Kapitel 29
Jason kochte vor Wut als er aus dem Fenster stieg. Kühler Wind wehte in sein Gesicht und er atmete tief ein. Die frische Luft tat ihm gut und beruhigte ihn für kurze Zeit. Gezielt sprang er in die Tiefe und nach einer Sekunde im freien Fall spürte er wieder Boden unter seinen Füßen. Er machte augenblicklich eine Judorolle, die den Aufprall von seinen Füßen in den harten Untergrund ableitete.
Die drei Meter, die er hinter sich hatte, sahen von unten nach weitaus mehr aus, doch er beachtete den Höhenunterschied nicht weiter. Jason befand sich jetzt auf dem Nebengebäude und suchte nach einer Möglichkeit von dem Dach herunterzukommen. Wenig später entdeckte er eine Feuerleiter, die an der Mauer herabführte. Mit einem metallischen Klirren landete er geschickt auf der rostigen Plattform. Je näher er der Straße kam, desto lauter wurden die Geräusche von laufenden Motoren und quietschenden Reifen. Außerdem stank es viel mehr nach Abgasen und Müll.
Das ist Boston nun mal eben in diesem Viertel. Einfach nur dreckig und alt. In Washington gab es auch manche Orte, an denen es so aussah, aber diese Stadt hatte damit ein gewisses Flair. Es erinnerte ihn an die Tage als Auftragskiller. Er wollte nicht mehr daran denken.
Riley hat Derek umgebracht! Das werde ich ihr nie verzeihen. Mal sehen, was sie zu ihrer Verteidigung zu sagen hat, wenn ich ausquetsche wie eine Zitrone. Er ballte seine rechte Hand zu einer Faust und verkrampfte sich. Wie konnte sie mir so etwas antun?
Der Mann war nun am Ende der Feuerleiter, doch der Boden war noch einige Meter entfernt. Er prüfte die Lage, sprang über das Geländer und landete auf einem dunkelgrünen Müllcontainer. Von dem aus hüpfte auf den Fußgängerweg und war so unbemerkt von den Mitgliedern der Assassin GmbH davongekommen.
Was meinte Riley überhaupt mit ‚nicht willkommen'? Ich meine, ich habe die Gemeinschaft verlassen, aber dass die so nachtragend sein können, hätte ich nicht gedacht. Er ging um den Block und bog in verschiedene Seitengassen ein. Er kannte den Standort der alten Fabrik genau und wusste, dass das hier eine Abkürzung war. Das letzte Mal war ich mit Riley dort und wir haben aus Spaß miteinander trainiert, um fit zu bleiben. Ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen, doch das verschwand gleich wieder.
Sie hat ihn umgebracht! Er war mein bester Freund! Wütend kickte er eine zertretene Aluminiumdose aus dem Weg und es hinterließ ein schepperndes Geräusch. Sein Blick war wieder der Straße zugewandt und er entdeckte die ehemalige Fabrik.
Von außen wie auch von innen ließ sie zu wünschen übrig. Überall fanden sich Kritzeleien und die Fenster waren staubig und teilweise eingeschlagen. Generell ließ das baufällige Gebäude den Eindruck erwecken, als würde es jede Sekunde einstürzen. Viel verändert hat sich hier nicht. Jason berührte die kalte Wand und Putz bröckelte an der Stelle herab. Er wischte sich in seiner Jeans die Hand sauber und betrat die riesige Halle. Unter seinen Füßen knirschten Glas- und Gipsbrocken.
Durch das Gehen wirbelte er Staub auf und durch das Scheinen der tiefstehenden Sonne glitzerten die winzigen Partikel in der Luft und tauchten den Innenraum in ein dunkles Orange. Riley ist noch nicht hier. Er beschloss sich ein wenig umzusehen.
Zwischen zwei breiten Säulen lugte er hindurch und bahnte sich so seinen Weg durch die Halle. Jede paar Meter gab es kleine Schutthaufen.
Anscheinend wurde etwas aufgeräumt, um es für die Neulinge angenehmer zu gestalten. Die Assassin GmbH ist auch nicht mehr das, was es einmal war. Seine Aufmerksamkeit wurde auf eine ganz bestimmte Stelle gerichtet. Weiter hinten sah er einen größeren Haufen, der umgestoßen wurde. Vielleicht ist jemand im Gebäude.
Jason zückte seine Pistole aus dem Holster, welche er unter seinem langen T-Shirt versteckt hatte, und trat näher heran. Gut, dass ich sie mitgenommen habe. Er hielt die Arme nach vorne ausgestreckt und schwenkte die Waffe langsam von einer Seite zur anderen. Auf einmal hörte er leise Geräusche aus dieser Richtung.
Vielleicht ist das eine Falle. Vielleicht hat mich Riley reingelegt. Ganz flach presste sich der Mann gegen eine der Säulen. Er kontrollierte, ob er geschützt war, dann schlich er weiter. Das Geräusch wurde zunehmend lauter. Jason entsicherte seine HK USP.
„Jetzt zielst du schon auf Ratten?" Instinktiv schwenkte er die Pistole zur Stimmquelle. Er senkte die Waffe, als er Riley erblicke.
„Du kannst von Glück reden, dass ich nicht mehr auf Leute schieße, so wie du."
„Als würden dich deine sieben Jahre als Gesetzeshüter von deinen Sünden befreien", keifte sie. Derek war auch FBI-Agent. Er verdiente diesen Tod nicht. Jason wechselte das Thema. „Warum?"
„Wir kommen wohl gleich zur Sache. Eine Gegenfrage an dich zuerst. Wer war Derek Hennessey für dich?" Sie funkelte ihn mit ihren giftgrünen Augen an.
„Er war mein bester Freund!", brüllte er. Mit einer flinken Handbewegung schnappte sich Riley seine Waffe und schmiss sie ihm gegen die Schläfe. Durch die plötzliche Krafteinwirkung, brachte es Jason aus dem Gleichgewicht und er fiel auf die Seite.
„Falsche Antwort." Sie warf die HK USP auf einen Schutthaufen. Jasons Sicht war durch den Staub getrübt und er musste husten. Die linke Seite seiner Stirn pochte und ein durchdringender Schmerz erfüllte ihn. Automatisch drückte er mit der Hand gegen die Wunde, nicht wissend, dass seine Augenbraue geplatzt war und durch die dreckigen Finger alles nur noch mehr brannte.
„Ich war deine beste Freundin, schon vergessen? Ich war der einzige Mensch, der dir immer Zuneigung entgegengebracht hat. Wir waren wie Geschwister füreinander. Bis ich dir nicht mehr gut genug war und du gegangen bist! Sieben Jahre lang hast du mich leiden lassen, jetzt habe ich den Spieß umgedreht. Fühlt sich beschissen an, wenn der bester Freund einen verlassen hat, nicht wahr?" Das Motiv war also Rache.
„Du hast ihn nur umgebracht, damit du Gerechtigkeit empfindest? Das ist doch krank!" Langsam kam er wieder auf die Beine. Sein Schädel brummte noch, aber durch den Adrenalinkick, spürte er es kaum.
„Und wieder interpretierst du völlig falsch."
„Dann sag mir doch die Wahrheit."
„Wer sagt, dass ich Derek getötet habe?" Jetzt war Jason verwirrt.
„Du lügst. Ich habe die Tatortfotos selbst gesehen. Das war deine Handschrift, die du dort hinterlassen hast. Ich kenne dich gut genug, um zu wissen, dass nur dir solche Absurditäten einfallen."
„Ich fasse das jetzt mal als Kompliment auf, aber bezüglich deiner Annahme liegst du falsch." Riley schmunzelte. Sie ist so kalt geworden. Das ist nicht mehr die Riley, die ich in Erinnerung habe.
Seine honigfarbenen Augen glühten vor Trauer und Zorn. Die Frau griff in ihre schwarze Lederjacke und zog einen dünnen Faden heraus.
„Das müsstest du ja erkennen." Sie ließ den Gegenstand zwischen ihren grazilen Fingern hin und hergleiten. Lukes Armband!
„Du krankes, sadistisches Monster!" Mit aller Wucht stürmte er auf sie los, wie ein Rugbyspieler auf dem Feld. Sie fiel zurück und er landete auf ihr. Für einen kurzen Moment bekam sie keine Luft mehr. Jasons Gewicht drückte auf ihre Lungen und hielt sie fest am Boden. Dann ließ der Druck nach und sie schnappte nach Sauerstoff.
„Idiot! Du glaubst doch nicht, ich hätte ihn kalt gemacht, oder?", zischte sie und stieß ihn weg.
„Ach nein? Und wieso wurde er dann vor ein paar Tagen tot in seiner Wohnung aufgefunden! Die sagten, es wäre Selbstmord, aber du warst sicher diejenige, die ihm die Tabletten unters Essen gemischt hat!"
„Was hätte ich denn von seinem Tod?", fragte die Frau.
„Sag du es mir doch." Er gewann wieder die Oberhand und trat ihr in den Bauch. Daraufhin wurde sie von ihm weggeschleudert und krachte schmerzhaft gegen die nächste Säule. Jason stand auf und ging zu ihr. Das Armband, was sie immer noch fest umklammerte, riss der Mann ihr aus der Hand. Aus ihrer Unterlippe floss ein kleines Rinnsal Blut ihr Kinn hinab und tropfte auf die Lederjacke.
„Du kapierst es schon wieder nicht." Sie rappelte sich auf, putzte sich den weißen, feinen Staub von ihrem Gewand und sprach erneut.
„Sylvester war nicht mein Opfer. Im Gegenteil, langsam finde ich ihn sogar sympathisch. Immerhin teilen wir uns die Eigenschaft, dich zu hassen." Beim letzten Satz hörte Jason nicht mehr zu.
„Du hast in Präsens gesprochen. Soll das heißen...Luke lebt?" Sie klatschte verächtlich. „Applaus, Sherlock. Sie haben das Rätsel gelöst."
„Aber...aber das heißt ja..."
„...dass Sylvester Lukas Anderson mein Schüler war", vervollständigte sie. Sie lächelte boshaft.
„Er tötete Derek."
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