2. Frei wie ein Vogel
Aus Dokumentationen kenne ich das Bild, von alten Projektoren, bei denen man Filmrollen einlegen musste. Die einzelnen Sequenzen liefen dann an einer Lampe vorbei, deren Licht die Inhalte auf die Leinwand brannte. Manchmal liefen die Streifen zu langsam an der Lampe vorbei oder es hakte, dann hatte man kurz das Gefühl, das Geschehen würde rückwärts ablaufen oder man sah die Übergänge zerhakt, statt als fließende Bewegung.
Mein bisheriger Tag ist genauso unrund gelaufen wie einer dieser alten Filme. In gewisser Art und Weise, glaube ich. Immer wieder tauchen einzelne Szenen des Tages vor meinem inneren Auge auf, wie unsaubere Übergänge zwischen den Bildern, die das Geschehen stocken lassen. Die mir das Gefühl geben, die Zeit läuft rückwärts - was gar nicht das schlechteste wäre, aber während ich das denke, berappelt sich die Welt und dreht sich weiter. Immer weiter.
Ich erschaudere. Vor meinen Augen nimmt die Umgebung klare Umrisse an. Ein Park. Bäume. Wiese. Gestrüpp, dessen Name mir noch niemals bekannt war, das aber nette rosafarbene Blüten trägt und den Blick auf den kleinen Spielplatz versperrt, an dem wir beim nächsten Augenaufschlag bereits vorbeigefahren sind. Das grelle Gelb des Klettergerüsts brennt sich in mein Hirn, durch das meine Gedanken mit einer andächtigen Trägheit wandern, als wäre es mit Wackelpudding gefüllt.
Die Sequenz eines Stummfilms legt sich über die konfuse Realität. Der Richter, wie er hinter seinem hohen Tisch steht. Alle Augen auf ihn gerichtet. Auch meine. Wie sich seine Lippen bewegen. Hallend überlagert der Ton zeitversetzt das Bild, hämmert sich in meine Stirn, ohne verstanden zu werden. Damals nicht. Vor ein paar endlosen Minuten. Allmählich, mit jedem Mal mehr, dringt ein bisschen mehr der Erkenntnis zu mir hindurch, die hinter den Zahlen und verwirrenden Worten steckt. Mein Urteil.
Seit mehr als vier Monaten sitze ich in U-Haft. Adresse, JVA Ossendorf. Wegen unerlaubten Handelns mit Betäubungsmitteln. Heroin. Vielleicht auch Crack oder Speed. Koks, Gras, LSD, Ecstasy - ich kann es schwer sagen, denn ich habe nie in die Rucksäcke hineingeschaut, die ich überbracht habe. Ich wusste aber sehr wohl, dass sich darin weder Hundefutter noch Wunderwolle befand. Eine Tatsache, die ich bei der Polizei bereits zu Protokoll gegeben hatte, bevor mein Pflichtverteidiger sie herunterspielen konnte. Wie viel? Wie oft? Wie lange? Fragen, auf die ich mehr oder weniger schwammige Angaben machen konnte, sie aber nach bestem Wissen und Gewissen gegeben habe.
Das Ergebnis: Vier Monate. Eine Freiheitsstrafe von vier Monaten. Das Schlimmste und das Beste, das mir passieren konnte, denn meine zu verbüßende Strafe wird mit dem, was ich bereits während der Untersuchungshaft abgesessen habe, vergolten. Das bedeutet, ab dem heutigen Tag bin ich ein freier Mensch. Frei, das Gefängnis, in das mich die Justizbeamten zurückbringen, nach Räumung meiner Zelle zu verlassen. Frei, dorthin zu gehen, wohin immer ich möchte. Frei, zu tun und zu lassen, wonach es mir im Rahmen des Gesetzes beliebt.
Aus der Spiegelung des Seitenfensters schaut mich eine ausdruckslose Miene an. Lange, glanzlose, zu einem fahlen Zopf gebundene, blonde Haare. Graue Augen, die in tiefen Höhlen liegen, umrahmt von dunklen Ringen, gemalt auf eine nahezu weiße Leinwand. In diesem Gesicht liegt alles mögliche, aber keine Freude. Keine Genugtuung. Immerhin ein dumpfer, grimmiger Lebenswille, doch er ertrinkt in einem Meer aus Verzweiflung und Angst, die sich in meinen wässrigen Augen widerspiegelt. Meine Lungen fühlen sich an, als wären diese bereits geflutet worden. Das Wasser steht mir bis zum Hals.
Seit zwei Wochen weiß ich, dass es so kommen könnte. Genauso lange, frage ich mich, was ich mir für einen Ausgang gewünscht hätte. Ich habe die ganze Zeit keine zufriedenstellende Antwort darauf gefunden und eigentlich ist es sinnlos, noch weiter danach zu suchen. Es gibt sie nicht, die perfekte Lösung. Sie ist wie ein kindlicher Wunschzettel, wie Gott und wie die Vorstellung, dass Elvis noch leben könnte, ein Hirngespinst, das uns solange bei Laune hält, bis wir die Fadenscheinigkeit dahinter erkennen. Was ich aber gerade brauche, wäre ein sicheres Netz - stattdessen ist da bloß ein tiefes Loch, unendliche Meter tief, das mir den Atem raubt, je näher wir darauf zusteuern.
Ein Loch, in dem fiese Monster lauern, deren Rufe und Schreie sich durch die Watte in meinem Kopf kämpfen, wie hungrige Maden, deren Schmatzen immer deutlicher in mein Bewusstsein dringt. Ihre Antwort auf die Frage, was mich nun erwartet.
Herr Mayewski, mein Sozialarbeiter im Gefängnis, wüsste, was zu tun wäre, doch alle seine Ratschläge suche ich in den Fluten meines Inneren vergebens. Da wir in der verbliebenen Zeit keine Wohnung für mich auftreiben konnten, werde ich mich wohl selbst darum kümmern müssen. Ich habe Papiere, sage ich mir, in der Hoffnung, dass es mein stoisch trommelndes Herz beruhigt. Einen Personalausweis, eine Versichertenkarte. Ich habe ein Konto, das vor Pfändungen geschützt ist und auf das regelmäßig Sozialhilfe eingezahlt wird - solange ich mich an die Auflagen des Amts halte.
Herr Janson. Mein Puls stolpert und ich atme tief ein, um das Brennen in meinen Augen zu verjagen. Seit meiner U-Haft habe ich vier Briefe erhalten, auf denen sein Name im Briefkopf stand. Mein zuständiger Bearbeiter beim Jobcenter. Jedes einzelne Mal war mein erster Impuls gewesen, das Papier zu verbrennen, zu zerreißen, notfalls aufzuessen, um nie wieder an die damaligen Demütigungen erinnert zu werden. Bald werde ich ihm wohl persönlich gegenüberstehen können - sollen - müssen. Falls er mich findet. Falls seine Post mich findet. Falls ich einen Ort finde, an dem man mich finden kann. An dem ich zu mir finden kann - und an dem Baxter mich nicht findet.
Ich schlucke, was den Kloß in meinem Hals zu zerreißen droht. Baxter. Hitze schießt mir ins Gesicht, die Wangen, die Ohren, geraubt aus meinen nunmehr eiskalten Händen. Weder ihn noch seine Leute hat man gefunden. Ob noch nach der Crew meines Ex-Dealers gesucht wird, steht in den Sternen. Was ich aber mit Sicherheit sagen kann, ist, dass er nach mir sucht. Denn die Rechnung, die wir beide offen haben, lässt sich nicht mit ein paar Tagen absitzen. Den Preis der letzten Lieferung, die ich in einem Anflug von Idealismus und blanker Verzweiflung dem Rhein übereignet habe, kennt nur er. Und wenn er mich findet, werde ich ihn zahlen müssen. Denn ich bin frei. Frei wie ein Vogel. Mit anderen Worten: Vogelfrei.
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