Kapitel 1: Zehn Minuten zu früh

Marjorie wusste nicht, welcher Wert x entsprach, wenn x gleich die Wurzel aus fünf hoch zwei und zwei hoch drei war, aber sie wusste, wie man ihn berechnete.

Die Aufgabe war nicht schwierig, aber das hieß nicht, dass die Prüfung insgesamt einfacher werden würde; ganz im Gegenteil. Wenn solche einfachen Aufgaben dazwischengestreut wurden, fanden sich meistens ein paar Textaufgaben mit zu vielen Variablen auf den nächsten Seiten – aber egal, was sie erwarten würde, sie konnte es nicht verändern, also blätterte sie einfach nur wieder und wieder um und hoffte, dass sie schnell genug arbeitete.

Zwei Reihen weiter vorne, drei Tische näher an der Fensterseite, hob Irvina Peterson den rechten Arm: „Entschuldigung, könnte ich kurz auf die Toilette gehen?"

Mrs Troy, die die Matheprüfung beaufsichtigte musterte Irvina prüfend, als könnte sie an ihrem Gesicht erkennen, ob sie auf der Toilette irgendwelche Schummelhilfen versteckt hatte; ein hastig gefalteter Notizzettel voller Formeln, oder sogar ein Handy?

Aber Irvinas Handy lag zwischen all den anderen in dem Pappkarton, der direkt neben Mrs Troy stand. Sie warf einen prüfenden Blick hinein, als wolle sie kontrollieren, ob sich eines der Geräte in Luft aufgelöst hatte, doch das einzige was sie sah, waren rechteckige schwarze Bildschirme, einige mit Spinnennetzmuster, andere mit angestoßenen Kanten.

„In Ordnung. Aber denk daran; das geht von deiner Zeit ab.", antwortete Mrs Troy schließlich und deutete um ihre Worte zu unterstreichen auf die große, runde Uhr mit den künstlerisch gestalteten Zeigern, die über der Tür zum Klassenzimmer hing, nur um festzustellen, dass diese Uhr zehn Minuten zu früh lief. Mrs Troy räusperte sich, während Irvina mit schnellen Schritten den Prüfungsraum verließ, als könnte sie so die Prüflinge von der falsch gestellten Uhr ablenken.

Sie erreichte das Gegenteil.

„Hey, guck mal: Die Uhr geht vor!", zischte Bob aus der letzten Reihe. Marjorie hatte von Anfang an gewusst, dass es eine schlechte Idee war, Bob dorthin zu setzten, wo er unbemerkt die meisten ablenken konnte und ihre begründete Vermutung wurde jetzt zum sechsten Mal bestätigt (Bob hatte bereits zweimal lautstark seinen Füller fallen gelassen und dreimal seine Sitznachbarn leise nach der richtigen Antwort gefragt. Sehr zum Leidwesen von ihm hatte Mrs Troy ihn aber zwischen die Prüflinge gesetzt, die in etwa so schlecht in Mathe waren wie er, weshalb ihm dieses nachfragen nichts außer verzweifelte Blicke eingebracht hatte).

„Das hast du jetzt erst bemerkt?!", erwiderte Paige, die ganz rechts am Fenster saß.
„Ruhe, bitte!", sagte Mrs Troy laut.

Bobs Arm schoss nach oben und sie seufzte: „Ja, Bob?!"
„Die Uhr geht vor."
„Ich glaube, das war die erste korrekte Feststellung die ich je von dir im Matheunterricht gehört habe.", erwiderte sie. „Und jetzt hör auf deine Zeit zu verschwenden, du brauchst nämlich jede einzelne Sekunde davon."
„Das ist Mobbing.", beschwerte sich Bob.
„Das ist eine schlechte Note.", erwiderte Mrs Troy und hob die Augenbrauen. „Und eine schlechte Note bedeutet, dass du die Prüfung im schlimmsten Fall nachholen musst."

Bob setzte zu einer Antwort an, aber seine Sitznachbarn, für die ebenfalls jede einzelne Sekunde ihrer Zeit ziemlich kostbar war, sahen ihn so wütend an, dass er verstummte.

Die nächsten Minuten lang hörte man nichts, außer das schleifende Geräusch von Füllerspitzen auf rauem Papier, und das Rascheln von Prüfungsbögen. Jemand hustete.

Marjorie war auf eine Aufgabe gestoßen, die deutlich mehr Zeit beanspruchen würde und zum ersten Mal in der Prüfung blätterte sie vor um zu sehen, wie viele Aufgaben sie danach noch erledigen müsste.

Laut der falsch gestellten Uhr hatten sie noch zehn Minuten Zeit, also müsste sie in spätestens zwanzig Minuten fertig sein.
Marjorie spürte ihr Herz flatterig klopfen, als sie zitternd die nächsten Seiten umblätterte – doch da stand nichts. Das kreidig grüne Prüfungsheft war nur deshalb so dick, weil hinten zehn unbedruckte Seiten eingefügt worden waren, vermutlich um die blinde Panik der Schülerinnen und Schüler anzufachen. Diese lange Aufgabe hier würde die letzte Aufgabe.

Erleichterung durchflutete Marjorie, während sie zitternd die wichtigsten Informationen mit Bleistift umkreiste.

Plötzlich ertönten laute, eilige Schritte, als würde jemand den Flur entlang sprinten. Nur zwei Sekunden später wurde die Tür aufgestoßen und Irvina stand dort, das Gesicht gerötet, die Augen aufgerissen: „Mrs Troy!"
„Ich weiß nicht, ob du es schon mitbekommen hast, aber wir schreiben hier gerade eine Prüfung -"
„Sie müssen mitkommen! Da ... da steht was.", rief Irivina zitternd, ohne die Türklinke loszulassen.

„Irvina, beruhige dich bitte: Du hast nur noch knapp siebzehn Minuten Zeit um -"
„Bitte! Da steht etwas! Und es klingt gefährlich!", keuchte Irivina und der Raum erfüllte sich mit leisem Raunen.
„Ich glaube nicht, dass es etwas gefährlicheres gibt, als durch die Matheprüfung zu fallen.", sagte Mrs Troy scharf. „Setz dich wieder hin."

„Aber -"

„Das war keine Bitte, sonst hätte ich das Wort bitte genutzt. Setz dich, Irvina. Wir werden uns in der Pause um dein Problem kümmern, bis dahin wartest du noch. Sechzehn Minuten wirst du doch wohl noch durchhalten, oder?!"

Irvina sah aus, als könnte sie in jedem Moment in Tränen ausbrechen, aber Mrs Troy war unerbittlich, und so setzte sie sich wieder auf ihren Platz und senkte den Kopf. Nach einem Stift griff sie nicht.
Marjorie schluckte; die Luft schien bitter zu schmecken, untereinander wurden heimlich beunruhigte Blicke ausgetauscht.

„Hey.", wisperte Korbinian links neben ihr und Marjorie wandte nach einem prüfenden Blick zu Mrs Troy, die ihre volle Aufmerksamkeit aber wieder auf die vorgestellte Uhr gelenkt hatte, ihren Kopf in seine Richtung.
„Können wir vergleichen? Also, du sagst mir deine Ergebnisse und ich sage dann, ob sie richtig oder so sind?", schlug er leise vor.

Marjorie sah ihn belustigt an und schüttelte den Kopf.

„Sicher? Es ist ein großartiges Ange -"
„Korbinian, eine Matheprüfung ist kein Ort um Mädchen anzubaggern.", rief Mrs Troy in dem Moment laut von vorne und Bob lachte laut auf.
„Bob, halt endlich deine hässliche Fresse!", zischte Paige genervt.

„Paige! Achte auf deine Wortwahl!", schimpfte Mrs Troy und stemmte die Arme in die Seiten. „Ich habe das Gefühl, ihr nehmt diese Prüfung überhaupt nicht ernst. Und ja, das hier ist nur eine Zwischenprüfung und entscheidet nicht über eure Versetzung, aber sie ist sehr wichtig für eure Noten und ihr müsst sie nachholen, falls ihr durchfallt, also ein bisschen mehr Ernsthaftigkeit bitte!"


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