-18- Marlow

Wow. Einfach nur wow.

Dieser Kuss mit Millie war berauschend. Mehr als das. Unbeschreiblich.

Wir waren uns in diesem Moment so nahe, dass ich nicht anders konnte, als sie zu küssen. Seit einiger Zeit war da dieses Verlangen. Und seit dem Beinahe-Kuss wurde es stetig größer.

Es war komisch und ungewohnt. Im ersten Moment aber nur. Immerhin waren Gefühle mit im Spiel. Gefühle, die ich für andere Frauen, die ich im letzten Jahr geküsst hatte, nicht empfunden hatte.

Ihre Lippen waren weich und hatten sich perfekt an meine geschmiegt. Mein Herz hatte kurzzeitig einen Salto gemacht und war im Dreieck galoppiert.

Ja, verdammt. Es fühlte sich richtig an. Und doch konnte ich mich ihr nicht vollkommen hingeben.

Zugegeben, es war nicht mein bester Kuss. Aber das machte nichts. Ich war so stolz auf mich, dass ich es durchgezogen hatte.

Mein Herz war voll dabei. Nur mein Kopf, der machte mir noch zu schaffen. Doch ich war bereit, daran zu arbeiten. Ein Schritt nach dem anderen.

Zuhause ging ich immer wieder das Gespräch mit Wyatt durch, nachdem wir das Haus unserer Mutter verlassen hatten.

***

„Du hast recht. Ich habe Angst. Und ich weiß nicht, was ich machen soll, Wyatt", hatte ich meinem Bruder gebeichtet. Das, was er sowieso schon längst vermutet hatte.

Er war mitten auf dem Weg zu seinem Auto stehen geblieben und hatte sich mit einem tiefen Seufzer zu mir umgedreht. Ohne Worte, nur mit einer Kopfbewegung, hatte er mir angedeutet, dass wir eine Runde mit Bailey spazieren gehen sollten.

Wir waren die Wege entlang gegangen, in denen wir schon als Kinder gespielt und die wir in und auswendig gekannt hatten, während die Straßen immer mehr mit Schnee bedeckt worden waren.

„Ich kann mir wahrscheinlich nicht mal ansatzweise vorstellen, wie es dir geht, Marlow. Aber bitte, bestraf dich doch nicht dafür. Es war nicht deine Schuld und du bist, im Gegensatz zu ihr, noch am Leben. Es war ein Unfall und selbst wenn du mitgefahren wärst, hättest du sie wahrscheinlich nicht retten können."

Das war das Schlimmste überhaupt gewesen. Die Vorstellung, dass sie alleine war. Laut Polizeiangaben war sie nicht sofort tot gewesen. Hätte ich mir die Zeit für sie genommen, wäre ich gefahren. Dann hätte es vermutlich mich getroffen. Oder ich wäre an einer Ampel über Gelb gefahren und es wäre nie dazu gekommen.

Natürlich gab ich mir die Schuld. Irgendwie ... Auch wenn ich nicht in diesem verfluchten Auto saß.

„Vielleicht hätte es mich getroffen."

„Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Ich glaube, dass es sowas wie das Schicksal gibt und ich glaube auch, dass ihre Zeit einfach begrenzt war. Wäre es nicht bei diesem Unfall passiert, dann eben woanders. Du kannst es nicht beeinflussen. Und jetzt hast du die Wahl: Quälst du dich ein Leben lang weiter oder schaust du nach vorne? Es liegt an dir."

Wahre Worte, die mein Bruder mir mitgeteilt hatte. Ich wollte mich nicht ein Leben lang quälen. Ich wollte irgendwann wieder jemanden lieben und glücklich werden. Mit allem, was dazu gehörte.

Und damit meinte ich nicht nur belanglose One-Night-Stands.

Ehrlich gesagt, war ich zu alt für so einen Scheiß. Ich hatte mich in meiner Zeit als Single mehr als genug ausgetobt. Es war kaum ein Wochenende vergangen, an dem ich nicht feiern war, um zu sehen, was sich ergab. Und es hatte sich oft etwas ergeben. Sehr oft.

Inzwischen wollte ich aber etwas anderes. Ich leitete eine Bank, war alt genug, um Kinder zu bekommen. Ein besserer Vater zu werden, als mein Erzeuger es war. Und natürlich wusste ich, dass all dieses Verkriechen und nicht nach vorne sehen nichts brachte. Rein gar nichts.

Mein Herz wollte es aber langsam wieder und sehnte sich einfach zu sehr nach Wärme und Zuneigung. Und das alles fand es nun mal bei Millie.

„Ja ich weiß, Wy. Es ist nur so, dass... Ich hatte mich wirklich gut im Griff. Du weißt, ich habe Frauen getroffen. Aber jetzt? Zur Weihnachtszeit? Es ist manchmal, als wäre es gestern erst passiert. Aber das mit Millie ... Ich kann mich langsam nicht mehr dagegen wehren. Egal, was mein Kopf mir sagt. Es fühlt sich gut an mit ihr und genau das jagt mir eine scheiß Angst ein."

So war es. Angst, dass ich so etwas vielleicht nochmal durchmachen müsste. Angst, wieder alleine da zu stehen. Angst, dass sie nicht akzeptieren könnte, dass es vor ihr eine gab, die ich heiraten wollte.

Was war, wenn ich es nicht packen würde? Wenn ich trotz dieser Gefühle nicht soweit war? Millie hatte es nicht verdient, dass ich sie deswegen abservieren würde.

„Ich weiß ja nicht mal, ob sie es genauso sieht", versuchte ich mich irgendwie aus der Situation zu befreien, doch Wyatt lachte leise.

„Glaub mir. Sie will definitiv. Ihr beide. Man merkt einfach, dass zwischen euch nur so die Funken sprühen. Mann Marlow, es wird Zeit, dass du in deinem Herz mal Platz machst. Du sollst sie nicht vergessen. Ihr habt tolle Erinnerungen, aber man kann auch neue sammeln und Platz in seinem Herzen machen, weißt du?"

Grinsend zwinkert er mir zu, während ich seine Worte sacken ließ.

„Sie wird es verstehen, wenn du mit ihr sprichst. Da bin ich mir sicher ..."

***

Wyatt hatte recht. Ich musste Platz schaffen. In meinem Herzen. Aber auch woanders. Viel zu lange hatte ich es vor mir hergeschoben.

Doch erst musste ich mein Versprechen einlösen und meinen kleinen Freund Bailey abholen.

Nachdem ich mir am nächsten Morgen noch schnell einen Kaffee in einen Thermobecher gefüllt hatte, machte ich mich mit meinem Auto auf den Weg zu Millie.

Fest entschlossen, etwas zu ändern. Ich musste raus aus diesem Schneckenhaus. Der Kuss hatte mir gezeigt, dass ich mehr wollte. Dass ich mich nicht länger dagegen sträuben wollte. Mir die Augen geöffnet.

Es wurde einfach Zeit.

Ich hatte mir den Tag heute frei genommen, denn genau diese freie Zeit brauchte ich mal wieder. Das, was ich vorhatte, ging nicht mal eben nach Feierabend.

Als ich vor der Tür hielt, fing es wieder an zu schneien. Daher setzte ich meine Kapuze auf, stieg aus, watete durch den tiefen Schnee und steuerte die weiße Holztür an.

Das Haus von Millie's Eltern war sehr schön und wirkte einladend. Es hatte eine Klinkerfassade und in den Fenstern hingen Lichter und weihnachtliche Deko. Es wirkte modern, obwohl es sicherlich in die Jahre gekommen war. Typisch amerikanisch, gab es eine Veranda mit einem weißen Zaun davor.

An dem riesigen Baum im Vorgarten hing eine zugeschneite und verlassene Schaukel, die mich erahnen ließ, wie schön und unbeschwert Millies Kindheit gewesen sein musste.

Während ich mich noch gedankenverloren umsah und nicht bemerkte, wie doll es inzwischen schneite, öffnete sich die Haustür. Eine blonde hübsche Frau stand vor mir und lächelte mich mit gerunzelter Stirn an.

„Oh hallo", begrüßte sie mich und stellte dabei einen Müllbeutel neben die Haustür.

„Hi, ich bin Marlow. Ich wollte Bailey abholen. Ist Millie da?"

Sie nickte, öffnete die Tür ein Stück weiter und bat mich herein.

Ich folgte ihr und zog dabei meine Kapuze von meinem Kopf. Während ich mich gerade im Haus umsah und versuchte, so wenig Dreck wie möglich mit reinzubringen, winkte sie mich schon hinter sich her.

„Kommen Sie. Sie ist im Wohnzimmer."

Ich deutete auf meine Schuhe, was sie allerdings mit ihrer Hand beschwichtigte.

„Ach, seit der Hund hier ist, wischen und saugen wir sowieso fast täglich. Kommen Sie. "

Nun gut ... Ich folgte ihr, denn mir blieb fast keine andere Wahl. Wenn meine Mutter hier wäre, hätte sie mir womöglich meinen Schuh ausgezogen und mich damit an meinem Hinterkopf geschlagen. Doch als ich das Chaos im Wohnzimmer sah, hatte ich ein minimal weniger schlechtes Gewissen.

Millie lag inmitten von Kissen auf dem Boden und tobte mit Bailey. Drum herum viele kleine Tatzenabdrücke von dem kleinen Vierbeiner. Sie lachte und dabei ging mir mein Herz geradezu auf.

Bailey, der immer wieder auf sie hüpfte, nahm mich erst wahr, als ich mich räusperte. Er kam sofort auf mich zugestürmt, doch ich hatte nur Augen für Millie die sich aufraffte und verlegen ihre Haare richtete.

„Oh, hey Marlow."

Mit leichtem Grinsen zupfte sie ihren Rock zurecht und presste ihre Lippen zusammen. Die Lippen, die ich gestern schmecken durfte und nach denen ich mich schon wieder so sehr sehnte.

Im Augenwinkel sah ich, wie ihre Mutter uns beobachtete und erst als ich meinen Kopf zu ihr drehte und sie anlächelte, tat sie plötzlich überaus beschäftigt und klimperte in der Küche herum.

Typisch Mütter. Meine wäre genauso gewesen. Mit aller Macht verkniff ich mir ein Grinsen und folgte Millie in den Flur.

„Danke, dass du ihn nehmen würdest, aber meine Mum hat spontan frei. Also falls du doch nicht möchtest oder etwas Besseres zu tun hast ... Sie könnte auch aufpassen."

„Schon gut. Gönnen wir deiner Mutter mal den freien Tag. Bailey und ich machen uns schon einen schönen Tag, nicht wahr?"

Hechelnd stand er vor mir, während ich über seinen Kopf streichelte und die Leine an seinem Halsband befestigte.

„Na gut, aber dann hole ich ihn ab. Dann musst du nicht extra wieder losfahren."

Mir machte es zwar keine Umstände, ihn später wieder zu bringen, aber sie bestand darauf. Also gab ich ihr meine Adresse und machte mich mit Bailey auf den Weg zu mir nach Hause.

Ich hatte viel vor heute, also drehte ich die Musik für uns beide ein wenig auf und legte los. Bailey lag in seinem Körbchen, welches ich extra besorgt hatte und sah mir mit einem Kauknochen im Maul dabei zu, wie ich Ordnung schaffte.

Es dauerte etliche Stunden, bis ich alles aussortiert und geordnet in Kisten verstaut hatte. Doch es tat gut. Es war befreiend, mich von meiner Vergangenheit zu lösen.

Die Vorstellung war nahezu erleichternd, nicht mehr täglich an sie erinnert zu werden, wenn ich den Kleiderschrank öffnete oder in den Kommoden was suchte.

Ich wollte sie nicht vergessen. Um Gottes willen. Aber ich musste mich langsam ein wenig davon lösen. Von ihr. Sonst würde sich nie etwas ändern. Und ich würde vermutlich an meinem Leid ersticken.

Als ich nach einigen Stunden fertig war, sah meine Wohnung, die vielmehr ein großes Loft im industriellen Stil war, wieder männlich aus. Wieder mehr nach Junggeselle und auch, wenn es mir vorher gefallen hatte, durfte ich mir nichts vormachen. Ich war ein Mann, der alleine lebte. Und jetzt sah es auch wieder danach aus.

Verschwitzt ging ich unter die Dusche und legte mich anschließend mit Bailey auf meine Couch. Das Schönste an allem war, dass ich mich wohl fühlte. Überhaupt nicht schlecht, obwohl ich so viel aussortiert und in den Keller gebracht hatte.

Vielleicht war ich tatsächlich bereit. Bereit, einen Schritt weiter zu gehen.

Zufrieden sah ich zu Bailey, der es sich neben mir gemütlich gemacht hatte.

„Du fühlst dich wohl, oder?"

Sein leises Knurren nahm ich als Zustimmung hin.

„Ich auch. Wir haben wirklich gute Arbeit geleistet."

Es war dringend nötig, hier etwas zu verändern. Ich hatte alles weggeräumt, was mich an mein altes Leben erinnerte. Nur ein einziges Foto hatte ich hier in der Wohnung behalten. Immerhin war sie noch immer Teil meines Lebens.

Noch bevor sie damals hier eingezogen war, wollte sie sich bei mir verewigen und hing ein Bild von sich an den Kühlschrank. Und genau da hing es nun immer noch.

Davon konnte ich mich einfach nicht trennen, aber das war okay. Dieser Schritt machte mich einfach verdammt stolz.

Nun wurde es Zeit für mich, nach vorne zu blicken.

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