-22- Marlow
Endlich.
Nach sage und schreibe anderthalb Stunden Verspätung, war ich endlich aus der Bank rausgekommen. Mister Wittmore war heute besonders anstrengend gewesen. Aber was tat man nicht alles für seine Kunden? Vor allem für einen unserer wichtigsten, denn von denen lebten wir nun mal. Auch wenn es mir schwer gefallen war.
Man musste sich diese Ironie mal richtig durch den Kopf gehen lassen: Da hatte ich mich endlich dazu durchgerungen, zu meinen Gefühlen zu stehen und hatte mich auf dieses Date eingelassen und dann klappte es vorne und hinten nicht.
Doch ich musste jetzt das Beste daraus machen. Der Tisch war weg und Millie war verständlicherweise auch nicht mehr in der Stimmung, um Essen zu gehen. Dabei war ich froh, dass sie überhaupt noch an ihr Handy gegangen war, als ich sie angerufen hatte.
Sie hatte sich zum Glück noch auf einen Abend mit mir eingelassen und so machte ich mich auf den Weg zu ihr nach Hause, um sie und Bailey abzuholen. Wie ein verknallter Teenager freute ich mich auf sie. Vielleicht gefiel mir die Vorstellung, mit ihr alleine bei mir zu Hause zu sein, sogar tausendmal besser, als in einem überfüllten Restaurant in der Weihnachtszeit. Was aber nicht bedeutete, dass ich Mister Wittmore dafür dankbar gewesen war, dass er mich aufgehalten hatte.
Ich hoffte einfach nur, dass das den Abend nicht versaut hatte.
Als ich vor ihrem Haus parkte, ging mir ein wenig die Düse. Mein Herz pochte wild in meiner Brust. Zum einen war das diesem Date geschuldet und zum anderen, weil ich nicht wusste, wie Millie auf meine Unpünktlichkeit reagierte.
Aufgeregt schaute ich in den Rückspiegel, strich mir durch meine Haare und machte mich dann auf den Weg zu ihrer Haustür. Es dauerte nicht lange und sie öffnete die Tür. Als ich sie sah, musste ich automatisch grinsen. Mit ihrer Art verzauberte sie mich einfach immer wieder. Und für mich gab es keinen Zweifel daran, dass ich das Richtige tat.
„Oh Gott, warte. Ich zieh mich doch eben um", knirschte sie unsicher und machte Anstalten, sich direkt umzudrehen. Doch ich hielt ihre Hand fest und schüttelte den Kopf.
„Quatsch, bleib doch so. Auf meiner Couch ist das so viel gemütlicher, als mit einer Jeans. Und wenn du nichts dagegen hast, würde ich meine Klamotten auch gegen was Bequemeres tauschen."
Sie kicherte und vergrub ihre Hände verlegen in ihren gewellten Haaren, die übrigens fantastisch aussahen. Genau, wie sie.
„Okay", entgegnete sie schließlich leise. Nachdem das geklärt war, widmete ich Bailey meine Aufmerksamkeit, der schon ungeduldig vor mir saß und darauf wartete, dass ich ihn begrüßte. Millie zog sich ihre Jacke und ihre Schuhe an, während ich den kleinen Vierbeiner auf meinen Arm nahm. Eine reine Vorsichtsmaßnahme, immerhin war es nass draußen und mein Auto frisch gereinigt.
Auf der Fahrt erzählte ich ihr von Mister Wittmore und entschuldigte mich nochmal persönlich bei ihr. Ich hatte den Abend versaut. Zumindest das Essen, aber ich war gewillt, uns trotzdem noch einen schönen Abend zu bereiten.
Mittlerweile hing uns beiden der Magen bis unter die Kniekehlen, weshalb ich sofort den besagten Italiener anrief und uns reichlich zu essen bestellte.
Bailey hatte es sich zwischenzeitlich auf der Couch gemütlich gemacht. Er kannte sich ja mittlerweile hier aus und wusste, dass er das durfte. Auch wenn Millie ihn einige Male von der Couch jagen wollte, doch für mich war das kein Problem. Ich war schon immer der Hundetyp. Katzen waren mir mit ihrer eigenwilligen Art einfach suspekt. Genauso wie bei Menschen, konnte ich diese Eigenschaft überhaupt nicht leiden.
Während sich Millie zu Bailey gesellte und ein wenig mit ihm spielte, ging ich in mein Badezimmer und nahm eine Dusche. Nach dem anstrengenden Tag in der Bank, hatte ich einfach das Bedürfnis danach. Außerdem wäre es mir sonst unangenehm gewesen. Wenn Millie und ich gleich auf der Couch nebeneinander saßen und vielleicht sogar ein wenig näher, dann wollte ich sie unter keinen Umständen vergraulen.
Ich beeilte mich selbstverständlich, trocknete mich ab und lief mit einem Handtuch bekleidet in mein Schlafzimmer. Millie hatte zu mir geschaut. Ich hatte es genau gesehen. Ihre Augen waren kurzzeitig groß wie Schallplatten, bevor sie sich verlegen zu Bailey gedreht hatte. Sie war süß und anscheinend gefiel ihr, was sie gesehen hatte. Und das wiederum gefiel mir.
Nachdem ich, so wie ich es ihr versprochen hatte, auch eine Jogginghose und ein T-Shirt angezogen hatte, ging ich zurück zu den beiden. Wir machten es uns auf der Couch gemütlich und einigten uns auf eine Komödie mit Adam Sandler und Kevin James. Die beiden im Duo gingen absolut immer und ich kannte niemanden, der die Filme mit den beiden Schauspielern nicht gerne sah. So auch Millie, die sich lässig an die Couch lehnte.
Bailey lag zwischen uns und genoss sichtlich die Streicheleinheiten, die er von uns beiden bekam. Er grummelte genüsslich vor sich hin und schloss seine Augen. Hin und wieder berührten sich unsere Hände, woraufhin sie merklich zusammenzuckte. Aber bei mir blieb das auch nicht ganz ohne ... Mein Magen flatterte bei jeder Berührung und es fühlte sich an, als würden Flugzeuge Loopings in meinem Bauch fliegen.
Herrje, ich wusste nicht, wie lange es her war, dass ich solche Gefühle hatte. Die, die man anfänglich immer hatte, wenn man verliebt war.
Verliebt ...
War ich das? Ich musste der Tatsache wohl ins Auge blicken. Sie gefiel mir, ich hatte Interesse daran, sie weiter kennenzulernen und ich genoss ihre Nähe in vollen Zügen. Nichts anderes war doch Verliebtsein, oder?
Ich sprach natürlich nicht von richtiger Liebe, von Zukunftsplänen und alledem. Aber es fühlte sich toll an und ja, wenn das alles hieß, dass ich verliebt war, dann war es eben so.
Mittlerweile war ich soweit, dass ich etwas in meinem Leben ändern wollte.
Als das Essen geliefert wurde, saßen wir weiterhin auf der Couch. Auf dem Tisch vor uns, lag ein großer Pizzakarton. Dazu gab es zwei verschiedene Nudelvarianten. Zum einen vegetarisch - Pasta mit Basilikumpesto - und zum anderen Pasta al Forno.
Fehlte nur noch etwas Kühles zu trinken. Also ging ich zum Kühlschrank, holte zwei Bier heraus und sah sie fragend an.
„Möchtest du? Oder vielleicht lieber einen Wein?"
„Nein, danke. Ich trinke nicht."
„Okay, kein Problem."
Ehrlich. Ich fand es gut, dass sie nicht trank. Wahrscheinlich sollte ich mir ein Beispiel an ihr nehmen.
Und das tat ich auch. Ich stellte beide Flaschen zurück in den Kühlschrank und schüttete uns beiden ein Glas Wasser ein. Es war sowieso besser, immerhin würde ich sie später ganz Gentleman-like nach Hause fahren.
„Trink du ruhig dein Bier. Also ... Nicht, dass du denkst, ich bin verklemmt oder so."
Dachte sie das wirklich von mir?
„Denke ich nicht. Ehrlich."
Einen Moment lang betrachtete Millie mich und dabei legte sich ein leichtes Grinsen auf ihre Lippen. Sie stocherte in den Nudeln herum und schien nachdenklich zu sein. Doch bevor ich etwas sagen konnte, drehte sie sich schon zu mir.
„Ich darf nicht. Also schon, aber in Maßen. Doch ich lasse es trotzdem lieber sein."
Mit dieser Aussage hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Was hieß das, sie durfte nicht?
„Jetzt hast du mich neugierig gemacht. Was ist passiert? Wieso darfst du nichts trinken?"
Wenn sie mir jetzt gesagt hätte, dass sie in ihren jungen Jahren bereits einen Leberschaden erlitten hatte, weil sie zu viel Alkohol getrunken hatte, dann hätte ich wahrscheinlich auf der Stelle einen Besen gefressen.
„Ich hatte eine Nierentransplantation."
Oh ...
Verdattert pustete ich Luft aus und legte meine Pizza zurück in den Karton. Dann drehte ich mich zu ihr und widmete ihr meine volle Aufmerksamkeit.
„Meine Nierenkörperchen haben nicht mehr so gearbeitet, wie sie sollten. Nach monatelanger Dialyse und unzähligen Medikamententherapien, brauchte ich dann aber schließlich doch eine neue Niere."
Unglaublich, was sie durchgemacht haben musste.
„Und nun geht es dir gut?"
„Ja, mir geht es gut. Sehr gut sogar. Nun weißt du, wieso ich keinen Alkohol trinke."
Sie lächelte und ihre Augen strahlten richtige Lebensfreude aus. Erst jetzt nahm ich das so richtig wahr. Mir war überhaupt nicht in den Sinn gekommen, dass es anderen in letzter Zeit ebenfalls schlecht gegangen sein konnte.
Am Ende waren wir vollkommen unterschiedlich und doch irgendwie gleich. Wir hatten beide einen Schicksalsschlag hinzunehmen und hatten unser Päckchen zu tragen gehabt.
Sie bekam meinen vollen Respekt dafür, dass sie so lebensfroh war, nachdem sie diese Krankheit hatte. Es war bewundernswert.
„Das tut mir leid, Millie. Wann war das?"
„Es ist jetzt knapp ein Jahr her, aber es geht mir wirklich gut. Wenn man einmal fast gestorben ist, sieht man sein Leben anders, schätze ich."
Fasziniert taxierte ich sie ganz genau. Ihre kleinen Grübchen, die sich beim Lächeln an ihren Mundwinkeln bildeten, waren unglaublich niedlich. Am liebsten hätte ich sie auf der Stelle geküsst. Der Gedanke daran, ihre Lippen noch einmal auf meinen zu spüren, brachte eine unbändige Lust in mir hervor.
„Hör auf, mich so anzugucken. Ich will kein Mitleid. Bitte", flehte sie, doch sie deutete meinen Blick vollkommen falsch. Natürlich tat mir das leid, aber das Letzte, was sie von mir bekam, war Mitleid. Ich feierte sie dafür, dass sie immer so gut gelaunt war. Dafür, dass sie in dieser schweren Lage nicht aufgegeben hatte.
Diese bemitleidenswerten Blicke kannte ich nur zu gut, wobei ich sie tatsächlich nicht so angesehen hatte. Und genau deswegen sagte ich ihr das auch.
„Du bekommst auch kein Mitleid von mir. Im Gegenteil ... Ich finde es toll, wie du das Leben genießt. Und natürlich tut mir diese Krankheit leid für dich, aber ich bin froh, dass du jetzt gesund bist, Millie."
Grinsend nahm sie ein Stück Pizza, lehnte sich zurück und schaute auf den Film, auf den ich mich beim besten Willen nun nicht mehr konzentrieren konnte.
Immer wieder ging mir durch den Kopf, wie schwer sie es gehabt haben musste. Aber sie lebte und sie war gesund. Und das strahlte sie auch aus. Dass sie mir davon erzählt hatte, war ein Vertrauensbeweis, den ich absolut zu schätzen wusste. Nun war ich eigentlich an der Reihe, ihr von meinem Schicksal zu erzählen.
Doch jetzt, in dieser Sekunde, war ich nicht bereit dazu.
Vielleicht in einer Stunde. Vielleicht morgen. Vielleicht irgendwann.
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