-8- Marlow

Endlich war ich über meinen Schatten gesprungen und hatte mich getraut, Millie eine Nachricht zu schreiben. Doch kaum hatte ich auf Senden gedrückt, überkamen mich schlagartig Zweifel.

Hatte ich wirklich das Richtige getan?

Mit Vorwürfen quälend, steuerte ich meine Kommode aus antikem Akazienholz an, auf der sich meine kleine persönliche Minibar befand. Wie von ganz alleine, schüttete ich mir ein Glas Bourbon ein und trank es noch im Stehen leer.

Nachdenklich stellte ich es auf die Kommode zurück, wischte mir mit dem Handrücken über meinen Mund und schnaubte erst einmal laut.

Würde es je wieder normal werden? Und was tat ich da eigentlich?

Ich wollte meinen Kummer unter keinen Umständen wieder im Alkohol tränken. Eigentlich hatte ich mich doch gebessert und diesem Muster abgeschworen. Doch nun stand ich wieder hier und trank aus Selbstvorwürfen und vor lauter Verzweiflung.

Mit einem deprimierten Seufzer ließ ich mich auf die Couch fallen, sah zum Fenster hinaus und beobachtete die Schneeflocken, die gegen das Fenster rieselten. Inzwischen schneite es wieder beachtlich, sodass die Straßen und Bäume in Nullkommanichts wieder weiß wurden.

Der weggetaute Schnee wurde überdeckt von neuem. War etwas verschwunden, wurde es einfach ersetzt. Das war der Lauf der Dinge.

Doch war es bei mir auch so einfach?

Minutenlang saß ich still da und dachte über das Leben nach. Über sie. Was sie wohl dazu gesagt hätte, dass ich Millie geschrieben hatte?

Natürlich wusste ich, dass sie nicht wieder kam und dass es niemals die Gelegenheit gab, mit ihr darüber zu sprechen. Sie war ja nicht mehr hier. Doch es fühlte sich an, als hätte ich sie betrogen.

Durch das Piepen meines Handys wurde ich aus meinem Gedankengang gerissen. Es war eine Nachricht von niemand geringerem als von Millie.

Mein Herz klopfte, das konnte ich nicht leugnen. Ebenso, dass ich mich zu dieser hübschen jungen Frau hingezogen fühlte. Es war zum Haareraufen. Denn einerseits wollte ich das alles fühlen. Es fühlte sich nämlich verdammt gut an. Andererseits hatte ich unfassbare Schuldgefühle.

Eine gewisse Zeit starrte ich auf mein Handy und überlegte, ob ich die Nachricht öffnen sollte oder nicht. Doch ich tat es nicht.

Ich war ein Feigling!

Es ging einfach nicht. Mein schlechtes Gewissen zerriss mich innerlich. Verzweifelt legte ich mein Handy auf den Tisch, ging ins Bad, putzte meine Zähne und verkroch mich mal wieder unter meiner Bettdecke. Ich wusste, dass es so nicht weiter gehen konnte, aber was sollte ich denn machen?

Ich machte das ja nicht mit Absicht.

Es war nicht so, als wollte ich nie wieder glücklich werden und doch konnte ich meine Gefühle für diese Frau nicht zulassen. Nachdem ich meine Augen geschlossen hatte, fiel ich in einen unruhigen Schlaf.

***

Es war kurz vor Weihnachten und wie immer war ich mit den Geschenken spät dran gewesen. Ich hatte noch einiges einpacken müssen und das wollte ich ihr natürlich nicht auf die Nase binden. Wahrscheinlich hätte sie mich wieder tadelnd angesehen und über meine Schusseligkeit gelacht.

„Schatz, kannst du nicht eben alleine zu deinen Eltern fahren? Ich hab hier noch zu tun", hatte ich ihr entgegen gerufen. Wir hatten uns die Woche über kaum gesehen, da wir beide viel gearbeitet hatten und wahrscheinlich hätte sie sich gefreut, ein bisschen mehr Zeit mit mir zu verbringen. Doch sie hatte schließlich zugestimmt und fuhr alleine los.

Stundenlang hatte ich nichts von ihr gehört. Ich dachte, sie hätte sich mal wieder mit ihrer Mutter verquatscht. Das war des Öfteren vorgekommen. Wenn die beiden mal ein Thema gefunden hatten, dann gab's kein Halten mehr.

Mehrere Nachrichten hatte ich ihr geschickt. Mittlerweile hatte ich ihr Lieblingsessen zubereitet, um den versäumten Nachmittag wiedergutzumachen. Ich wusste doch, wie ich sie aufheitern konnte.

Ich versuchte es ebenfalls bei ihrer Mutter, die ich aber leider auch nicht erreicht hatte. Also war mir nichts anderes übrig geblieben, als zu warten.

Warten darauf, dass sie wieder kam.

Es war schon spät, als es an der Tür geklingelt hatte. Das Essen war mittlerweile kalt geworden, doch es schmeckte sicherlich noch genauso gut.

„Hast du wieder deinen Schlüssel vergessen?", hatte ich durch die verschlossene Tür gerufen und lachte dabei.

Wo hatte sie ihren Kopf denn nur wieder gelassen?

In dem Moment, als ich die Tür geöffnet hatte, blieb mein Herz stehen. Alles um mich herum war an mir vorbei gezogen.

Während sich meine Augen mit Tränen gefüllt hatten, hatte sich ein riesiger Kloß in meinem Hals gebildet, der mir das Atmen nahm. Die Polizei hatte mir erklärt, dass es einen Autounfall gegeben hatte.

Einen Unfall, der meiner Freundin das Leben genommen hatte. Meiner großen Liebe.

Eine eisige Gänsehaut hatte sich auf meinem gesamten Körper gebildet. Ein Schauer war mir unangenehm den Rücken herunter gelaufen. Mein Atem stockte und ich bekam immer schlechter Luft. Vollkommen unter Schock, war ich auf meine Knie gefallen und hatte dabei meine Hände trauernd vor mein Gesicht gehalten.

Ich war gebrochen.

Man hatte mir die Frau an meiner Seite genommen. Und ich konnte mich nicht von ihr verabschieden.

Mein Leben wurde einfach so in ein tiefes Loch gerissen.

Es gab viel ... so viel, was ich ihr noch sagen wollte. Wie konnte das nur sein? Das Essen stand hier und wartete auf sie.

ICH wartete auf sie!

Und sie kam nie mehr wieder ...

Tränenüberströmt kniete ich vor den Polizisten auf dem Boden und schrie ...

Schrie meine Wut und meine Trauer heraus.

***

Schweißgebadet schrak ich aus meinem Traum auf. Am ganzen Körper zitterte ich wie Espenlaub. Es war schon einige Zeit her, dass ich diesen Traum hatte. Der Traum, von dem Moment, der mir alles nahm.

Meine Freundin, die Liebe meines Lebens, meine Zuversicht, meine Zukunft und vor allem den Glauben daran, je wieder einen Menschen so sehr lieben zu können.

Lange Zeit hatte ich diesen Traum nicht mehr. Doch er war wieder so real, als wäre es gestern erst gewesen, dass die Polizei mir diese schlimme Nachricht überbracht hatte.

Die ersten Tage konnte ich nichts mehr. Nicht essen, nicht trinken, nicht schlafen. Ich wollte einfach nur alleine sein. Ich hatte mich in den Schlaf geweint und gehofft, dass mich endlich jemand wecken und aus diesem schrecklichen Alptraum befreien würde. Doch es war die bittere Realität, der ich ins Auge blicken musste.

Nun war ein Jahr vergangen und es musste endlich mal vorwärts gehen. An Schlaf war nicht mehr zu denken, daher setzte ich mich mitten in der Nacht ins Wohnzimmer, schaltete den Fernseher ein und zappte durch das Programm. Hauptsache ich konnte mich irgendwie ablenken.

Sah es jetzt tatsächlich Jahr für Jahr bei mir so aus?

Würde es bei der besinnlichen Jahreszeit immer so sein?

Es ging mir definitiv schon einmal besser im letzten Jahr. Das war allerdings auch eine Zeit, in der ich mich gut mit Arbeit ablenken konnte. Es hatte mich nicht alles an sie erinnert. Doch ihr Todestag hatte mich irgendwie aus der Bahn geworfen.

Umso schlechter ging es mir, weil mir jetzt eine Frau gefiel.

Was sie wohl geschrieben hatte? Mein Blick wich zu meinem Handy, doch auch jetzt konnte ich mich noch immer nicht überwinden, die Nachricht zu öffnen.

Wie bereits erwähnt, ich war ein Feigling!

So gut es ging, versuchte ich mich auf den Fernseher zu konzentrieren, driftete sogar nochmal weg und wachte erst wieder auf, als es bereits hell war.

Mit müden Augen schaute ich auf die Uhr und merkte, dass ich spät dran war. Wyatt und ich waren verabredet, um ein Weihnachtsgeschenk für unsere Mutter zu kaufen. Nachdem ich mich geduscht und angezogen hatte, machte ich mich auf den Weg. Es war wieder übertrieben kalt, also zog ich den Reißverschluss meiner Jacke zu und richtete meinen Kragen ein Stück weit nach oben, damit es nicht so zog.

Der schnellste Weg führte durch den Central Park, auch wenn er um diese Jahreszeit voll mit Besuchern aus aller Welt war. Die Sonne glänzte und ließ das gefrorene Eis auf dem See glitzern. Gerade, als ich die kleine Brücke am See passierte, hörte ich das verzweifelte Jaulen eines Hundes und sah mich instinktiv um.

Mitten in dem Eiswasser entdeckte ich den kleinen Freund. Offensichtlich war die Eisschicht nicht dick genug, weshalb er ins Wasser gestürzt war. Ich eilte sofort herüber zu ihm, packte ihn und schaffte es mit Mühe und Not, den kleinen Vierbeiner aus dem Eiswasser zu befreien.

Der Arme war am ganzen Körper am Zittern. Ich zog meine Jacke aus und wickelte ihn fest darin ein. Dass ich dafür fror, war mir augenblicklich egal.

„Hey mein Freund", redete ich ihm gut zu und versuchte ihn ein wenig zu beruhigen. „Wo ist denn dein Herrchen?"

Irgendwo musste er oder sie doch sein. Meinen Blick umherschweifend, sah ich mich um und blickte direkt in diese wunderschönen smaragdgrünen Augen, die mir sofort bekannt vorkamen.

Sie war hier und offenbar war sie diejenige, die ich gesucht hatte.

„Hey Millie. Ist das dein Kleiner hier?"

Erleichtert und mit offenen Armen kam sie auf uns zu und stürzte sich direkt auf den frierenden Mischling. Sie streichelte seinen nassen verwuschelten Kopf, der unter meiner Jacke hervorkam.

„Oh Gott sei Dank, er lebt! Aber er gehört nicht mir, sondern einer Freundin. Sicherlich sucht sie ihn gerade."

Mit meinem Schal rubbelte ich ihn weitestgehend trocken und sah dabei immer wieder zu Millie, die fast krank vor Sorge schien.

„Er muss dringend ins Warme."

„Ja, ich weiß. Wenn ich doch nur..." mitten im Satz brach sie ab und sah sich nach ihrer Freundin um.
„Wo ist sie nur?"

„Ruf sie doch einfach an", schlug ich vor, doch sie schüttelte ihren Kopf. „Ähm, also ehrlich gesagt, geht das nicht. Ihr ... Ihr Handy ist kaputt."

Das war natürlich ärgerlich. Es änderte aber nichts an der Tatsache, dass dieser Hund schnellstens aufgewärmt werden musste.

„Ich bringe ihn zu mir nach Hause. Danke, dass du ihn gerettet hast."

Dass ich den Kleinen aus dem Wasser geholt hatte, war für mich selbstverständlich. Genauso, dass ich ihn mit meiner Jacke und meinem Schal aufgewärmt hatte.

„Gerne doch."

Millie öffnete den Reißverschluss ihrer Jacke und gleichzeitig hob ich den kleinen Kerl hoch, um ihn ihr zu übergeben. Er jaulte ganz leise und schleckte mir noch dankbar über meine Hand, bevor er in Millie's Jacke einhüllt wurde.

„Also dann, mach's gut."

Sie schenkte mir ein halbherziges Lächeln, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Hund widmete und sich umdrehte.

„Okay, ihr auch. Du und..."

„Bailey. Sein Name ist Bailey", rief sie, während sie sich noch einmal zu mir umdrehte.

Einen Moment lang sah ich ihr hinterher, doch sie hatte es verständlicherweise eilig. Sollte ich noch schnell ihre Nachricht ansprechen? Dass ich bisher nicht dazu kam, sie zu lesen? Es wäre nur halb gelogen. Denn bisher hatte ich sie ja tatsächlich nicht gelesen.

Doch es war ohnehin zu spät. Sie war zu weit weg und ich wollte sie nicht noch länger aufhalten. Immerhin musste Bailey dringend ins Warme.

Jetzt war ich allerdings doch neugierig, was in der Nachricht stand. Was hatte sie wohl geschrieben? Auch wenn ich mich so lange dagegen gesträubt hatte ... Dieses Treffen hatte mir bestätigt, dass sie mir einfach nicht aus dem Kopf ging.

In meiner nassen Jackentasche suchte ich nach meinem Handy, doch ich fand es nicht.

Es war weg.

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