Auf Scherben

Auf dem Wanderzirkus, der seine Stadt besuchte, gab es einen Schweinehändler. Er hatte mit vielem, aber gewiss nicht damit gerechnet. Es ist nicht so, dass er ihn nicht kannte, ganz im Gegenteil, beinahe jeder kannte den Schweinewirt, nur hätte er niemals im Leben gedacht, ihn als Aussteller des Wanderzirkus' hautnah erleben zu dürfen. Es war für ihn auch fragwürdig gewesen, wie der Ortsansässige Schweinehändler zum Wanderzirkus kam, aber er verfolgte die Frage nicht weiter, akzeptierte das Schicksal und stand, wie all die anderen, hinter der Abgrenzung und bestaunte fasziniert das Geschehen.

Der Wanderzirkus erleuchtete in schillernden Farben. Überall sang und klang es, fröhliche Melodien vermischten sich mit den Kuriositäten, die sich den Zusehenden präsentierten. Doch die meisten, ja, vielleicht sogar alle, standen bei dem Schweinewirt, von dem eine beinahe unbeschreibliche Faszination ausging. Er stand ganz vorne. Hinter ihm drängelte sich die Masse. Während die meisten amüsiert gewesen waren, belustigt, starrte er nur auf das, was sich vor seinen Augen abspielte; was ihn fesselte, was ihn auf eine ganz eigene Art und Weise einnahm. Vor ihm präsentierte sich der Schweinewirt, der eine blutbefleckte Metzgerschürze trug. Als würde es ihn nicht interessieren, als hätte er keine Hemmung, präsentierte er den Leuten, die sich scheinbar ebenso wenig darum kümmerten und ihn damit in seiner Überzeugung bestätigten, was er als seine Arbeit ansah: Tiere zu halten, um sie anschließend zu verkaufen oder selbst zu beliebigen Wurst- und Fleischspezialitäten zu verarbeiten. Mehr waren sie für ihn nicht wert. Es waren nur Schweine gewesen. Dieses Bild zeigte sich so dann auch vor der Absperrung, die aus einem in Eile zusammengehämmerten Holzzaun bestand. Es war eine Koppel. Es war eine kleine Koppel für ein einziges, kleines Schwein. Es war vielleicht kein Ferkel mehr, aber ein großes Schwein war es mitunter auch nicht gewesen. Es war gerade alt genug, um den Leuten, die es bestaunten und sich über sein Schicksal lustig machten, ohne, dass es wohl jemals davon mitbekommen würde, vorgeführt zu werden.

Der Schweinewirt stand wie ein Dompteur in der Mitte einer Manege. Mehr war es tatsächlich nicht. Es war eine Zirkusveranstaltung, alles, was man erblickte und der Schweinewirt stand als Abrichter eines kleinen Schweines in der Mitte einer verwüsteten Landschaft. Den Boden zeichneten tiefe Kerben, überall lag Dreck verstreut. Scheinbar war das Schwein, dem Willen des Dompteurs wegen, bereits den ganzen Tag im Kreis gelaufen. Das Schwein sah nicht besser aus. Hätte er in diesem Augenblick nicht selbst gesehen, wie das Schwein im Kreis rannte, hätte ihn niemand davon überzeugen können, dass überhaupt noch ein Fünkchen Seele in diesem Geschöpf wohnte. Fassungslos betrachtete er, wie das Tier, überall von Dreck und tiefen Wunden besudelt und gezeichnet, wie wahnsinnig im Kreis rannte und sich dennoch nicht fortbewegte. In diesem Moment wurde ihm klar: das, was einen vielleicht besonders macht, zeichnete einen vielleicht aus und war Überbleibsel seiner eigenen Erzählung gewesen, aber mit Sicherheit diente es nicht dazu, dass man sich besser verkaufen konnte. Denn das Schwein, sonst wäre es vor ihm nicht im Kreis gerannt, war keins, das ein Käufer gerne kaufen wollte. Obwohl es scheinbar höllische Schmerzen erlebt haben musste, die tiefen Narben zeugten von unermesslichem Leid, hätte niemand, gerade deswegen, sich die Mühe gemacht, nur einen Taler für das Schweinchen auszugeben. Das war es nicht wert gewesen. Wäre es nicht nur gerecht gewesen, dass das Schwein, dass vor den Zusehenden verzweifelt im Kreis rannte, für all seine Schmerzen ein glücklicheres Leben bekommen hätte? Anscheinend interessierte es keinen; nicht mal ihn. Auch er würde nichts für das Schwein bezahlen. Was sollte er auch mit einem Schwein? Platz und Geld hatte er dafür nicht. Aber es tat ihm leid. Damit gab er dem, was dort vor ihm noch rannte, wahrscheinlich mehr, als all die anderen zusammen. Viel erstaunter war er über den Schweinewirt gewesen, der munter lachend das Schwein in sein Verderbnis brachte. Als würde er nicht wissen, was er ihm antat, hielt er fröhlich und scheinbar vollkommen ohne Reue eine Karotte vor das Schwein, das verzweifelt versuchte, sie zu erreichen. Wer weiß, wie lange es schon kein Essen mehr vor sich erblickt hatte.

Das Schlimme an der gesamten Szenerie, die sämtliche Personen, die den Wanderzirkus betraten, ohne Ausnahme einnahm, war aber etwas ganz anderes gewesen. Es war nicht das kleine Schwein, das verzweifelt und vermutlich vor lauter Hunger die Karotte erreichen wollte, nein, es war auch nicht der Schweinewirt gewesen, der mit blutiger Metzgerschürze auf einer umgekippten Zinnwanne stand, die ihm als Erhöhung diente; es war der Fakt, dass der Schweinewirt alles tun, dem Schweinchen alles auf den Weg werfen konnte, wäre es auch noch so zerstörerisch gewesen, und das Schweinchen, wie in Trance, unbeirrt weiterlief. Die Überreste von verbrannter Asche, langen und rostigen Nägeln wie anderen Gegenständen, die er nicht näher ansehen wollte, sprachen davon, über was das Schwein, allein am heutigen Tage, wohl alles schon gegangen war; welche Schmerzen es aushielt, alleine in der Hoffnung, die Karotte, die an einem dünnen Faden hing, zu erreichen. Er konnte nicht genau erkennen, worüber es gerade lief, was der Dompteur dem Schweinchen auf den Weg geschmissen hatte, vielleicht rannte es tatsächlich gerade auch nur über den matschigen Erdboden und der Schweinewirt hatte ihm eine Art Pause von den Qualen gegeben, aber mit Sicherheit war es nichts gewesen, dass ihm den Weg erleichterte. Belustigt staunten die Zusehenden, als der Dompteur das Schwein in eine Ecke trieb, es dort an einem abgefranzten Seil befestigte und beinahe, so schien es, die Kehle zuschnürte und mit dicken, ledernen Handschuhen geschützt, sich eine Holzkiste nahm, die im Verborgenen gestanden hatte, und nun mit den dicken Handschuhen hineingriff und nun, abermals lachend, Glassplitter auf den Boden streute. Es waren große und kleine gewesen. Vermutlich waren sie als Industrieabfall entstanden, waren zerbrochene Scheiben gewesen und waren für die weitere Verwendung unbrauchbar gewesen. Er erwarb sie vermutlich zu einem günstigen Preis, vielleicht gehörten sie ihm auch selbst, und nun landeten sie im feuchten Matsch, durch den das Schwein vor wenigen Minuten noch unaufhaltsam tiefe Kuhlen gezogen hatte. Vielleicht hatte das Schwein das Glas auch selbst zerstört, war ungeschickt gewesen und durch Zufall, oder sogar aus Absicht, auf eine Scheibe getreten. Jedenfalls; irgendwie ging das Glas zu bruch. Und nun landete es in der Erde. Als er mit seiner Arbeit fertig und die Kiste geleert war, holte er das Schwein zurück und unter schallendem Gelächter rannte nun das Schwein, wiedermal in seinem Teufelskreis gefangen, durch den Matsch und über die Glassplitter, während sich alle um ihn herum, ihn vielleicht ausgenommen, herzlichst amüsierten. Während es vor Schmerzen quiekte, weil sich das Glas mit jedem Schritt mehr in den Spalt seiner Hufe schob, direkt in sein Fleisch hinein, rannte es doch weiter. Mit jedem Schritt, und es wurde nicht langsamer, ganz im Gegenteil, zeigten sich mehr und mehr Schnitte in seinem Fleisch, schoben sich wohl unzählige große wie kleine Glassplitter in seinen Körper. Selbst wenn es das alles nicht gewollt hätte und zumindest die Fähigkeit besessen hätte, den Glassplittern auszuweichen, so war es doch beinahe unmöglich gewesen. Durch ihre Transparenz war es eigentlich eine Unmöglichkeit gewesen, sie im schumrigen Licht der Fackeln des Wanderzirkus in der dunklen Nacht zu erblicken. Aber trotz allem; wohl trotz sämtlichen Schmerz, dass es in diesen qualvollen und grausamen Stunden erlebte, rannte es weiter. Nicht zu Unrecht war es ein Teil des Wanderzirkus gewesen. Das Schwein war eine Kuriosität.

„Heran, heran! Kommt alle heran! Bestaunt, wie witzig das Schwein über alles läuft, was ich ihm auf den Weg werfe!", schrie der Schweinewirt dann in die Menge und hob sich mit seiner durchdringenden Stimme vom anhaltenden Gelächter und sonstigen Geräuschen der Umgebung imposant ab. Im Hintergrund spielte weiterhin die Musik des Wanderzirkus und es schien, als gäbe es nichts, was an diesem Ort als ungewöhnlich betitelt werden würde.

Den Schweinewirt kannten sie alle. Einige vergötterten ihn und andere lehnten ihn ab; das, was er all seinen Schweinen antat. Er war eine bekannte Figur gewesen, die vermutlich jedem in seinem Leben schon einmal begegnet ist. Der Schweinewirt war kein Unbekannter. Immer, wenn er ein Schwein verkaufte und er sich künstlich darüber aufregte, zu welchem billigen Preis er wieder eins losgeworden war und welchen schmerzlichen Verlust er doch in diesem Geschäft erlitten hätte, sagte er: „Na ihr Schweine!". Für ihn waren sie vermutlich alle seine Schweine gewesen. Ob es andersrum auch so interpretiert wurde, sei dahingestellt.

Eigentlich wollte er gehen. Eigentlich konnte er sich das nicht mehr mitansehen. Weder ertrug er das Schwein, dass sich voller Verzweiflung selbst ins Unglück stürzte, noch verkraftete er es, wie die Menschen, die hinter ihm standen, sich darüber lustig machten. Dass der Dompteur nicht anders gewesen war, schockierte ihn nicht ganz so sehr. Dass allerdings alle anderen, die nicht täglich über Tod und Leben entschieden, es ihm gleichtaten, hatte eine ungeahnte Schrecklichkeit an sich, über die er nicht näher nachdenken wollte. Er war kurz davor, durch die aufgeregte Masse zu gehen, die mit Sicherheit schon danach gierte, zu wissen, was der Schweinewirt dem Schwein als nächsten auf den Boden warf, als er sich doch ein Herz fasste und seine Bestürzung, ja, seine fast schon Fassungslosigkeit dem Schweinewirt gegenüber zu äußern. Er lehnte sich über den Holzzaun und schrie: „Wieso quälen sie das Schwein derart?" und musste es wiederholen, weil es der Dompteur am Anfang, rein akustisch, nicht verstanden hatte.

» Aber mein Junge, «, entgegnete er dann, wieder mit einem gewieften Lächeln, als wäre er vollkommen überzeugt in dem, was er vor allen anderen vorführte, » es kann sich doch befreien! Wenn das Schwein nicht rennen will, wenn es auf den Boden gucken würde, wenn es nicht die Karotte haben will «, wieder wurde es etwas lauter, als das Schwein fast die Karotte erreichte und der Schweinewirt mit einem lauten „Heya", die Karotte wieder von ihm fortriss, » so würde ich es nicht zwingen. Wenn ein Schwein nicht laufen will, mein Jung, kannst du es nicht treiben. Was wär' ich für ein Mensch «, er schnaufte einmal aus, » der so etwas einem wehrlosen Tier antun würde? « Er lachte, als er sah, wie das Schwein weiterhin im Kreis lief. Er amüsierte sich und das Schwein rannte weiter. » Es ist einfach dumm! «, sagte er ihm abschließend.

» Wie naiv vom Schweinchen, dass es so sehr an die Erfüllung seiner Hoffnung glaubt «, säuselte er zu sich und war überzeugt, dass ihn niemand gehört hatte. Da sagte der Schweinewirt zum Abschluss, der wohl nur Wortfetzen verstanden hatte: » Was hast du gesagt? « und nach einem kurzen Moment, in dem er überlegte, erwiderte er: » Hoffnung? Ja, die Hoffnung hält ihn am Leben. « Dann lachte er wieder und alles ging weiter, als wäre nie etwas geschehen. 

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