-14- Marlow
Genau in dem Moment, als Millie und ich uns verabschiedeten und sie mit Bailey nach Hause gehen wollte, hatte der kleine Wicht uns mit seiner langen Leine eingewickelt.
Er zog jetzt kräftig, weil er es auf einen anderen Hund abgesehen hatte. Da Millie fast das Gleichgewicht verlor, hielt ich sie fest. Eng umschlungen berührten sich unsere Hände und schlagartig wurde mir anders. Es tat gut, ihre Nähe zu spüren. Mein Herz erwärmte sich.
Ihre grünen Augen strahlten mich an und zogen mich förmlich in die Tiefe. Ich könnte schwören, dass ihr Herz so laut geschlagen hat, dass ich es hören konnte.
Oder war es doch mein Herz, welches so laut pochte?
Dieser Moment war einfach magisch und Millie sah so unglaublich süß aus, vor allem mit der Strähne, die sich in ihrem Gesicht verirrt hatte. Sanft berührte ich ihre Wange und strich ihr Haar hinter ihr Ohr, was sie schneller atmen ließ.
Nur wenige Zentimeter trennten uns voneinander und alles was ich dachte, war, dass ich diese Lippen auf meinen spüren wollte.
Alles in mir sehnte sich nach ihr. Ich wollte sie küssen. Hier und jetzt.
Langsam näherte ich mich ihr. Ihr Blick haftete auf meinen Lippen und ich sah, wie sie schlucken musste. Sie war mindestens genauso aufgeregt, wie ich. Ihren warmen Atem konnte ich auf meiner Haut spüren, was mich noch verrückter nach ihr machte.
Doch dann wurden wir viel zu schnell aus diesem Zauber gerissen, denn Bailey jaulte und bellte los, als sich der andere Hund näherte. Er zog noch weiter und bevor er uns durch den Central Park schleifen würde, befreite ich uns schleunigst aus dieser Situation.
Mit einem unbeholfenen Grinsen stieg Millie aus der Leine und hielt sich dabei an mir fest. Uns beiden fehlten gerade jegliche Worte. Und ehrlich gesagt, traute ich in dem Moment meiner Stimme auch nicht. Bailey knurrte dem anderen Hund noch hinterher, während Millie ihn zu sich zog.
„Okay, also ... Mach's gut, Marlow. Danke nochmal." Mit diesen Worten verschwand sie und ließ mich sprachlos zurück.
Stumm sah ich ihr hinterher. Dieser Moment war unglaublich. Sie war mir so unfassbar nah gewesen und ich hätte in diesem Augenblick alles gegeben, um sie spüren zu können. Ihre weichen Lippen auf meinen. Meine Zunge, die mit ihrer tanzt.
Doch es sollte nicht sein.
Irritiert über meine Gedanken lief ich nach Hause. In den letzten Minuten war es ganz schön stürmisch geworden. Da ich unbedingt über alles nachdenken musste, wollte ich heute nicht mehr zurück in die Bank.
Zuhause setzte ich mich in meine Küche an den Tresen, trank einen Schluck Wasser und las in der Tageszeitung, um mich abzulenken. Fast zwanghaft versuchte ich mich einfach auf etwas anderes zu konzentrieren, als auf diesen Beinahe-Kuss.
Nachrichten. Sport. Aktien.
Doch dieser Beinahe-Kuss ging mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. Alles, woran ich denken konnte, war Millie. Ihre Schönheit, ihre grünen Augen, ihr Lächeln und ihre Art.
Wütend über mich selbst und meine Gefühle für sie, nahm ich die Zeitung und schleuderte sie durch die Küche.
Ich hasste mich dafür, dass ich Interesse an Millie hatte. Vor allem, weil ich immerzu nur noch an sie dachte. Und doch hatte ich dieses unfassbar schlechte Gewissen. Es fraß mich auf. So sehr, dass sich ein bitterer Beigeschmack auf meine Zunge legte. So sehr, dass mein Magen sich zusammenzutragen und dieses beklemmende Gefühl bis in meine Kehle hinaufstieg.
Die einzelnen Blätter lagen verstreut auf dem Boden herum, während ich mir verzweifelt durch meine Haare fuhr.
„Fuuuck!", schrie ich laut auf. Mit geschlossenen Augen atmete ich tief durch und versuchte mit einem weiteren Schluck Wasser wieder runterzukommen. Aber ich konnte nichts dafür. Gegen meine Gefühle konnte ich nicht ankommen. Ich wollte doch jemand neues kennenlernen.
Wirklich, ich wollte nicht ewig trauern. Aber es war einfach so verdammt hart.
Um mich endgültig abzulenken, gab es für mich nur eine Lösung. Sport.
Und zwar kein Joggen, denn da hatte ich nur noch mehr Möglichkeit, über alles nachzudenken. Jetzt brauchte ich richtigen Sport. Irgendwie musste ich es schaffen, diesen Frust abzubauen und das ging am besten mit meinem Boxsack.
Also befreite ich mich von Hemd und Hose zog stattdessen Shorts und die Boxhandschuhe an und ging in meinen Trainingsraum. Viel war hier nicht. Ein paar Geräte, Hanteln und der Boxsack.
Nach ein paar Aufwärmübungen, schlug ich mit aller Kraft und mit allem, was ich hatte auf diesen Sack ein.
Es tat gut.
Es befreite mich.
Für mich gab es nur ein Ziel und das war: mit meinem Gewissen wieder ins Reine zu kommen.
Und wenn Alkohol keine gute Lösung war, dann musste eben mein Boxsack herhalten.
Catch and release.
Loslassen. Genau das musste ich. Loslassen. Aber wer sagte einem, wie das funktionieren sollte? Es gab dafür keine Anleitung, die ich doch eigentlich so dringend gebraucht hätte.
Aufgeben war keine Option. Genauso wenig wie irgendwo neu anfangen. Ich hatte hier mein Leben und die Erinnerung würde mich sowieso überall hin verfolgen.
Ich wusste genau: Das alte Kapitel war noch nicht richtig abgeschlossen. Da konnte ich doch nicht einfach mit einem neuen anfangen. Es war leider nicht so einfach, wie sich das immer alle vorstellten.
Meine Gedanken kreisten innerlich umher, während ich immer weiter auf diesen Sack einschlug. Es war unglaublich befreiend. Immer wieder holte ich aus und ließ meiner Wut und meiner Trauer freien Lauf.
Schweiß rann an meinem Körper herab. Mein Kopf glühte. Meine Haut war verschwitzt und glänzte in dem gedämpften Licht. Meine Hände taten mir weh. Aber ... Es tat verdammt gut.
So gut, dass ich nicht aufhören konnte. Wie lange war ich hier schon? Ich wusste es nicht. Was ich wusste war, dass ich all die Wut auf mich selbst loswerden musste.
Wie konnte ich nur? Wie konnte ich zulassen, dass Millie mir so nahe kam? Dass ich sie fast geküsst hätte? Und vor allem, dass ich diese Gefühle für sie hatte. Sie war keine Frau, die ich einlud und danach vögeln wollte. Sie war mehr für mich. Und im Augenblick hasste ich mich dafür einfach ...
Völlig aus der Puste schlang ich meine Arme um den Boxsack, lehnte meinen Kopf daran an und starrte ins Leere.
Wann würde ich mir selbst endlich erlauben, wieder zu leben? Doch ich war noch nicht soweit.
Noch nicht.
Ich ließ die Sporteinheit für heute gut sein. Genug ausgepowert.
Also zog ich mich aus, ging unter die Dusche und legte mich anschließend ins Bett. Ich wollte heute niemanden mehr sehen, nichts mehr machen und auch nichts mehr essen.
Es war wieder wie vor einem Jahr.
Ich hing wieder in diesem Loch fest. Doch ich hatte dazu gelernt. Es musste weitergehen. Sie kam nicht wieder.
Am nächsten Morgen raffte ich mich auf - zwar etwas gerädert und mit Muskelkater, aber immerhin schaffte ich es aus meinem Bett.
Mit einem heißen Kaffee in der Hand, sah ich auf die Heizung im Wohnzimmer, wo noch immer mein Handy lag. Seufzend nahm ich es an mich und schaltete es ein. Tatsächlich funktionierte es wieder. Ohne darüber nachzudenken, öffnete ich Millie's Nachricht und sofort wurde mein Herz wieder schwer, als ich an sie dachte.
Sie war viel mehr als eine Frau für eine Nacht für mich. Ich hatte ernsthaftes Interesse an ihr. Und genau das warf mich vollkommen aus der Bahn.
Bisher konnte ich mich mit One Night Stands gut ablenken und meine Bedürfnisse stillen, aber so langsam merkte ich, dass ich wieder mehr in meinem Leben brauchte. Ich wollte jemanden, der mir etwas bedeutete. Auf den ich mich freute, wenn ich nach einem anstrengenden Arbeitstag nach Hause kam. Jemanden, mit dem ich reisen und Spaß haben konnte.
Verdammt, warum war es so schwer?
Dazu kam, dass ich nicht wusste, was ich machen würde, wenn es nicht funktionierte. Wenn ich ihr nicht das geben konnte, was sie verdiente. Wenn sie nicht damit klarkam, dass es vor ihr eine andere gab, die ich geliebt hatte. Mehr als alles andere auf der Welt.
Und wäre der schreckliche Unfall nicht passiert, dann wäre sie heute noch an meiner Seite. Wir wären glücklich und zufrieden.
Welche Frau würde das freiwillig mitmachen?
Das Fest der Liebe, der Tag der Besinnlichkeit, rückte immer näher. Mir war allerdings eher zum Saufen bis zur Besinnungslosigkeit zumute, doch das durfte ich nicht.
Ich durfte nicht den gleichen Fehler machen, den ich vor einem Jahr gemacht hatte.
Vor dem Fernseher lenkte ich mich ab, aber auch nur, bis mein Bruder mal wieder vorbei kam. Vor einem Jahr war es genauso gewesen. Täglich war er vorbeigekommen, um nach dem Rechten zu sehen. Scheinbar ahnte er gerade wieder, wie schlecht es mir ging. Je näher es auf Weihnachten zuging, desto anhänglicher würde er werden.
Aber was wollte ich mich beschweren? Ich war froh, dass ich nicht alleine war. Manchmal jedenfalls.
„Hey, dein Handy läuft wieder, wie ich sehe", stellte er fest, während ich auf meinem eine Mail tippte und nebenbei zu ihm hochsah.
„Hatte es auf der Heizung zum Trocknen. Aber ehrlich gesagt, hat die Zeit ohne Handy mal ganz gut getan. Man läuft doch sowieso ständig mit dem Teil rum."
„Na gut, also was machen wir heute?"
„Musst du eigentlich nie arbeiten?", fragte ich grinsend, wobei ich insgeheim froh war, dass er mich tagtäglich versuchte, abzulenken.
„Ich habe das Glück, dass ich mein eigener Herr bin und mir selbst meine Zeit einteilen kann. Wenn ich nicht gerade einen Termin habe", sagte er und betonte dabei mit Nachdruck seinen letzten Satz.
„Aha. So wie gestern?"
„Ich hatte wirklich einen wichtigen Termin. Möchtest du die Unterlagen sehen?"
„Lass mal, " schmunzelte ich. Doch ich glaubte ihm auch so.
„Wie war es denn noch?", hakte er nach und setzte sich mit einem verschmitzten Grinsen gegenüber von mir.
Natürlich wollte er alles wissen, doch ich erzählte ihm nicht von diesem Beinahe-Kuss. Denn wenn ich einmal erwähnt hätte, dass ich Millie fast geküsst hätte, wenn Bailey nicht dazwischen gekommen wäre, dann würde ich ihn heute nicht mehr loswerden.
Und wahrscheinlich müsste ich mich pausenlos rechtfertigen, wieso ich nicht einfach über meinen Schatten springen konnte.
Ich wusste, dass er mir nur helfen wollte. Natürlich wollte er das. Aber es war mein Tempo, mein Leben und meine Entscheidung.
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