Kapitel 25
„Komm, steh auf. Jonathan steh endlich auf! Heute ist unser großer Tag", rief eine Stimme von draußen. Die dazugehörige Person öffnete nun die Tür und trat in das minimalistische Zimmer. Von den euphorischen Geräuschen wurde der Mann geweckt.
Amelia, lass mich noch ein wenig schlafen. Ich hab diese Nacht kein Auge zugetan. Er versteckte sich unter seiner Decke und hoffte sie würde verschwinden. Als hätte sie das jemals getan. Jonathan kannte sie gut genug, um zu wissen, dass das niemals passieren würde. Aber er war ein Optimist. Sie rüttelte an der flauschigen Bettwäsche.
„Schlafen kannst du danach auch. Das ist wichtig und ich finde, wir sollten vorbereitet sein. Wer weiß, was für Aufgaben sie und noch geben könnten." Er musste sich eingestehen, dass Amelia recht hatte. Wir haben unsere Aufnahmeprüfungen zwar geschafft, aber vielleicht kommt heute noch etwas Unerwartetes. Ich will nicht scheitern. Nicht nachdem, was ich alles machen musste.
„Ich weiß", murmelte er. Die Decke dämpfte seine Worte und Amelia nahm nur mehr ein Grunzen wahr. Deshalb riss sie ihm den warmen Stoff weg. Grelles Sonnenlicht blendete ihn und er verzog das Gesicht.
„Musste das sein?" Er hielt sich die Hand vor seine Augen, damit er sich langsam an die Helligkeit gewöhnen konnte.
„Ja, und jetzt komm." Die Frau zerrte ihn förmlich aus dem Bett. Sie hatte Kraft, und Jonathan war viel zu müde, um sich gegen sie zu wehren. Mit einem dumpfen Geräusch knallte er am Boden auf. Zunächst entfloh ihm ein gequältes Stöhnen, weil das Holz so kalt war, doch er gewöhnte sich schnell an die Beschaffenheit der Oberfläche und machte erneut die Augen zu.
„Was ist denn los mit dir? Du bist doch sonst immer so energiegeladen", meinte Amelia.
„Ich konnte nicht schlafen", antwortete er und fischte sich seinen Polster, um bequemer zu liegen. Aber seine Freundin war zu schnell und nahm ihm das weiche Kissen wieder weg. „Das habe ich stark angenommen. Wegen was denn?" Der gestrige Mord, den er verüben musste, nahm ihn mit. Es war ein einziger Schuss in den Kopf. Jonathan hatte ein Mal abgefeuert, und änderte damit alles. Diese Patronenkugel krempelte nicht nur sein Leben, sondern auch das des Betroffenen, seinen Angehörigen und das des Auftraggebers um. Es machte ihn zu etwas, was er nicht sein wollte.
Andererseits hatte er endlich die Anerkennung, nach der er jahrelang gestrebt hatte. Jetzt war er nicht mehr das Opfer. Jetzt stand er endlich auf der anderen Seite. „Na wegen was wohl. Der Zeremonie, natürlich", log er. Vor Amelia wollte er nicht schwach wirken. Also rappelte er sich auf und nahm sie brüderlich in den Arm.
„Heute werden wir im Mittelpunkt sein. Heute haben wir uns das verdient, was uns zusteht: Gesehen und respektiert zu werden."
***
Im Aufenthaltsraum hatten sich bis auf wenige schon alle versammelt. Es herrschte eine leicht angespannte Atmosphäre, die vor allem die zwei Ausgebildeten deutlich spürten. Sie waren aufgeregt und konnten es nicht erwarten, endlich Teil dieser Gemeinschaft zu sein.
„Wo bleibt Megan nur?", dachte Amelia laut, während ihr Blick durch den einigermaßen großen Raum schweifte. Sie war nirgendwo zu entdecken. Die junge Frau verschwand hinter dem schweren Vorhang der improvisierten Bühne, bestehend aus einem quaderförmigen, hohlen Sperrholzkörper. Sofort erblickte sie Jonathan. Er stand neben Rufus und besprach die letzten Einzelheiten.
„Wisst ihr vielleicht, wo Megan ist?"
„Ist sie nicht draußen? Ich habe mich auch schon gefragt, wo sie steckt", antwortete Jonathans Mentor. Sie schüttelte den Kopf.
„Wenn du willst, dann helfe ich dir. Vielleicht hast du sie ja nur übersehen", meinte ihr Freund. „Das hoffe ich zutiefst." Jonathan und sie spähten durch den Vorhang. Er hielt Ausschau nach der kurzhaarigen, kleinen Frau, fand aber nur die anderen.
George und seine anderen zwei Persönlichkeiten, Priscilla, Charles, die Zwillinge Ava und Alec, Sam, Josy, Fergus, Benjamin, aber keine Megan. „Ich sehe sie auch nicht", musste er zugeben. Jonathan bemerkte die steigende Nervosität bei Amelia und versuchte sie mit aufmunternden Worten zu besänftigen.
„Sie wird sicher noch etwas Wichtiges zu erledigen gehabt haben und kommt in einer Minute."
„Was ist denn heute wichtiger als die Aufnahmezeremonie?", fauchte sie. Er wusste es nicht. Schweigend wandte er sich wieder den Leuten im Aufenthaltsraum zu. Alle redeten miteinander und tauschten Geschichten über ihren großen Tag aus oder erzählten sie den Kleinen. Jeder mochte solche Feierlichkeiten. Dann stieß man endlich wieder auf Leute, die man seit längerer Zeit nicht mehr gesehen hatte. Viele nutzen diese Gelegenheiten, um zu plaudern oder sich zu amüsieren.
„Da ist sie!", rief Jonathan leise und winkte Amelia zu seinem Standort. Sie war inzwischen auf die andere Seite gegangen, um eine bessere Sicht zu erhaschen und sah Megans Gestalt ebenfalls. Sie sieht aber gar nicht gut aus. In Gedanken beobachtete er sie, bis die Mentorin beim Vorhang angekommen war. Hastig lief Amelia zu ihr hin und fragte sie nach Details für die Zeremonie. Ihre Trainerin wirkte abwesend, doch sie antwortete gezielt auf alles.
„Geht es dir gut?", erkundigte sich Rufus, der zu ihr getreten war. Jonathan war beunruhigt und näherte sich deswegen auch. Vielleicht wird die Veranstaltung abgesagt. Das wäre furchtbar.
„Es passt alles so weit", meinte sie. Allen drei kam es so vor, als würde die Frau vom Thema ablenken wollen.
„Die Zeremonie dürfte in zwei Minuten beginnen, wenn ich mich nicht irre. Geht ihr bitte mit Rufus nochmal den Ablauf durch, ich muss noch schnell etwas mit Evelyn besprechen." So schnell wie sie gekommen war, so schnell war Megan auch schon wieder weg. Jonathan und Amelia waren verwirrt, doch Rufus schien für seinen Teil die Bitte akzeptiert zu haben, und erklärte den Schülern Schritt für Schritt, was zu tun war.
„Und vergesst nicht aufzustehen und nach vorne zu gehen, wenn man euch bei euren neuen Namen nennt. Ihr müsst wirklich aufpassen, denn ihr seid wahrscheinlich noch nicht gewohnt, so genannt zu werden. Alles klar?" Sie bejahten die Frage.
„Gut, dann dürfte es jetzt los gehen." Rufus schickte die beiden nach draußen und wies sie auf ihre Plätze. Er selbst setzte sich daneben hin. Langsam kamen alle zur Ruhe und nahmen sich einen Stuhl.
Es wurde noch etwas getuschelt und geflüstert, doch als eine hochgewachsene Dame mittleren Alters die Sperrholzbühne betrat, war kein Laut mehr zu vernehmen. Megan war Sekunden nach ihr da gewesen und stellte sich leise in den Hintergrund. Um von dem mangelhaften Zustand des Podests abzulenken, stand in der Mitte ein Pult mit einem Mikrofon und links und rechts befanden sich zwei Lautsprecherboxen. Sie waren zwar alles andere als notwendig in dem relativ kleinen Raum, doch sie verliehen dem Ganzen eine ehrfürchtige Wirkung. Die Stöckelschuhe der Frau klackerten und durch den Luftkörper verstärkte sich deren Resonanz. Als sie vor dem Mikrofon stand, hielt sie einen Augenblick inne.
„Sehr verehrte Mitarbeiterinnen, sehr verehrte Mitarbeiter. Ich, Evelyn Hall, Direktorin der Assassin GmbH, begrüße Sie herzlichst zur alljährlichen Aufnahmezeremonie unserer neuen Killer." Sie machte eine kurze Pause, denn durch das Mikrofon hallten die letzten Worte noch nach. Außerdem kündigte sich Beifall an und alle klatschen vornehm.
Wie bei jeder dieser Tage begann die Frau auf der Bühne nach dem Applaus ihre Eröffnungsrede. Da es sich jedes Jahr um dieselbe handelte, hörte das Publikum nur teilweise zu, doch Amelia und Jonathan hingen an ihren Lippen. Sie erfuhren die Geschichte hinter dieser Gesellschaft und lauschten gespannt bei der Rede über Vergänglichkeit. Nach einer Stunde kam es zum Höhepunkt der Zeremonie. Die Ernennung der neuen Auftragskiller. „Wie ich bereits ankündigte, sitzen unter uns zwei neue Mitglieder unserer innigen Gemeinschaft. Die erste ist eine junge Dame. Sie hat von Anfang an Mut, Stärke und Wille gezeigt und diese Attribute müssen belohnt werden. Einen kräftigen Applaus für Riley Blake!" Die Zuhörer stimmten alle mit ein. Stolz trat sie hervor und gesellte sich zu der Frau auf die Bühne.
Wie Rufus gesagt hatte, gab es einen festen Handdruck und sie bekam eine kleine Mappe für ihre neue Identität. Als das Klatschen zu Ende ging, stieg sie von der Plattform und setzte sich wieder auf ihren Platz. Ihre Hände schwitzten etwas und sie atmete schnell, aber das legte sich bald.
„Herzlichen Glückwunsch, Amelia, äh, ich meinte, Riley", flüsterte Jonathan zu ihr und sie nickte dankbar. Dann wandte er sich erneut der großen Frau, als sie weitersprach.
„Der zweite ist ein junger Mann mit einem unglaublichen Charisma. Er ist redegewandt und ein Charmeur, was hervorragende Waffen sind, um jemanden um den Finger zu wickeln. Aber durch seine gezielte Schlagfertigkeit kann er auch einen noch so schlauen Fuchs austricksen. Einen aufrichtigen Applaus für Jack Hunter." Er konnte es nicht fassen, als er von der Bühne auf die Leute herabblickte. Endlich bekam er den gebürtigen Respekt und die Anerkennung, die er sein Leben lang haben wollte.
Jonathan nahm seine Mappe und schaute Riley tief in die Augen. Das hier habe ich nur dir zu verdanken. Er lächelte.
Mein Name ist Jack Hunter und ich bin offiziell ein Auftragskiller.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top