4. Kapitel - Leo

Warum ich so nervös war, wusste ich selbst nicht. Aber jetzt warf ich bestimmt schon zum zehnten Mal einen Blick auf meine Smartphoneuhr, um die Uhrzeit zu checken.

17.05 Uhr.

Die Zeit stimmte, auch der Ort stimmte, doch sie war bereits fünf Minuten zu spät.

Ich trippelte von einem Bein aufs andere, wackelte mit dem freien Fuß und sah mich um. Nicht weit entfernt liefen zwei Joggerinnen quatschend nebeneinander her und zogen ihre Runden durch den Park. Gerade überholten sie rechts und links eine weitere Frau, die einen Kinderwagen vor sich herschob und genervt immer wieder daran ruckelte. Das Kind quengelte lautstark, so dass ich unwillkürlich die Augen verdrehte. Wer hatte eigentlich den eigenen Willen bei Kindern erfunden? Nervt nur und ist vollkommen unnötig. Meiner Meinung nach.

„Lade! Laaaadeeee!", schrie das Kind immer wieder und wand sich verzweifelt im Sitz. Wenn es nicht angeschnallt gewesen wäre, wäre es sicher aus dem Kinderwagen gesprungen und hätte sich die Schokolade selbst aus der Tasche der Mutter genommen. Gut, dass die Gurte ähnliches verhinderten. Gut auch, dass Mutter und Kind jetzt einen anderen Weg einbogen und das lautstarke „Laaadee, Laadee"- Gerufe mit größerer Distanz immer leiser wurde.

Erneut zog ich das Handy aus der Gesäßtasche und linste aufs Display.

17.12 Uhr.

Pünktlich war sie schonmal nicht. Und dabei war eigentlich ich immer derjenige, der zu Treffen in der Regel zu spät kam. Meine Freunde beklagten das jedes Mal. Heute musste ich allerdings dringend der schlechten Stimmung im Revier entkommen – und nebenbei meine Flasche vor meiner Chefin in Sicherheit bringen. Wenn ich daran dachte, wie meine Kollegin Jennifer auf meine Beschriftung reagiert hatte, hätte ich immer noch laut loslachen können. Prüde Ziege. Und absolut nicht zu Späßen aufgelegt.

Da kam mir eine Idee. Ich schob mein Handy zurück in die Hose. Grinsend holte ich dann meine Saft

Extrem-Flasche aus der Tasche und trank den letzten Schluck. Geschmacksexplosion pur. Durch die gewaltige Süße und Vielfalt der verschiedenen Früchte musste ich einen Moment die Augen schließen und genoss den Geschmack auf meiner Zunge.

„SEX, hmmm?", erklang eine Stimme neben mir. „Hard?"

Überrascht riss ich die Augen auf und fuhr herum. Keine zwei Meter von mir entfernt stand Rina und musterte mich skeptisch.

„Hey", machte ich leicht dümmlich und ließ die Flasche wieder verschwinden. Dann sickerten ihre zwei Worte in mein Bewusstsein, und ich musste lächeln, als mir die Zweideutigkeit bewusst wurde. Ein anzügliches Grinsen huschte über mein Gesicht. „Immer, so häufig du willst. Wir könnten ..."

„Spar's dir!" Erbarmungslos hob sie eine Hand und deutete mit dieser Geste an, dass sie kein weiteres Wort hören wollte. „Ich hab gleich das Gefühl gehabt, dass das keine gute Idee war. Harten Sex kannst du vergessen."

„Moment, du ..."

„Ehrlich, vergiss es." Sie fummelte an ihrer Ledertasche herum, öffnete sie und fischte das Taschentuch meiner Oma heraus. „Hier." Erbarmungslos hielt sie es mir entgegen. „Ich hab es dir zurückgebracht, bedanke mich dafür, dass du es mir geliehen hast, und damit sind wir quitt. Ein schönes Leben noch." Damit drückte sie mir schnell das Tuch in die Hand und machte auf dem Absatz kehrt, um davonzustürmen.

What?

„Wowowowo!", machte ich und eilte ihr hinterher. Ich bekam Rina an der Schulter zu fassen, um sie aufzuhalten. Als sie herumwirbelte, flogen ihr ihre blonden, kurzen Locken um den Kopf, so dass sie für den Bruchteil einer Sekunde wie eine Rachegöttin aussah. Wütend funkelte sie mich aus blauen Augen an.

„Ein schönes Leben noch?", fragte ich mit hochgezogenen Augenbrauen. „Ehrlich? Dein Ernst jetzt?"

„Mein absoluter Ernst." Sie wischte meine Hand von ihrer Schulter und wandte sich erneut zum Gehen. „Auf Nimmerwiedersehen."

„Warte", versuchte ich sie aufzuhalten. „Wir sollten nochmal von vorne anfangen."

„Kein Bedarf."

„Gib mir eine Chance, Rina", bettelte ich und stellte mich ihr in den Weg, so dass sie mir gegenüber anhalten musste. „Ich bin nicht der Typ, für den du mich hältst. Ehrlich." Meine rechte Hand hob ich und formte die Finger zum Schwur, Zeige- und Mittelfinger bildeten ein V. „Wenn du mich lässt, vielleicht überrasche ich dich ja."

Sie schnaubte und verschränkte die Arme vor der Brust. „Einen Typen, der mir auf subtile Art und Weise mitteilt, was er von mir will, kann ich gerade nicht gebrauchen." Ihre blonden Locken wehten rechts und links um ihr herzförmiges Gesicht, als sie den Kopf schüttelte.

„Du meinst die Flasche?"

„Ich meine Sex!" Jetzt fuchtelte sie wild mit den Händen zwischen uns hin und her.

„Du willst Sex?" Ich wusste, es war gewagt, ihr die Worte im Mund herumzudrehen, aber ich wollte und konnte sie jetzt nicht gehen lassen. Wir mussten dieses Gespräch noch einen kurzen Moment aufrechterhalten, damit ich sie umstimmen und zu einem gemeinsamen Essen überreden konnte.

„Hard!", stöhnte sie genervt.

Ich grinste. „Rina, wir sollten uns wirklich noch ein bisschen Zeit damit lassen, aber ich verspreche dir, dass ich dich nicht enttäuschen werde, wenn es soweit ist. Es wird hart, ausdauernd und unvergesslich."

Fest stieß sie mir mit den Fäusten gegen die Brust, so dass ich tatsächlich ein Stück zurücktaumelte. Lachend rieb ich mir über die Stelle, an der sie mich getroffen hatte.

„Du bist so ein Idiot!", entrüstete sie sich. „Wir beide – das wird nicht passieren. Niemals. Also geh mir aus dem Weg." Damit stiefelte sie hektisch an mir vorbei und ließ mich stehen.

Augenblicklich war mein Lachen erloschen. Das hatte ich mächtig in den Sand gesetzt. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihr sprachlos hinterherzustarren und zu überlegen, was ich als nächstes tun sollte. Sollte ich ihr hinterherrennen? Mich entschuldigen?

Oder sollte ich sie einfach gehen lassen?

Mein Blick fiel auf das gewaschene Taschentuch meiner Oma.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top