8 - Von Flyern und Enttäuschungen
Die Zeit vergeht wie im Flug. Schneller als ich blinzeln kann, ist der nächste Tag angebrochen, was bedeutet, dass mir Len bei dem Verteilen der Vermisstenmeldungen helfen wird.
Vorausgesetzt natürlich, dass sein alkoholisiertes Hirn von gestern unser Treffen nicht schon wieder vergessen hat ...
Während den Vorlesungen fällt es mir besonders schwer, mich auf die Inhalte zu konzentrieren. Normalerweise stelle ich mindestens drei Fragen pro Sitzung, um tiefer in das Thema eintauchen zu können, doch heute schweige ich ausnahmsweise mal.
Zur Not gibt es ja immer noch Google und die Bibliothek, die mir bei Ungereimtheiten weiterhelfen können.
Pünktlich um kurz vor vier am Nachmittag verlasse ich das Unigebäude. Draußen schlägt mir eisige Luft entgegen, weshalb ich schnell meine Jacke zuknöpfe. Auch wenn ich das kalte Wetter nicht mag, bin ich erleichtert, dass es nicht regnet.
Mit schnellen Schritten und rasendem Herzen steuere ich den Skatepark an. Kurz bevor ich ihn erreicht habe, lässt mich eine bekannte Stimme, die ich gerade nicht hören möchte, innehalten.
„Piper!"
Wie vom Blitz getroffen bleibe ich stehen. Obwohl es schwachsinnig ist, halte ich sogar die Luft an – in der Hoffnung, dadurch unsichtbar zu werden.
„Piper!", wiederholt sich Alex dieses Mal eine Spur lauter. Trotz des regen Treibens auf dem Campus kann ich genau hören, wie mir seine Schritte näherkommen.
Oh man. Alex und seine Monologe haben mir gerade noch gefehlt ...
In den letzten Tagen habe ich es mit Bravour geschafft, Alex aus dem Weg zu gehen. Manchmal konnte ich ihn dabei beobachten, wie er Ausschau nach mir gehalten hat, doch ich war so egoistisch und habe ihn allein in der Menschenmenge zurückgelassen.
Ausgerechnet heute, wo die Zeit drängt, war ich nicht vorsichtig genug und bin aus der Bibliothek gegangen, ohne vorher zu schauen, wo sich Alex befindet.
Diese Leichtsinnigkeit wird mir natürlich sofort zum Verhängnis.
Da Alex weiß, dass ich ihn gehört habe, bleibe ich notgedrungen stehen und warte darauf, dass er zu mir kommt. Sobald er mir in die Augen schaut, erkenne ich ein trauriges Funkeln, das seine Pupillen verschleiert.
„H-Hey", stammele ich mit einem unsicheren Lächeln auf den Lippen. Mein schlechtes Gewissen hüllt mich noch in derselben Sekunde in einen Schleier der Reue und macht es mir beinahe unmöglich, Alex' Blick zu erwidern.
„Hey Piper." Alex klingt niedergeschlagen. „Warst du die letzten Tage nicht in der Uni? Ich habe dich nirgends gesehen."
Insgeheim habe ich schon damit gerechnet, dass unser Gespräch in diese Richtung verlaufen würde. Vermutlich hat Alex aber gar nicht mich, sondern meine Notizen vermisst.
Alex ist zwar auch nicht auf den Kopf gefallen – andernfalls hätte er es nicht so weit in seinem Studium geschafft – aber er tendiert dazu, in den Vorlesungen die Füße hochzulegen, statt konzentriert mitzuarbeiten. Dementsprechend freut er sich dann, wenn er im Anschluss meine Notizen abschreiben darf.
Mit einem Kopfschütteln verwerfe ich meine Gedanken.
„Tut mir echt leid, Alex, in den letzten Tagen war viel los bei mir. Ich bin immer erst kurz vor Vorlesungsbeginn erschienen."
Bei meinen Worten löst sich die steile Falte auf Alex' Stirn auf. Wenn mich nicht alles täuscht, lodert sogar ein Fünkchen Hoffnung in seinem Blick auf.
„Also bist du mir nicht aus dem Weg gegangen, Piper?"
Ich weiß, dass ich endlich ehrlich zu Alex sein sollte und ihm sagen muss, dass ich Abstand zu ihm brauche. Da ich allerdings Angst vor seiner Reaktion habe und ihn nicht verletzen möchte, entscheide ich mich wie immer für eine Notlüge.
„Nein, natürlich nicht", lächele ich ihn gezwungen an.
Kurz mustert mich Alex noch, ehe sich ein erleichtertes Grinsen auf seinen Lippen breit macht. „Gott sei Dank! Ich habe schon befürchtet, dass ich dich mit meinem Auto abgeschreckt habe. Nicht jeder kann so einen Luxusschlitten fahren, wie ich. Eifersucht ist also vollkommen normal."
Es kostet mich all meine Kraft, nicht die Augen zu verdrehen.
Wie kann man bloß so weit von der Realität entfernt leben? Langsam wird es mir immer mehr ein Rätsel, wie ich Alex' Anwesenheit und seine Monologe in den letzten zwei Jahren ertragen konnte.
„Hättest du noch kurz Zeit für mich, Piper? Ich würde gerne mit dir reden. Unter vier Augen. An einem ruhigen Ort."
Direkt beginnen die Alarmglocken in meinem Kopf zu schrillen.
So intensiv wie mich Alex gerade anschaut, bezweifele ich, dass er sich mit mir über Inhalte der Vorlesungen unterhalten möchte.
Aber worüber möchte er dann mit mir sprechen? Etwa weiterhin über sein Auto?
Um ehrlich zu sein bin ich erleichtert, dass ich gestern ein Treffen mit Len vereinbart habe, denn ansonsten würde mich mein schlechtes Gewissen vermutlich dazu überreden, dem Gespräch mit Alex zuzustimmen.
„Ich bin leider schon verabredet, Alex", murmele ich leise, ohne meinem Gegenüber dabei in die Augen zu schauen. „Ein anderes Mal, okay?"
Es zerreißt mir das Herz, zu sehen, wie Alex enttäuscht die Schultern hängen lässt. Noch schlimmer ist jedoch das traurige Glitzern in seinem Blick, das eine Gänsehaut der Schuld über mein Rückgrat tanzen lässt.
Alex ist kein schlechter Mensch – das ist er wirklich nicht. Dementsprechend hat er es auch nicht verdient, ständig von mir versetzt und angelogen zu werden.
Ich möchte gerade meinen Mund öffnen und Alex fragen, ob er morgen Zeit für ein Gespräch hat, da kommt er mir zuvor, indem er beinahe geräuschlos wissen möchte: „Versprochen?"
Ich schlucke schwer.
„Versprochen!"
Zum Glück verabschiedet sich Alex kurz daraufhin von mir, sodass ich meinen Weg zum Skatepark fortsetzen kann. Mein Herz rast und meine Gedanken überschlagen sich. Hinzu kommt mein schlechtes Gewissen, das dauernd an Alex' traurige Augen erinnert wird.
Verdammt!
Ich hole tief Luft.
Meine ganze Konzentration muss ich jetzt auf die Suche nach Heather richten. Über Alex kann ich mir später noch lange genug den Kopf zerbrechen.
Als würde sich das Schicksal ausnahmsweise Mal auf meine Seite schlagen, wartet Len bereits am Eingang des Skateparks auf mich. Die übrigen Shadows hocken mit ihren Boards bei der Halfpipe und stoßen mit ihren Bierflaschen an.
Von dem Spruch „Kein Bier vor vier" scheinen sie nicht sonderlich viel zu halten ...
Je näher ich Len komme, umso kräftiger schlägt mein Herz. Meine Hände werden schwitzig, meine Atmung beschleunigt sich und mein Körper beginnt zu zittern.
Noch immer bin ich mir nicht sicher, ob es eine gute Entscheidung ist, mir von Len helfen zu lassen.
Was, wenn er bloß einen Vorwand sucht, um mich auszurauben?
Oder noch schlimmer: Was, wenn er mich gleich in eine verlassene Gasse zieht und mich dort vergewaltigen möchte?
Ich spüre, wie sich die Angst in meinem Herzen einnistet und Stromstöße der Panik durch meine Venen schickt.
Ich kann Len nicht vertrauen, schließlich kenne ich ihn überhaupt nicht. Am besten drehe ich schnell wieder um und verteile die Vermisstenmeldungen allein.
„Hey Piper. Da bist du ja endlich", begrüßt mich Len im Einklang mit meinem Gedankennebel. Anders als am Vortag riecht er angenehm nach Pfefferminze und hat keine rot unterlaufenen Augen.
Ein Zeichen dafür, dass er noch keinen oder wenig Alkohol getrunken hat.
„Mein Auto steht an der Straße. Wenn du möchtest, können wir sofort losfahren", spricht er lächelnd weiter.
Es ist merkwürdig, doch mit jedem Wort, das Lens Lippen verlässt, weicht die Angst mehr und mehr aus meinen Knochen. Vielleicht bin ich einfach nur naiv und sehe zu oft das Gute in den Menschen, aber jetzt gerade bin ich mir sicher, dass Len keine bösen Absichten verfolgt. Stattdessen scheint er sich ernsthaft darauf zu freuen, mir zu helfen.
Da ich so überwältigt von Lens Hilfsbereitschaft bin, schaffe ich es nicht, seine Begrüßung zu erwidern. Mit Mühe und Not bringe ich ein Nicken zustande und folge dem Shadow danach schweigend zu der Hauptstraße.
Vor einem alten Golf, der seine besten Jahre eindeutig schon hinter sich hat, kommen wir zum Stehen.
„Das ist Jeff", erklärt mir Len, während er das Auto aufschließt. „Er ist zwar nicht mehr im besten Zustand, aber wenigstens fährt er noch."
Bei dieser Aussage muss ich automatisch an Alex denken. Im Gegensatz zu mir würde er Len für sein Auto verurteilen und vermutlich mit herablassenden Kommentaren um sich schmeißen.
Die Tatsache, dass nicht jeder von seinen reichen Eltern Geld zugesteckt bekommt, scheint für Alex nicht zu existieren.
„Spring rein, Piper!", reißt mich Len einen Herzschlag später in die Realität zurück. Während ich noch immer vor dem dunkelblauen Golf stehe, sitzt Len bereits hinter dem Lenkrad und schnallt sich an. Der Tatendrang, der wie ein Feuer in seinen verschiedenfarbigen Iriden lodert, ist nicht zu übersehen.
Obwohl sich die Angst zurück in mein Herz schleicht, öffne ich die Tür und lasse mich kurz darauf neben Len in den Autositz plumpsen. Direkt schwingt mir eine Mischung aus Alkohol, Zahnpasta und Essensresten entgegen.
Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte man meinen, Len würde in diesem Auto wohnen ...
Ich rümpfe noch einmal kurz die Nase, um mich an diesen Gestank zu gewöhnen, ehe ich mich ebenfalls anschnalle. Den erwartungsvollen Blick von Len versuche ich währenddessen so gut es geht, zu ignorieren.
„Also ... Wie lautet der Plan?", möchte Len nach einigen Sekunden der Stille von mir wissen.
Erst jetzt fällt mir wieder ein, dass Len noch gar nicht die ganze Wahrheit kennt. Da ich ihm nicht vertraue, erzähle ich ihm allerdings bloß, dass meine Schwester verschwunden ist und die Polizei keine Hinweise findet. Auch den Plan, Vermisstenmeldungen in der Stadt zu verteilen, reiße ich nur kurz an.
Len hört mir die ganze Zeit aufmerksam zu. Als ich zu Ende erzählt habe, hakt er nach: „Wie alt ist deine Schwester denn, wenn ich fragen darf?"
„Neunzehn", antworte ich geduldig. „Ich möchte nicht unhöflich sein, aber können wir jetzt bitte losfahren und die Flyer verteilen? Jede Sekunde zählt!"
Ich kann Len ansehen, dass ihm noch mindestens tausend unbeantwortete Fragen auf der Zunge liegen. Wahrscheinlich versteht er nicht, weshalb ich so aufgelöst bin, immerhin ist Heather kein kleines Mädchen mehr. Dass sie eine psychische Beeinträchtigung hat, weiß Len natürlich nicht. Es geht ihn meiner Meinung nach nichts an.
„Na schön", seufzt Len schließlich. „Wir können heute mit Black County anfangen. Morgen und übermorgen sollten wir dann unbedingt die Nachbarstädte abklappern. Je mehr Flyer wir verteilen, umso besser."
Ich bin positiv überrascht von Lens Vorschlag. An die Nachbarstädte habe ich nämlich überhaupt nicht gedacht.
„Wir könnten die Flyer in Supermärkten und Fitnessstudios aushängen. Am Kino und am Rathaus gibt es außerdem eine Art schwarzes Brett. Ansonsten sind Parks und Wälder eine gute Anlaufstelle, oder?" Len schaut mich fragend an. Noch bevor ich ihm antworten kann, fügt er hinzu: „In den Schwimmbädern sollten wir ebenfalls Flyer verteilen. Und vielleicht noch in den Bäckereien."
Ich bin sprachlos.
Nicht, weil Len so schnell wie ein Maschinengewehr redet, sondern weil ich seine Vorschläge als sehr sinnvoll und zielführend erachte. Man merkt, dass er sich Gedanken macht und mir unbedingt helfen möchte.
Das rechne ich Len wirklich hoch an!
„Am besten fangen wir in der Stadt an und arbeiten uns dann nach Süden vor, oder?"
Ich nicke. Zu mehr bin ich aktuell nicht in der Lage.
Glücklicherweise scheint es mir Len nicht übel zu nehmen, dass ich kaum spreche, denn er schaltet das Radio ein und summt leise zu den neuen Chartstürmern mit.
Immer wieder erwische ich mich dabei, wie mein Blick zu ihm hinübergleitet.
Lens Gesichtszüge sehen heute entspannt aus. Seine Augen funkeln und ein sanftes Lächeln zupft an seinen Mundwinkeln.
So, wie ich ihn jetzt gerade wahrnehme, würde ich niemals auf den Gedanken kommen, dass er ein Gangmitglied der Shadows ist.
Die Autofahrt in die Stadt dauert nicht lange. Nachdem Len den Wagen in einem Parkhaus abstellt, gehen wir zu Fuß weiter.
Gemeinsam hängen wir die Vermisstenmeldungen auf und fragen zusätzlich ein paar Passanten, ob sie Heather eventuell wiedererkennen.
Leider fällt die Rückmeldung bis jetzt nur negativ aus.
„Keine Sorge, Piper", murmelt Len aufmunternd, nachdem ein weiteres Ehepaar keine Hinweise für uns hat. „Wir werden deine Schwester finden. Versprochen!"
Das ist der Moment, in dem die erste Eisschicht, die seit sechs Jahren mein Herz umgibt, zu schmelzen beginnt.
Trotz meiner Angst, dass mir Len womöglich etwas antun könnte, bin ich sehr dankbar, dass er gerade an meiner Seite ist. Ohne ihn würde ich mich verloren und allein fühlen.
Fast drei Stunden dauert es, bis wir ganz Black County mit den Vermisstenmeldungen eingedeckt haben. Obwohl ich vor Kälte am ganzen Körper zittere, bin ich froh, dass Len und ich so gut als Team harmoniert haben.
Hoffentlich zeigen die Flyer ihre Wirkung und bringen mir meine Schwester zurück.
„Morgen wieder um vier?", vergewissert sich Len spät am Abend, als er mich in einer Nebenstraße, die zu meiner Wohnung führt, absetzt.
Da ich sowohl auf seine Hilfe als auch auf sein Auto angewiesen bin, nicke ich.
„Okay." Len schenkt mir ein müdes Lächeln. „Dann bis morgen. Schlaf schön, Piper."
Mit diesen Worten kurbelt Len die Fensterscheibe seines Autos hoch und verschwindet wenig später wie ein winziger Punkt in der Dunkelheit.
Zurück bleibt das Kribbeln in meiner Magengrube, das dieses Mal nicht nur ausschließlich der Angst zu verschulden ist.
„Gute Nacht, Len ..."
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