Kapitel 2: Kreidewörter

Als die Schulklingel das Ende der Prüfung verkündete sprang Irvina in Schallgeschwindigkeit auf: „Jemand hat eine Nachricht auf Rosies Spind geschrieben! Bitte, Mrs Troy: Können sie das jetzt endlich ernst nehmen? Es klang wie eine Drohung, verdammt noch mal!"

Mrs Troy rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über die Nasenwurzel: „Irvina, ich bin dir sehr dankbar dafür, dass du die letzten Minuten so geduldig gewartet hast, aber jetzt hör bitte endlich auf, einen Elefanten aus irgendeiner toten Mücke zu machen. Bob, Paige, sammelt bitte die Prüfungen ein. Und kontrolliert alle noch einmal, dass euer Name vorne drauf steht. Ohne Rechtschreibfehler."

„Wieso sehen sie mich dabei so an?", fragte Fionn Kaperdelsci entrüstet.
"Weil ich schon gesehen habe, wie du Hs in deinen Nachnamen geschrieben hast. Also, streich bitte jedes H raus, was du hingeschrieben hast."
„Ich hab kein -"
„Was ist das dann?", fragte Marjorie neben ihm und deutete auf das kleine h, das er hinter das p gequetscht hatte.
„Ein Bleistiftstrich.", erwiderte Fionn mit roten Wangen.

Mrs Troy schnalzte missbilligend mit der Zunge und packte dann die eingesammelten grünen Hefte in ihre große Ledertasche: "Fionn, gib mir deins bitte noch - dankeschön. Habe ich irgendeins vergessen? "

Vereinzeltes Kopfschütteln.

„Gut, dann verschwindet bitte und genießt ein bisschen das schöne Wetter da draußen, während ich -"
Die Tür wurde nach kurzem, energischen Klopfen leicht aufgedrückt. Zu aller Überraschung erschien dahinter die Direktorin: „Mrs Troy? Wir haben ein kleines Problem."
„Was?", fragte Mrs Troy verwirrt. „Mit mir?"
„Nein, nicht mit ihnen. Aber ein Mädchen aus ihrem Mathekurs wird vermisst."

Alle Blicke richteten sich auf Mrs Troy, die sich davon nicht aus der Ruhe bringen ließ. Mit neugierigen Blicken kam sie deutlich besser klar, als mit vorgestellten Uhren: „Das kann nicht stimmen. Ich habe eine Anwesenheitsliste ausgefüllt!"

„Ja, und auf dieser Liste haben sie Rosie Vaughn als fehlend eingetragen.", sagte die Direktorin.
„Das ist korrekt."
„Rosie Vaughn ist nicht auffindbar."

Mrs Troys Gesichtszüge fielen auseinander: „Wie bitte? Aber Rosie würde niemals eine Prüfung schwänzen, sie ist eine pflichtbewusste Schülerin!"
„Wieso haben sie sich dann nicht gewundert, dass sie nicht in ihrer Prüfung saß?"
„Ich nahm an, sie wäre im Krankenflügel. Wegen Fieber oder etwas ähnlichem.", antwortete Mrs Troy, die es immer noch schaffte, ihre Würde zu wahren.

„Eine logische Annahme. Nur ist sie dort nicht und war dort auch nie.", sagte die Direktorin.

„Vielleicht -", begann Mrs Troy und verstummte mitten im Satz, drehte sich zu ihren Schülerinnen und Schülern um, die immer noch im Raum hinter ihr standen und versuchten, jedes einzelne Wort bestmöglich zu verstehen. „Meine Güte, jetzt verschwindet doch endlich! Ihr könnt doch alle laufen, oder?!"

Leises Murmeln setzte ein, während Marjorie und die anderen ihre Smartphones vorne aus dem Karton holten, unter dem stechenden Blick von Mrs Troy und der Direktorin Miss Gibson in ihre Rucksäcke und Umhängetaschen packten und schließlich mit gesenkten Köpfen den Raum verließen.
Marjorie war eine der letzten, hinter ihr ging nur noch Korbinian. Mrs Troy sah sie beide noch ein letztes Mal streng an, bevor sie die Direktorin in den Klassenraum winkte und die Tür zuzog.

Leise Stimmen drangen durch das dicke Holz, doch einzelne Wörter waren nicht zu verstehen. Trotzdem stand Marjorie dort wie festgefroren. Es war kalt und der bittere Geschmack der Luft war nicht verflogen, ganz im Gegenteil.

„Hey. Was ist das?", fragte Korbinian neben ihr und deutete auf den Flur vor ihnen. Auf den ersten Blick mochte einem die Szene normal erscheinen; der schwarz-weiß gekachelte Boden sah aus wie immer, die grauen Wände ebenfalls. Die Fenster waren vielleicht etwas sauberer als gewöhnlich, dank der grauen Wolken draußen drang nur wenig fahles Sonnenlicht in das Schulgebäude. An der linken Wand reihten sich schmale Spinde aus schwarzem Blech aneinander, vereinzelt standen Jugendliche davor um sich Bücher oder Süßigkeiten herauszuholen.
Das Seltsame war die Anzahl der Menschen. Normalerweise verließen die Schülerinnen und Schüler die Flure auf denen die Klassenzimmer waren so schnell wie möglich, verbrachten die Pausen in Räumen, in denen es wärmer war oder schnappten etwas frische Luft im Innenhof.

Doch jetzt drängten sich Jugendliche vor einen bestimmten Bereich der Spinde und schienen gar nicht daran zu denken, ihre Pause an einem schöneren Ort zu verbringen.

Obwohl Marjorie sonst die Gewohnheit pflegte, solche Menschenmassen eher zu meiden, ging sie langsam darauf zu. Je näher sie den Jugendlichen kam, desto stärker wurde das Gefühl der Anspannung.

„Das meinte Irvina also.", stellte Korbinian schlicht fest.
„Was?", fragte Marjorie und stellte sich auf die Zehenspitzen.
„Die Schrift. Jemand hat Rosies Spind und alle benachbarten mit Kreide beschmiert.", sagte Korbinian. Marjorie gab es auf, sich größer machen zu wollen als sie war und suchte sich stattdessen mithilfe ihrer Ellbogen einen Platz in der dritten Reihe.

Korbinian hatte Recht gehabt; das musste das sein, was Irvina gemeint hatte.
Auf dem schwarzen Spind von Rosie prangten verwischte Buchstaben aus weißer Kreide, die insgesamt vier Wörter bildeten.

Spiel vorbei.
Du verlierst.

„Was für ein Spiel glaubt ihr, ist es? Glaubt ihr ... oh; vielleicht ist es Mensch-ärgere-dich-nicht?", schlug Bob laut vor.
„Genau, Bob. Weil Mensch-ärgere-dich-nicht auch so bedeutungsvoll ist.", meinte Paige abschätzend und verschränkte die Arme. „Wir reden hier über ein krasseres Spiel."

„Vielleicht hat sie gewettet?", vermutete Darcy und legte den Kopf schief.
„Das kann sein!", stimmte Paige ihr zu. „Sie hat gewettet und zwar um etwas richtig krasses!"
„Aber um was? Und wer bezeichnet eine Wette als Spiel?", mischte sich Irvina ein.
„Wenn es eine krasse Wette war?"
„Kannst du bitte aufhören, alle drei Sekunde irgendetwas als krass zu bezeichnen?", sagte Marjorie laut. „Und das ist keine Wette."

„Dankeschön!", sagte Irvina dankbar. „Weil niemand eine Wette als Spiel bezeichnen würde!"
„Und was soll es dann sein? UNO?!", fragte Bob. Diese Bemerkung könnte fast lustig sein, wenn sie denn als Scherz gemeint wäre.
„Es ist kein Kinderspiel, Bob!", zischte Paige.

„So, und jetzt beruhigen wir uns bitte alle mal und gehen zur Seite!", rief Mrs Troy plötzlich scharf und die Hälfte der Jugendlichen fuhr erschrocken zusammen.

„Geht bitte etwas an die frische Luft.", sagte Miss Gibson gleichzeitig und bildete mit ihrer Stimme einen ruhigeren Kontrast zu Mrs Troy. „Wir wischen die Botschaft, an wen auch immer sie gerichtet ist, gleich weg. Bis dahin macht ihr euch bitte keine Sorgen. Ihr habt eure Matheprüfung hinter euch, ist das nicht ein Grund zum feiern?"

Die Menge löste sich leise murrend auf und verteilte sich in verschiedene Richtungen.

„Bei wem hast du jetzt Unterricht? Also, nach der Pause?", fragte Korbinian. Marjorie, die nicht damit gerechnet hatte, dass er ihr immer noch folgte, zuckte leicht zusammen: „Ähm ... Die Kunst der Sprache. Bei Mr Tompson."

„Ah ja. Der Wörterkurs.", sagte Korbinian.
„Wörterkurs?!"
„So nennen wir euch."
„Und „wir" bedeutet ...?"
"Die Leute von „Die Kunst der Schritte" Und alle anderen eigentlich auch.", antwortete Korbinian.
„Du bist im Tanzkurs?", fragte Marjorie belustigt.

„Okay, das ist nichts weiteres als ein Vorurteil. Nur weil der Name so klingt, als wären wir ein Tanzkurs, sind wir noch lange kein Tanzkurs!
Mr McShirestone lässt uns einfach nur durchgehend irgendwelche Runden laufen. Man sollte den Kram in „Kunst des Rennens" umbenennen, das wäre ehrlicher. Und dann würde sich niemand mehr über uns lustig machen.", erklärte Korbinian, während Marjorie kopfschüttelnd ihren eigenen Spind aufschloss und ihr Mathebuch darin verstaute.

„Wie auch immer:", fing Korbinian an und beobachtete, wie Marjorie in ihrem Spind nach ihrem Gedichtband für den Wörterkurs suchte. „Was machst du danach?"

Marjorie, die den Verlauf dieses Gesprächs immer seltsamer und außerdem endlich den Gedichtband fand, drehte sich wieder zu ihm um und schloss ihren Spind: „Wieso?"

„Es besteht die kleine Chance, dass ich noch nicht wirklich für die Englischprüfung gelernt habe, und ich wollte fragen, ob du mir helfen könntest? Ich meine, du bist schließlich im Wörterkurs. Wenn mir jemand helfen kann, dann du!", erklärte er und sah sie gespannt an. Marjorie spürte, wie ihre Wangen sich röteten und zwar nicht nur deshalb, weil er ihr quasi gerade eine Art Lob gemacht hatte: „Um halb fünf vor der Bibliothek."

„Perfekt!", sagte Korbinian grinsend. „Dann viel Spaß beim Wörter zählen -"
„Das ist nicht das, was wir machen!"
„Dann erklär mir später in der Bibliothek was ihr so macht!", sagte er, ging rückwärts von ihr weg und prallte mit dem Rücken gegen eine der grauen Säulen, die ohne wirklichen Grund mitten im Flur standen. Er räusperte sich unbehaglich und drehte sich geschickt auf dem Absatz um, als könnte er seinen uneleganten Abgang so noch retten.

Marjorie ertappte sich dabei, ihm lächelnd nachzuschauen und wandte sich dann kopfschüttelnd wieder ihrem schon geschlossenen Spind zu um ihn zu schließen, nur um festzustellen, dass er schon geschlossen war.


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