Ich schaue die ganze Zeit zwischen den beiden hin und her, versuche dabei aber immer noch, mir die Fesseln vom Leib zu halten.
„Lass das arme Mädchen gehen, Elias.
Sie ist noch nicht einmal volljährig.", wagt Felis einen ruhigen Versuch.
Elias lacht.
„Andere Idee.
Du gehst, ich kümmere mich um Meandras Tochter. Deal?"
Felis seufzt.
Und dann fangen sie an zu kämpfen.
Schnell merken sie, dass sie sich nicht wehtun können, weil beide braune Augen haben.
Doch Elias hat einen riesigen Vorteil.
Er ist nicht alleine, während Felis nur mich hat.
Jetzt wird Felis umkreist, und ich weiß, dass ich etwas tun muss.
Edmons Stimme erfüllt meinen Kopf, erinnert mich an all die Dinge, die er mir beigebracht hat.
Und dann lege ich los.
Egal wohin, außer auf Felis, überall schieße ich Flammen und Wellen hin.
Einige versuchen mich aufzuhalten, doch die Überraschung war zu groß, der Schaden, den ich jetzt schon angerichtet habe, ebenfalls.
Ich weiß, dass ich Elias getroffen habe.
Bei mir funktioniert es, weil ich Feuermagie habe.
Auch ich werde getroffen, doch anscheinend haben nur zwei Leute aus Elias Gruppe graue Augen, denn ich werde nur von heftigen Windböen und fliegenden Gegenständen abgelenkt.
Jeden Wasserangriff wehre ich erfolgreich mit meinem eigenen Wasser ab.
Es funktioniert besser, als ich es jemals erwartet hätte, und dieses Gefühl, dass sich in mir ausbreitet, ist so befreiend, dass ich gar nicht mehr aufhören will.
Langsam verstehe ich, was die anderen meinen.
Ich bin wirklich mächtig.
Felis ist mir eine große Hilfe,
er hat mehr Erfahrung als ich, kann besser mit Magie umgehen als ich.
Auch wenn ich weiß, dass ich mich nicht schlecht schlage, der Auslöser, dass Elias sich zurückzieht, bin nicht wirklich ich.
Vermutlich verdanke ich Felis mein Leben.
Elias hinkt davon, seine Leute folgen ihm.
Nur Felis und ich bleiben zurück, vollkommen außer Puste.
Irgendetwas hat mich am Arm getroffen, der jetzt wieder blutet.
„Danke.", murmele ich und Felis nickt mir zu.
„So etwas tut man schließlich für sein Patenkind, habe ich recht?"

Als wir am Hotel ankommen, wartet Etalon vor der Tür.
„Ist alles in Ordnung?", fragt er besorgt.
„Lia hat sich die Wunde am Arm wieder aufgerissen, doch sonst ist alles gut.
Elias und seine Leute haben sie angegriffen.
Glaubst du, die Maske hat sie geschickt?", fragt Felis.
Ich erschaudere.
Mit der Maske ist James gemeint, daran erinnere ich mich noch.
„Kann gut sein.", antwortet Etalon.
„Lia sollte erst einmal versorgt werden, danach können wir weiterreden.", meint er.
Felis nickt.
„Ich bringe sie hin.", sagt er.
„Nicht nötig. Wir können das machen.", schlägt Hailey vor, die gerade mit May in der Tür erschienen ist.
Ich lächele die beiden an.
„Okay, meinetwegen.", gibt Etalon uns die Erlaubnis, woraufhin ich erfreut auf May und Hailey zugehe und ihnen mit einer Kopfbewegung versuche klarzumachen, mir schnell zu folgen.
„Was ist los, wieso rennst du so?", fragt May mich.
„Ich muss euch was erzählen. Folgt  uns jemand?"
Beide schütteln als Antwort den Kopf.
„Ich habe vorhin etwas Unglaubliches erfahren.", meine ich.
Schnell schildere ich ihnen, auf wen ich in der Stadt gestoßen bin, wie ich Seite an Seite mit Felis gekämpft habe, und wie er mir dann erzählt hat, er sei mein Patenonkel.
„Wieso das denn?!", fragt Hailey erstaunt.
„Er meinte, vor einigen Jahren sei er mit Miron, Etalon und Atrius in einer Clique gewesen.
Die vier haben sich anscheinend wirklich gut verstanden und jede freie Minute miteinander verbracht.
Irgendwann hatte Atrius dann die Idee, für die zukünftigen Kinder von jedem einen Patenonkel auszusuchen.
Atrius und Etalon waren damals beste Freunde und wählten sich gegenseitig, weshalb Miron Felis, und Felis Miron wählte.
Sie unterschrieben ein Papier, schrieben alles auf.
Dieses Papier gibt es immer noch, und die Unterschriften sind jetzt auch noch gültig.
Ich hätte sonst keinen Patenonkel, also ist es so irgendwie das beste, schätze ich."
Nach meiner Erzählung sind sowohl May als auch Hailey erst einmal still, doch dann fangen sie aufgeregt an, durcheinander zu reden.
Ich muss lachen und genieße diesen Moment, denn ich habe das Gefühl, in letzter Zeit viel zu wenig gelacht zu haben.
Als ich die Tür zur Krankenstation aufstoße, immer noch lächelnd, erwartet mich dort eine bekannte
Person.
Ich glaube, sie ist eine der Königinnen.
„Lia, schön dich zu sehen! Ist etwas passiert?", fragt die Frau.
„Ich bin in einen Kampf geraten.
Zum Glück hat Felis-"
„Er war dabei?! Ist ihm etwas passiert?", unterbricht sie mich panisch.
„Nein, mit ihm ist alles in Ordnung.
Entschuldigen Sie die Frage, aber kennen Sie ihn...Gut?", frage ich.
„Gott sei Dank. Erinnerst du dich denn nicht mehr? Ich bin seine Frau, Megan."
Ich reiße die Augen auf.
„Tut mir leid! Das hatte ich vollkommen vergessen.", sage ich und erröte.
„Kein Problem. Zeig mir mal deinen Arm.", bittet sie und ich tue, was sie von mir will.
Sie runzelt die Stirn und legt dann ihre Hände auf meine Wunde.
Erst pocht es, doch nach und nach lässt der Schmerz nach, und als Megan ihre Hände von mir nimmt, ist die Wunde vollkommen verschwunden.
„Wie haben Sie das gemacht?!", frage ich erstaunt.
Auch May und Hailey sehen so aus, als hätten sie dieses Ergebnis nicht erwartet.
„Nicht viele wissen es, doch ich bin eine Heilerin.
Es sind nicht mehr viele von uns am Leben, die Maske hasst uns.",antwortet Megan.
„Und wie sind Sie zur Heilerin geworden?", fragt Hailey.
„Das ist angeboren. Doch bei manchen fängt es erst sehr spät an, oft, wenn es keinen anderen Heiler in der Familie gibt."
Ich nicke verstehend.
„Vielen Dank für die Hilfe.", sage ich und lächele Megan zu.
„Kein Problem. Passt auf euch auf."
Gleichzeitig nicken wir drei und verabschieden uns von ihr.
Genau als ich aus der Tür trete, ruft jemand auf der anderen Seite des Ganges ungläubig meinen Namen.
Ich drehe mich um und erblicke eine
kleine Frau mit dunkelblonden glatten Haaren, die ihr bis zu den Schultern reichen.
„Es ist so lange her.", murmelt sie und wischt sich eine Träne von der Wange.
Ihre helle Haut ist so rein, dass die dunkelblaue Farbe ihrer Augen stark heraussticht.
Ihre Nase ist schmal und ihre Augenbrauen dünn und recht tief.
Sie kommt mit bekannt vor, wie eine fremde Person, in die man einmal unabsichtlich reingelaufen ist.
„Wer sind Sie?", frage ich leise.
Die Frau lächelt.
„Mein Name ist Jane. Ich bin die Cousine deiner Mutter.
Niemand kennt Meandra so gut wie ich es tue."
Ich schlucke.
Den Namen habe ich schon mal irgendwo gehört.
„Wieso habe ich das Gefühl, Sie zu kennen?"
Jane kommt einen Schritt näher.„Vielleicht noch von früher.
Aber von mir gehört hast du bestimmt schon, wenn ich dir sage, dass ich das Orakel bin."
Ich halte die Luft an, genauso wie Hailey und May hinter mir.
„Was...Machen Sie denn hier?", frage ich wie erstarrt.
„Du sollst mich duzen, Amelia.", antwortet sie nur.
„Lia."
„Wie bitte?"
„Ich heiße Lia."
„Bitte entschuldige mich, es ist einfach viel zu lange her.", meint Jane.
Mittlerweile laufen ihr noch mehr Tränen die Wangen runter.
„Du musst mir alles erzählen, bevor ihr losgeht."
Ich erstarre.
„Was? Wann soll das denn sein?", frage ich.
Jane lächelt.
„Liebes, was dachtest du denn, wieso ich hier bin? Ich bin gekommen, um euch zu informieren, dass es so weit ist.
Es sei denn, ihr bräuchtet noch unbedingt mehr Zeit, doch ich würde mich lieber an die Prophezeiungen halten.
Heute ist Donnerstag, der 13 November, und am 22 solltet ihr aufbrechen.
So haben es die Urmagier gewollt."
Ich schlucke.
Das ist ungefähr in einer Woche.
Bin ich bis dahin bereit?
„Stimmt etwas nicht?", fragt Jane besorgt und kommt näher.
„Alles Bestens.", lüge ich,„Das wird schon."
Jane lächelt.
„Du bist ihre Tochter. Wer würde etwas anderes erwarten?"
Ich lächele zurück.
Sie ist wohl die einzige Person, die noch an Meandra glaubt.
Überraschenderweise umarmt Jane mich.
Als sie mich wieder loslässt, ist ihr Gesicht tränenüberströmt.
Ihr scheint wirklich viel an mir zu liegen.
Sie fragt mich banale Dinge, wie es mir gehe, ob ich mittlerweile zaubern könne, was mir an Selia am besten gefalle.
Es fühlt sich komisch an, mit dem Orakel über so normale Sachen zu sprechen.
Nach einer Weile verabschiedet Jane sich lächelnd.
Ich lege meine Hände auf Hailey und Mays Schultern und schiebe die beiden in Richtung des Essbereichs.
Ich bin unglaublich hungrig.
„Sie ist nett.", meint May, als wir weit genug von Jane entfernt sind.
„Sie ist das Orakel.", sagt Hailey, als wäre es ein Charakterzug.
„Ja und?", frage ich verwundert.
„Findet ihr das nicht komisch? Ich kann nicht aufhören, sie mir vor irgendwelchen Kugeln vorzustellen.
In jedem Buch sind Orakel irgendwie komisch.
Kein Wunder, wenn sie die einzigen sind, die alte Stimmen hören."
Ich nicke zustimmend.
„Ich würde gerne mal ihr Zuhause sehen.", sagt May.
„Sie ist jung. Glaubt ihr, sie ist mit jemandem zusammen? Vielleicht hat sie ja sogar Kinder!", rate ich.
„Keine Ahnung, aber das Kind tut mir jetzt schon leid.", meint Hailey.
„Wieso?", fragt May.
„Es ist schon von Anfang an klar, dass es später, sobald Jane tot ist, selbst zum Orakel werden wird.
Wer will denn schon sein Leben nicht selbst in die Hand nehmen können?"
„Du hast recht.", stimme ich Hailey zu,„Daran hatte ich gar nicht gedacht."
Sobald wir an dem Büffet angekommen sind, zieht Hailey mich zur Seite.
„Was ist los?", frage ich sie verwundert.
„Morgen ist für May ein großer Tag, ich dachte das solltest du vielleicht wissen.", antwortet sie.
„Was meinst du?"
„Sie wird sechzehn."
Ich reiße meine Augen auf und Hailey hält mir schnell ihre Hand auf den Mund um meinen Überraschungsschrei zu ersticken.
„Wieso hat sie nichts gesagt?", murmele ich und blicke zu May, die sich gerade seelenruhig einen Muffin auf den Teller legt.
Nie im Leben hätte ich das erraten.
„Sie will nicht, dass groß gefeiert wird. Vermutlich fällt ihr erst heute Abend ein, dass sie morgen Geburtstag hat.", meint Hailey und lächelt.
„Ich habe aber gar kein Geschenk für sie!", fällt mir ein.
„Niemand hat das. Sie hasst es.
Wenn du ihr morgen ein Geschenk gibst, wird sie es nicht aufmachen."
Ich seufze.
„Alles klar."
Wir setzen uns zu dritt an einen Tisch und ich habe das Gefühl, jede von uns denkt an etwas anderes, obwohl wir über die selben Themen reden.
Ich lerne die beiden erst noch kennen, doch ich kann mir vorstellen, was in deren Köpfen vorgeht.
Können sie sich denken, was in meinem los ist?
Ich schätze nicht.
Dafür bin ich ein zu großes Geheimnis.
Sobald ich fertig gegessen habe, verabschiede ich mich von May und Hailey, weil ich jetzt einfach etwas Zeit für mich brauche.
Das Gewitter ist vorbei, und mittlerweile müsste es so um die fünf Uhr sein.
Ich laufe einfach durch die Flure, als würde ich etwas suchen.
Doch das tue ich nicht.
Bestimmt eine halbe Stunde lang erkundige ich mein neues Zuhause.
Plötzlich kann ich leise Musik hören, und folge den Klängen.
Schnell erkenne ich, dass jemand Gitarre spielt.
Die Gitarrenakkorde werden immer lauter und schließlich gelange ich vor eine große Tür.
Ich stoße sie auf und erblicke einen riesigen Raum voll mit Instrumenten.
Schon das erstaunt mich, doch die Person, die auf dem Boden sitzt und mich überrascht anschaut, ergreift direkt meine volle Aufmerksamkeit.
„Du?", frage ich Edmon ungläubig.
„Was machst du denn hier?", fragt er.
„Ich habe die Gitarre gehört.", meine ich nur.
Edmon nickt und schweigt.
„Du kannst ruhig weiterspielen.", ermuntere ich ihn.
Ganz egal wie schlecht unser Start war, ich kann nicht leugnen, dass er unfassbar gut Gitarre spielt.
Es scheint ihm etwas unangenehm zu sein, als er seinen Blick senkt und weitere Akkorde spielt.
Diesen Gesichtsausdruck habe ich bei ihm noch nie gesehen.
Ich unterdrücke mein Lächeln und komme näher.
„Spielst du auch ein Instrument?", fragt er mich, als ich mich neben ihn setze.
„Klavier.", antworte ich.
So eine normale Frage aus Edmons Mund zu hören ist wirklich außergewöhnlich.
„Spielst du mir was vor?"
Ich lache.
„Garantiert nicht."
„Wieso nicht?", fragt Edmon grinsend.
„Dazu bin ich viel zu schlecht."
„Kannst du mir trotzdem was beibringen?"
Ich schaue ihn überrascht an.
„Ernsthaft?"
Er nickt schulterzuckend.
Ich grinse und folge ihm zum großen schwarzen Flügel.
Er klopft auf den Platz neben sich und so quetsche ich mich zu ihm auf den weichen Hocker.
Ich zeige ihm eine kleine Notenreihenfolge und er spielt sie direkt perfekt eine Oktave höher nach.
So machen wir weiter, bis er das Stück spielen kann.
Danach grinst er mich zufrieden an.
„Komm mit.", sagt er und springt auf.
„Was? Wohin denn?", frage ich ihn, doch da ist er schon aus der Tür raus und ich beeile mich, um ihn nicht zu verlieren.
Ich folge ihm einige Flure entlang, bis wir an eine Treppe gelangen.
Es fühlt sich an wie eine Ewigkeit, als wir Stufe für Stufe erklimmen.
Edmon dreht sich immer wieder grinsend zu mir um, doch jedes Mal wenn ich frage, was er mir zeigen will, schweigt er.
Als wir endlich oben ankommen, bin ich diejenige die schweigt.
Der Ausblick ist atemberaubend.
Ganz Selia ist zu sehen, weiter hinten einige Berge.
„Hier habe ich mich dazu entschieden, dass ich Gitarre lernen will. Ich habe von hier aus unten einen Straßenmusiker gesehen.
Dann habe ich mit Atrius geredet, und er hat mir ein kleines Buch gegeben, wo es ganz gut erklärt war.", erklärt Edmon mir. Er muss laut reden, hier oben ist es unfassbar windig. Sowohl meine als auch seine Haare fliegen umher, und die schwarzen Strähnen betonen nur noch mehr seine stechend grünen Augen.
Ich lächele, und als Edmon es auch tut, fällt mir auf, dass ich noch nie ein wirklich echtes Lächeln bei ihm gesehen habe. Es steht ihm.
„Hör mal, es tut mir leid, dass wir so einen schlechten Start hatten.", sagt er plötzlich.
Ich schaue ihn überrascht an. Ich hätte nicht erwartet, dass ausgerechnet er sich entschuldigt.
Und dann auch noch bei mir.
„Ich habe es dir nicht wirklich leicht gemacht. Gibst du mir eine zweite Chance?", fragt er und zieht fragend seine Augenbrauen hoch.
Ich grinse und halte ihm meine Hand hin.
„Freunde?"
Er schüttelt sie.
„Freunde.", stimmt er mir zu.

Voilà, Kapitel 9.
Was haltet ihr von Elias?
Glaubt ihr, die Maske hat ihn geschickt?
Und was haltet ihr von Jane und Megan?
Wird Edmon und Lias Freundschaft halten?
Voten und Rückmeldung bitte nicht vergessen!
Ich wünsche euch noch einen schönen Tag :)

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