-29- Millie

Luft! 

Ich brauchte Luft ...

Als ich die ersten Schritte nach draußen ging, atmete ich erst einmal tief durch. Doch weil ich wusste, dass Marlow mir folgen würde, lief ich weiter. Ich rannte auf den Central Park zu, denn dort kannte ich mich am besten aus. Wie oft war ich mit Bailey diesen Weg gegangen? Wie oft hatte ich mich dort auf die Bank gesetzt und die Menschen beobachtet? Ich hoffte auf unzählige Touristen, zwischen denen ich mich verstecken konnte. 

So schnell ich konnte, lief ich durch den Schnee. Doch meine Lunge schmerzte vor Kälte. Mein Herz pumpte unentwegt gegen meine Rippen und ich hatte das dringende Bedürfnis anzuhalten, um Luft zu holen. Ich hatte das Gefühl, mein ganzer Körper würde versagen, doch ich durfte nicht zulassen, dass er mich einholen würde. Ich musste weiter.

Was sollte das alles? Warum sagte er, dass Cathy gestorben war? Vorhin war sie noch quicklebendig. Ich schenkte ihm keinen Glauben, doch seine Trauer war so echt. Hätte ich nicht mit Cathy gesprochen, hätte ich ihm seine Show wirklich abgekauft. Ich verstand einfach nicht, warum er mir das antat. 

Die einzige Erklärung dafür war, dass die beiden mich verrückt machen wollten. Sie hatten sich einen ganz miesen Plan zurecht gestrickt und ich war nun ihr Opfer. 

Im Park angekommen, blieb ich stehen, japste nach Luft und spürte, wie die Kälte in meine Lunge eindrang. Völlig aus der Puste, stützte ich mich an meinen Oberschenkeln ab und versuchte, meine Atmung zu stabilisieren. Doch mit jedem Atemzug, brannte der Schmerz mehr in mir. Er erinnerte mich daran, wie sehr ich letztes Jahr im Krankenhaus gelitten hatte. Wie oft ich um mein Leben gekämpft und wie viele Male ich die Hoffnung aufgegeben hatte. Mit dem Unterschied, dass ich nun keine neue Niere brauchte, sondern ein neues Herz. Weil meines zutiefst gebrochen war. Oder besser noch ... Einen gesunden Verstand. Denn meiner schien nicht mehr richtig zu funktionieren.

Ich zwang mich, weiter zu rennen, denn ich brauchte mehr Vorsprung. Immer wieder drehte ich mich um, weil ich sichergehen wollte, dass er nicht hinter mir war. Ich wollte einfach nicht mit ihm reden. Er würde nur wieder versuchen, mir Dinge einzureden, die nicht stimmten. Tränen liefen an meinen Wangen entlang und der Wind ließ die feuchten Stellen in meinem Gesicht anfühlen, als würde jemand Scherben durch eine offene Wunde ziehen.

Die Menschen um mich herum, sahen mich verwirrt an. Jeder, den ich anrempelte, blieb stehen und rief mir fluchend hinterher. Aber ich blendete sie alle aus. Ich blendete einfach alles um mich herum aus. Welche Wahl hatte ich auch schon?

Als ich allerdings an der Brücke ankam, wo Marlow damals Bailey aus dem See gerettet hatte, versagte mein Körper abrupt. Ich ließ mich gegen meinen Willen und vollkommen machtlos in den tiefen Schnee fallen und schloss meine Augen. Noch immer durchzog ein stechender Schmerz meinen Körper und meine Tränen nahmen keinen Halt. Meine Unterlippe sowie mein gesamter Körper zitterten. Vor Schmerz. Vor Kälte. Vor Machtlosigkeit.

Körperlich war ich am Ende und konnte mich nicht aufraffen, mich auch nur einen Schritt weiter zu bewegen. Ich war schlichtweg zu nichts im Stande.

Doch als ich plötzlich, wie aus dem Nichts, warme Hände auf meiner Wange spürte, öffnete ich schluchzend meine Augen und sah sie vor mir. 

Cathy ...

Sie hatte sich neben mich gehockt und blickte mir tief in die Augen. Dabei hatte ich das Gefühl, als würde sie meine Seele durchleuchten.

„Hi Millie", flüsterte sie mit einem Lächeln auf den Lippen und streichelte mit einer Hand über mein Haar. Aus unerklärlichen Gründen, genoss ich ihre Berührung, die mich von innen wärmte. Ich wollte mich bewegen, wollte weg von ihr, doch es gelang mir nicht. Mein Körper streikte und ließ es einfach nicht zu. Jegliche Mühe blieb erfolglos. 

„Endlich habt ihr geredet", begann sie das Gespräch mit mir. Am liebsten hätte ich sie von mir gestoßen, doch noch nicht einmal dazu, hatte ich die Kraft. Ich konnte mich nicht rühren. Es war, als wäre ich zu Salzsäure erstarrt.

„Er hat recht mit dem, was er sagt, Millie."

Langsam glaubte ich wirklich, dass ich verrückt werden würde. Vielleicht bildete ich mir das alles auch nur ein. Vielleicht war ich nicht ganz bei Trost. Nicht bei Sinnen. Doch warum fühlte sich das alles so real an? Und wie sollte ich wissen, was noch real war und was nicht?

Sie redete mit mir, wie ein echter Mensch. Sie berührte mich, wie ein echter Mensch. Und sie saß vor mir und hielt mich fest, wie ein echter Mensch. Sie konnte nicht tot sein. 

Mir war nur nicht klar, warum Marlow mir das weismachen wollte.

„Nein Cathy! Du redest mit mir. Du bist hier, bei mir. Das geht nicht, wenn jemand tot ist", schluchzte ich und wollte einfach nicht glauben, was man mir versuchte einzureden. Ich schüttelte unweigerlich den Kopf und schloss meine Augen. Ich wollte einfach nur, dass dieser Albtraum ein Ende hatte. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als endlich aufzuwachen und festzustellen, dass es wirklich nur ein Traum war. Cathy. Bailey. Und Marlow.

„Süße, du weißt, dass es stimmt", sagte sie mit engelsgleicher Stimme. 

Ein Jahr, sagte er. Ein Jahr sollte sie schon tot sein. Durch einen Unfall aus dem Leben gerissen.

„Aber ich ...", suchte ich nach Worten, doch mir fehlte der Antrieb. Ich verstand die Welt nicht mehr. Tränenüberströmt sah ich in ihre Augen. Wie konnte jemand so real sein, der angeblich tot sein sollte? Ich musste verrückt sein. Vermutlich geistesgestört ...

„Marlow hat dir alles erzählt. Denk nach, Millie", trieb sie mich an. „Denk nach. Vor einem Jahr war nicht nur der Unfall."

„Nein, das kann nicht sein, Cathy ... Ihr wollt mich verrückt machen und ich hasse euch dafür", schrie ich, während ein eiskalter Schauer meinen Rücken entlang lief. In ihren Augen lesen zu können, dass Marlow recht hatte, ließ mich noch mehr frösteln.

„Du weißt genau warum, Millie. Was war vor einem Jahr?"

Ein weiteres Mal forderte sie mich auf, darüber nachzudenken und verlangte von mir, es laut auszusprechen. Natürlich wusste ich, was sie gemeint hatte. Ich wusste, was vor einem Jahr gewesen war. Meine Operation. 

„Die Niere", entgegnete ich leise. Mein Herz blieb stehen und ich bekam wieder einmal keine Luft. Es fühlte sich an, als würde ich eingeklemmt unter einem Auto liegen. Als würde mich etwas daran hindern, Luft zu holen. Doch sie lächelte mich immer wieder an und strich behutsam und sanft über meine Wange. Die Sonne blendete mich durch die verschneiten Zweige der kahlen Bäume, doch trotzdem sah ich, dass sie schwach nickte und damit meine Vermutung bestätigte. 

Ich hatte ihre Niere ...

Sie war gestorben und ich durfte dafür leben.

Wie konnte das sein? Wieso war sie hier? Wieso sprach sie mit mir?

Ein Mann blieb vor mir stehen und fragte, ob er mir helfen könne. Doch ich schüttelte meinen Kopf und versuchte mich mit letzter Kraft alleine aufzuraffen.

„Sie können dich nicht sehen?", vergewisserte ich mich und wusste innerlich, dass ich die Antwort auf meine Frage bereits kannte.

„Nein, Liebes. Können sie nicht."

„Und Marlow?"

„Nein. Nur du. Und Bailey", kicherte sie leise, als ich in dem Moment jemanden hinter mir meinen Namen rufen hörte. 

„Millie!"

Die Stimme war unverkennbar. Ich wusste sofort, dass es Marlow war, der mich gesucht hatte. Doch ich reagierte nicht. Stattdessen sah ich dabei zu, wie Cathy aufstand und Platz für Marlow machte. Er kniete sich sofort neben mich, hielt mich fest und redete auf mich ein. 

„Bist du verletzt? Ist alles gut bei dir?", fragte er, doch ich hatte in diesem Augenblick nur Augen für Cathy. 

„Ihr seid toll zusammen. Macht was draus, Millie", sagte sie und wich noch einen Schritt zur Seite. Obwohl meine Sicht verschwommen war, versuchte ich, sie nicht aus den Augen zu verlieren. „Du brauchst mich nicht mehr."

„Antworte mir, Millie. Ist alles in Ordnung?"

Ich nickte, wobei es eher Cathy als Marlow galt, der mich erleichtert in den Arm nahm. Meine Konzentration war durchgehend auf Cathy gerichtet, die sich immer weiter von mir entfernte.

„Was ist mit Bailey?", fragte ich, woraufhin sie lächelte.

„Keine Sorge, er ist hier", hörte ich Marlow antworten.

„Mein Weihnachtsgeschenk für euch", sagte Cathy im gleichen Moment.

Alles um mich herum geschah wie in Trance. Nichts nahm ich wirklich wahr. Die ganze Zeit darauf bedacht, Cathy zu beobachten. Zu sehen, was sie tat und zu hören, was sie sagte. 

Marlow redete erneut auf mich ein, während ich stur auf Cathy blickte.

„Millie, du musst aufstehen. Es ist kalt, komm schon", forderte er mich auf, doch ich blendete ihn völlig aus.

„Pass gut auf ihn auf, ja?", bat mich Cathy, woraufhin meine Unterlippe erneut anfing, zu beben. „Das werde ich. Versprochen."

Marlow half mir hoch, doch mein Blick war immer noch auf Cathy gerichtet. Mit meinen Fingern trocknete ich Tränen in meinen Augen, um sie besser sehen zu können. Doch ich wurde im selben Moment von einem hellen Sonnenstrahl geblendet, sodass ich für eine Sekunde meine Augen zusammenkneifen musste.

Als ich sie wieder öffnete, war Cathy weg ...

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