-1- Millie

Draußen schneite es und es waren Minusgrade, aber immerhin schien die Sonne. Sie erstrahlte die tristen und kahlen Bäume und ließ den Schnee glitzernd in der Sonne schimmern. Alles glänzte und für mich war es das perfekte Wetter in dieser kühlen Jahreszeit.

In wenigen Tagen war Weihnachten und überall, wo man hinsah, hingen Lichterketten in den Fenstern, Rentiere standen in den Vorgärten und lauter Frosty's weilten auf den Dächern. Auf dem Weihnachtsmarkt roch es nach Anis und süßen Crepes. Der Duft nach lodernden Kaminen machte die besinnliche Vorweihnachtszeit komplett.

Für viele war heute ein ganz normaler Freitag im Dezember. Viele machten sicherlich ihre Einkäufe, um den Kindern leuchtende Augen unter den geschmückten Tannenbaum zu zaubern. Doch nicht für mich.

Als ich vor einem Jahr wegen einer Nierenerkrankung wochenlang im Krankenhaus lag, stand für meine Familie und mich urplötzlich die Welt still. Es war hart, zu wissen, dass man bald sterben würde. Dass man Tag für Tag darauf gewartet hatte, dass es entweder besser werden oder irgendwann ein Ende nehmen würde.

Während meine Mutter Tag für Tag an meiner Seite war, hatte sie mir immer wieder diese kleinen Worte zugeflüstert:

„Nur wer an Wunder glaubt, wird auch Wunder erleben, meine Kleine."

Ich hatte eine wirklich schlaue Mutter, denn sie sollte recht behalten. Nur ganz knapp war ich dem Tod von der Schippe gesprungen.

Bis zuletzt hatten wir alle auf ein Wunder gehofft und gebangt, dass man eine passende Niere für mich finden würde. Dieses unglaubliche Wunder sollte mir am zwölften Dezember letzten Jahres wiederfahren, denn an diesem besonderen Tag kam für mich die frohe Botschaft.

Die Botschaft, dass eine passende Spenderniere gefunden wurde.

Woher die Niere gekommen war, hatten wir nie erfahren. Es war schade gewesen, denn ich hätte mich gerne bedankt. Doch auch, wenn das nicht ging, war ich dieser Person ein Leben lang dankbar. Ich verdankte ihr mein Leben.

Die Operation wurde sehr schnell in die Wege geleitet und nach weiteren Wochen Krankenhausaufenthalt, durfte ich endlich nach Hause und ganz langsam wieder anfangen, zu leben. Für mich war es das größte Glück auf Erden.

Es war ein Wunder. So wie meine Mutter es vorausgesagt hatte. Ein Geschenk des Himmels.

Nun feierte ich bereits meinen ersten Geburtstag. Denn genau an diesem heutigen Tage vor einem Jahr, bekam ich die Niere, die mir das kostbarste gab, was man haben konnte: Leben!

Seitdem lebte ich vollkommen anders. Auf der einen Seite war ich extrem vorsichtig, aber nur, weil alles für mich so kostbar war. Auf der anderen Seite genoss ich, weil ich wusste, wie schnell es vorbei sein konnte.

Nachdem ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war ich wieder bei meinen Eltern eingezogen, denn die letzten Monate hatten mich wortwörtlich geschafft. Das Zimmer auf meinem College hatte ich dennoch behalten, da ich mein Studium noch nicht beendet hatte. Nach den Semesterferien im Sommer war ich hoffentlich wieder soweit, dass ich mich auf meinen Abschluss konzentrieren konnte.

Um meine Eltern mit der finanziellen Situation zu entlasten, arbeitete ich in einem kleinen Café namens Rosalie's Cottage. Wie der Name meiner Chefin bereits verriet, liebte sie alles, was rosa war. Und dementsprechend sah dieses süße kleine Café auch aus. Es lag ganz in der Nähe des Central Parks in meiner Heimatstadt New York. Die Stadt, die niemals schlief.

Ich liebte New York. Hier war immer etwas los. Egal, zu welcher Tages- und Nachtzeit. Man war umgeben von Menschen jeglicher Art. Egal, ob groß oder klein, ob dick oder dünn und die Hautfarbe spielte auch keine Rolle - jeder konnte das erreichen, was er wollte, wenn er sich nur Mühe gab und für seinen Traum kämpfte. Wenn man es tat, dann wurden einem sämtliche Türen für eine große Karriere geöffnet.

Den Weg zur Arbeit bestritt ich grundsätzlich zu Fuß. Was unter anderem daran lag, dass es keine direkte Verbindung zum Café gab. Die Strecke war aber auch nicht sonderlich lang und wer brauchte in New York schon ein Auto? Dabei spazierte ich durch den Central Park und setzte mich mit einem Cappuccino immer auf die gleiche Bank. Meistens zur gleichen Zeit.

Ich nahm die Menschen um mich herum deutlich anders wahr, als ich es vorher tat und es machte mir Spaß, mir eine Geschichte zu überlegen, die zu ihnen passte.

Manche liefen gestresst mit dem Handy am Ohr vorbei, manche waren genervt, weil ihr Hund nicht hören wollte, welcher ständig wegrannte und manche powerten sich mit einer Joggingsession aus. Doch das alles war nur Fassade. Das wahre Gesicht blieb mir verborgen. Unbekannt.

So, wie bei der jungen Frau, die sich in diesem Augenblick neben mich setzte. Sie sah sehr hübsch aus. Ich schätzte sie auf mein Alter. Ihre haselnussbraunen Haare waren zu einem schicken Longbob geschnitten. Ihre Frisur saß perfekt und ihr Make-Up war so dezent, dass es ihre natürliche Schönheit unterstrich. Doch wer sie war, wusste ich nicht. Ich sah nur das Äußerliche und wusste, dass sie zumindest eine wunderschöne Frau war. Vielleicht war sie Lehrerin oder Erzieherin. Sie wirkte so freundlich und nett, dass ich mir nur vorstellen konnte, dass sie irgendetwas mit Kindern machte.

Sie legte ihren Kopf in den Nacken, hatte die Hände in ihren Jackentaschen vergraben, um sie vor der Kälte zu schützen und genoss die leichten Sonnenstrahlen, die ihr Gesicht ein wenig erwärmten.

„Herrliches Wetter, oder?", begann sie aus dem Nichts eine Unterhaltung mit mir. Verwundert darüber, sah ich zu ihr und lächelte sie an.

„Ja, es ist perfekt", antwortete ich.

„Ich liebe ja den Winter. Zumindest, wenn die Sonne scheint und der Schnee so schön glitzert."

Ich ließ ihren Satz so stehen, denn mehr war da einfach nicht hinzuzufügen. Sie hatte recht. Es sah toll aus, wie die Tannenspitzen mit Schnee bedeckt waren und gleichzeitig von der Sonne bestrahlt wurden. Sie funkelten und schimmerten, wie viele kleine Diamanten.

Als ich meinen Blick umher schweifen ließ, stach mir ein Mann ins Auge, der geradewegs auf uns zujoggte. Wieder einmal fragte ich mich, wie seine Geschichte wohl aussah.

Was steckte hinter der Fassade dieses hübschen Mannes? Seine Haare waren dunkelblond und aufgrund des Sports, den er gerade betrieb, waren sie wild und wuschelig. Durch die sportliche Kleidung, die er trug, konnte man einen durchtrainierten und definierten Körper erahnen. Er sah verdammt gut aus. Ich überlegte mir, dass er vielleicht ein Model war. Für Unterwäsche. Vielleicht Hugo Boss oder Calvin Klein.

Doch beim näheren Betrachten fielen mir seine dunklen Augenringe auf. Entweder er hatte eine durchzechte Nacht hinter sich oder aber er war doch kein Model. Gedankenverloren malte ich mir eine Geschichte zu ihm aus. Wie zu allen. Ich stellte mir vor, dass er einen harten Arbeitstag hatte. Viele Shootings, die er in wenigen Wochen auf Plakatwänden präsentieren würde. Doch scheinbar hatte ich zu offensichtlich gegafft, denn die Frau neben mir kicherte und schüttelte amüsiert ihren Kopf.

„Sprich ihn doch an."

Ehe ich realisierte, dass sie mich gemeint hatte, sprach sie schon weiter. „Der Typ scheint dir zu gefallen, also worauf wartest du?"

Mittlerweile sah ich diesen Mann nur noch in weiter Ferne von hinten, doch selbst wenn er noch in greifbarer Nähe gewesen wäre, hätte ich mich das nicht getraut.

„Vielleicht beim nächsten Mal", forderte sie mich auf und lehnte sich wieder zurück und schloss die Augen.

Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich spät dran war

„Oh verdammt, ich muss los."

Ich stand auf und ging schon einige Schritte, als sie mir hinterher rief.

„Vielleicht sieht man sich ja nochmal."

Mir blieb nicht mehr sonderlich viel Zeit, um zu antworten, doch unterwegs machte ich mir noch Gedanken zu dieser Frau, die mir bisher total unbekannt war. Sie war nett, keine Frage. Und doch kam sie mir irgendwie seltsam vor...

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