1. Exotisches Terrain

Irgendwie war Christian ein kleines bisschen stolz auf sich, dass er es letztlich doch geschafft hatte, ohne fremde Hilfe zurück auf die Intensivstation zu finden. Seit einer Woche versah er hier sein Praktikum, als Teil seiner Ausbildung. Auf dem stationseigenen Flur fand er sich auch problemlos zurecht, den Weg zur Pforte und damit zum Ausgang fand er sogar im Schlaf, nur jenseits dieser bekannten Pfade, da wurde es eng. Insbesondere, wenn er auf Ratschläge alteingesessener Kollegen hörte, die mit den Worten "Nimm doch die Abkürzung durch ..." begannen. Dieses Experiment hatte er heute auf dem Weg zum Labor erneut gewagt. Hin war kein Problem gewesen, aber wie genau er es geschafft hatte, auf dem Rückweg in der Kühlkammer zu landen, das wollte er gar nicht so genau wissen. Vielleicht der unterbewusste, aber sehr dringende Wunsch nach Ruhe. Wie viele Praktikanten dort wohl verschollen und für schlechtere Zeiten aufbewahrt wurden?

Am blau-weißen Tresen des Stationsstützpunkts angekommen, seufzte er. Es war Zeit für den Feierabend. Hatte er heute überhaupt eine Pause gehabt? Ja, doch, erinnerte er sich dunkel. Auch schon wieder zu lange her. Genauso wie der letzte freie Tag. Eine gefühlte Ewigkeit.  Insgeheim ärgerte er sich selbst über die Jammerei, aber da er die letzten Wochen fast ausschließlich Theorieunterricht gehabt hatte, war er nichts mehr gewohnt, das das Wort Schicht auch nur beinhaltete. Außer Schichtsalat, vielleicht. Auf ihre Weise hatte die Lernerei schon geschlaucht, aber es war ja nicht so, als hätte er hier damit aufhören können. Immer, wenn er gerade das Gefühl hatte, verstanden zu haben, wie die Dinge liefen, waren es insbesondere gerne die Patienten, die ihm bewiesen, wie unwissend er doch war. Selten aus böser Absicht. Bei den meisten ihrer Schützlinge wäre die Behauptung einer bewussten Provokation eine haltlose Unterstellung gewesen, denn bei der Mehrzahl beschränkte sich die Anwesenheit größtenteils auf den körperlichen Part der Existenz.

"Na, gedanklich schon im Freibad?", neckte ihn Ina, eine der Intensivschwestern. Sie war einen halben Kopf kleiner als Christian, was wie ihr eher zierlicher Körperbau im krassen Gegensatz zu ihrem Selbstbewusstsein stand. Eine braune Strähne lugte unter dem türkisen Haarnetz hervor. Sie gehörte zu jenen, die sich bisher die größte Mühe gegeben hatten, ihm alle offenen Fragen zu beantworten und ihn quasi zu allem, was im Entferntesten als Interessant bezeichnet werden sollte, mitschleifte.

Ertappt spürte Christian, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg. "So halb", gestand er kleinlaut. Wobei sein Plan bisher keinen Freibadbesuch vorsah.

Inas Schmunzeln flaute ab. "Wo bist du gewesen? Stenner hat dich gesucht."

Da wurden Christians Augen groß. "Ich war unten im Labor. Hatte mir Stenner doch aufgetragen." Er ging den Auftrag in Gedanken noch einmal durch, aber soweit er sich erinnerte, war es unmissverständlich die Anweisung gegeben, den Kram unverzüglich dort abzugeben.

"Hast auch nichts verpasst." Ihm gegenüber winkte Ina glücklicherweise ab. "Dann hat er das wieder verbaselt, dass er dich losgeschickt hat. Mach dir nichts draus, das kommt vor." Plötzlich stutzte sie und sah sich fragend um. "Was wollte ich denn jetzt?", murmelte sie, ehe sie sich konzentriert die Nasenwurzel massierte.

Diese Situation kannte Christian nur zu gut. Da nahm man sich etwas vor, das man mal eben schnell erledigen wollte, wurde unterbrochen und plötzlich war diese wichtige Information weg. "Einen Caipirinia auf Sansiba?", schlug er grinsend vor.

Ina lachte leise auf. "Das auch", bestätigte sie ihm, als ein hochfrequentes Piepen die kurzweilige Stille des Ganges untermalte und sie mit den Augen rollen lief. "Das wollte ich jedenfalls nicht", kommentierte sie den Laut seufzend. "Gehst du eben? Die Nährstoffsonde von Frau Elas."

Mit einem kurzen Seitenblick zur Uhr nickte Christian, der sich vor dem Kommenden wappnete, das mit "Und wenn du gerade da bist", begann und mit "Ach, ich komm eben mit" endete. Die nächste halbe Stunde würde er aus dem Zimmer nicht mehr herauskommen. Aber gut, fürs Arbeiten wurde er schließlich bezahlt.

Beim Betreten des abgetrennten Bereichs, fiel ihm das leere Bett auf, dass direkt hinter dem Durchgang stand. Die anderen beiden Lager waren belegt, aber eigentlich hatte das, zumindest heute Morgen, für alle drei Plätze gegolten. Fragend deutete er dorthin, wo zuvor noch Herr Meirichs gelegen hatte, der wegen einer schweren Kopfverletzung und diversen tiefen Abschürfungen hier behandelt worden war. Eine Lederkappe und Jeansjacke mochten auf einer Harley stylisch aussehen, boten bei Kontakt mit Asphalt aber einen verschwindend geringen Schutz, der von der rauen Oberfläche der Fahrbahn. Schicke Textilien und Haut wurden in weniger als einer Sekunde weggehobelt, wenn man mit einer Anfangsgeschwindigkeit von geschätzten hundertdreißig darüberschlitterte. Musste für die Kräfte am Unfallort ein einprägsames Bild gewesen sein - wobei das, was sich unter den Verbänden verborgen hatte, heute Morgen ebenfalls ziemlich eindrücklich gewesen war. Seit drei Tagen war er bei ihnen zu Gast gewesen.

Ina hob die Schultern, ehe sie sich der schlafenden Frau Jessen zuwandte. "Das ist das, was du nicht verpasst hast", raunte sie ihm schulterzuckend zu, auch wenn für einen kurzen Augenblick Bedauern in ihren Augen aufblitzte. Sonderlich überrascht wirkte sie jedoch nicht - womit es ihr in etwa so ging wie Christian. "Und was hast du heute noch so vor?"

Christian überlegte einen Moment, ob ihm der Themenwechsel recht war. Jedenfalls wollte er kein Trübsal blasen. Seine weitere Tagesplanung war da keine besonders geeignete Alternative. "Ein Bekannter hat heute einen wichtigen Gerichtstermin", antwortete er vage. Ob es eine gute Idee wäre, sich mit jemandem über die Details auszutauschen? Womöglich kamen dann seine Gedanken zur Ruhe. Auf der anderen Seite hatte die Variante Ablenkung über den Tag recht gut funktioniert und so freute er sich darüber, dass Ina sich bloß kurz fragend zu ihm herumdrehte, sich jedoch nach keinen Details erkundigte. Wenn Christian ehrlich war, hätte er wohl auch gelogen, wenn es darum gegangen wäre, wer diese wichtige Verhandlung hatte und worum es ging. Eine ehemalige Patientin, die wegen Drogenhandels angeklagt war, war ein ziemlich exotischer Gesprächsaufhänger. Und einer, bei dem er selbst ratlos war, was er davon halten sollte. Schlecht geeignet für Smalltalk, den man im Idealfall allein mit dem verlängerten Rückenmark bestreitete, während man die restlichen Kapazitäten für die Arbeit nutzte.

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