7 - Von Regen und Alkohol
200 Vermisstenmeldungen, auf denen allesamt das Gesicht meiner Schwester abgedruckt ist, liegen vor mir.
Da die Polizei keine Hinweise findet und mich deshalb das Gefühl beschleicht, als würden sie überhaupt nicht richtig nach Heather und Anastasia suchen, habe ich beschlossen, selbst Polizistin zu spielen und auf eigene Faust zu ermitteln.
Am liebsten würde ich sofort damit beginnen, die Flyer in der ganzen Stadt zu verteilen, allerdings fehlt mir das nötige Fortbewegungsmittel dafür. Black County ist eine große Stadt. Wenn ich alle Bezirke abdecken möchte, brauche ich ein Auto.
Zum ersten Mal wird es mir zum Verhängnis, keinen Führerschein gemacht zu haben.
Gedanklich gehe ich nun all die Menschen durch, mit denen ich zumindest ein bisschen Kontakt habe.
Als erstes fällt mir Alex ein. Er hat zwar ein Auto und ich bin mir ziemlich sicher, dass er mir gerne helfen würde, allerdings möchte ich meine Zeit mit ihm reduzieren. Außerdem habe ich keine Lust, ihm von Heathers Beeinträchtigung zu erzählen.
Alex fällt also schon mal raus.
Meine Gedanken wandern weiter zu Josie und Mike, die ebenfalls ein Auto haben. Ob es ihnen gehört oder ob sie es einst geklaut haben, sei für den Augenblick dahingestellt.
Ich weiß, dass mir beide mit Rat und Tat zur Seite stehen würden, wenn Mike nicht aktuell wegen seiner Stichverletzung im Krankenhaus liegen würde.
Die Suche nach den Tätern läuft noch immer auf Hochtouren, da sich sowohl Josie als auch Mike weigern, Namen zu nennen. Vermutlich haben sie Angst, danach von den Komplizen der Täter heimgesucht zu werden.
Mike geht es zum Glück von Tag zu Tag besser. Josie ist rund um die Uhr bei ihm und passt auf ihn auf.
Vermutlich würde Mike Josie sogar überreden können, mir zu helfen, aber ich möchte die beiden in dieser schwierigen Zeit nicht voneinander trennen. Sie brauchen sich, um sich gegenseitig Halt und Kraft zu geben.
Wen ich außer Alex, Josie und Mike sonst noch hier in Black County kenne?
Spontan fällt mir Dove ein.
Leider hat sie ihren Standpunkt aber schon sehr deutlich gemacht, weshalb ich bezweifele, dass sie mir helfen würde. Abgesehen davon weiß ich nicht einmal, ob sie ein Auto besitzt.
„Verdammt!" Ich raufe mir frustriert die Haare.
Mal wieder wird mir bewusst, wie allein ich eigentlich bin.
Jeder andere Mensch, der in meiner Situation wäre, würde vermutlich mindestens zehn Freunde haben, die ihm helfen würden.
Und ich?
Ich habe niemanden.
Natürlich könnte ich noch meine Erzeuger anrufen, aber diese Genugtuung möchte ich ihnen auf keinen Fall geben. Lieber verteile ich alle Flyer zu Fuß – selbst, wenn es mehrere Tage und Nächte dauern sollte.
Da mir einfach keine Lösung einfallen möchte, lasse ich die Vermisstenmeldungen auf dem Küchentisch liegen und schnappe mir stattdessen meinen Rucksack.
Leider pausiert das Leben um mich herum nicht, weshalb ich mich nun auf den Weg zur Uni mache.
Auch wenn es unfair ist, verstecke ich mich den ganzen Tag vor Alex. Ich habe heute nicht den Nerv dafür, um mir seine endlosen Monologe über sein perfektes Leben anzuhören.
Überraschenderweise schaffe ich es sogar tatsächlich, Alex kein einziges Mal über den Weg zu laufen.
Gegen 16 Uhr verlässt er die Bibliothek, sodass ich etwa eine halbe Stunde später ebenfalls aufbreche. Eigentlich müsste ich noch ein weiteres Kapitel über den Schriftspracherwerb von Kindern zusammenfassen, aber das kann ich auch nachher im Bett machen.
Wichtig ist nur, dass ich endlich damit anfange, die Flyer in der Stadt zu verteilen.
Draußen werde ich sofort von eisigen Sturmböen und Nieselregen begrüßt. Automatisch ziehe ich meine Jacke enger um meinen Oberkörper und beschleunige meine Schritte.
Warum kann nicht einfach die Sonne scheinen? Regen braucht doch wirklich niemand – abgesehen von der Natur vielleicht ...
Genervt davon, dass meine Kleidung binnen weniger Sekunden durchnässt ist, stoße ich ein frustriertes Schnauben aus. Mein Blick wandert dabei wie von selbst zum Skatepark hinüber.
Wie immer hocken die Shadows auf ihren Boards und leeren eine Alkoholflasche nach der anderen. Vermutlich sind sie schon so betrunken, dass sie überhaupt nicht mehr merken, wie der Regen immer stärker wird.
In den letzten Tagen haben sich meine Gedanken oft um die Shadows gedreht. Ich dachte die ganze Zeit, dass sie durch und durch böse Menschen seien und kein lebenswertes Leben hätten, doch ich habe mich geirrt.
Es gibt nämlich genau eine Sache, für die ich die Shadows beneide: Für ihre Freundschaft.
Mit einem sehnsüchtigen Lächeln auf den Lippen bleibt mein Blick an Dove haften.
Es ist traurig, dass wir einst unzertrennlich waren, uns aber heutzutage überhaupt nicht mehr kennen. Ich habe keine Ahnung, wer Dove Harrington ist. Genauso wenig weiß sie, wer Piper Conell ist.
Ein paar Sekunden beobachte ich Dove noch dabei, wie sie mit der anderen jungen Frau, die ebenfalls zu den Shadows zählt, herumalbert, bevor mein Blick erneut auf Wanderschaft geht.
Wie ein Magnet, der mich magisch anzieht, ruhen meine Augen einen Herzschlag später auf Len.
Auch er sitzt auf seinem Skateboard und führt immer wieder eine Bierflasche zu seinen Lippen.
Ich weiß, dass Len alt genug ist, um selbst über sein Leben zu entscheiden, aber sein Anblick verpasst mir dennoch einen schmerzhaften Fausthieb in die Magengrube. Nach dem Vorfall mit dem Krankenwagen sollte er dem Alkohol abschwören, statt sich erneut in dessen Fluten zu verlieren.
Enttäuscht über sein Verhalten schüttele ich den Kopf.
Es ist unfair, dass einige Menschen – unter anderem auch Len – ihr Leben einfach so wegwerfen, als würde es nichts bedeuten. Heather zum Beispiel würde alles dafür tun, um normal zu sein, doch leider wird ihr diese Chance verwehrt.
Ich möchte gerade in Richtung S-Bahn weitergehen, da hebt Len plötzlich seinen Kopf und hält mich mit seinem intensiven Blick gefangen. Für ein paar Sekunden mustert er mich mit gerunzelter Stirn, bis sich ein Lächeln auf seinen Lippen ausbreitet und er mir zuruft: „Piper! Komm her!"
Im ersten Moment bin ich mir nicht sicher, ob ich mich verhört habe. Als Len dann allerdings eine winkende Geste mit der Hand macht, setze ich mich in Bewegung und eile durch den Regen zum Skatepark.
Anders als noch vor ein paar Tagen bleibe ich nicht am Zaun stehen, sondern laufe geradewegs auf den Platz zu, auf dem die übrigen Shadows trotz der dicken Regentropfen ein Trinkspiel mit Karten spielen.
Len ist zum Glück der Einzige, der mich bemerkt, denn ich mag es nicht, in den Mittelpunkt des Geschehens gerückt zu werden. Es war schon unangenehm genug, als ich den Krankenwagen für Len gerufen habe und dabei von allen Seiten beobachtet wurde.
Ich bin ein Mensch, der nicht für das Rampenlicht gemacht ist.
„Hey Piper." Len kommt grinsend vor mir zum Stehen. „Was machst du hier eigentlich immer?"
Ich schlucke schwer, als mir Lens Alkoholfahne direkt ins Gesicht weht. Seine Augen sind rot unterlaufen und sehen glasig aus. Allgemein scheint er nicht mehr richtig der Herr seiner Sinne zu sein, denn er schwankt gefährlich von rechts nach links und kichert dümmlich dabei.
Auch wenn ich Len nicht zu nahekommen möchte, weil ich mich immer noch vor ihm und seiner Gang fürchte, halte ich ihn vorsichtig an den Schultern fest, um ihm ein bisschen Stabilität zu geben.
Dadurch bin ich Len so nahe, dass ich außer dem Alkohol sein Parfüm, das nach Vanille und Minze riecht, wahrnehmen kann.
Ein schöner Geruch, wie ich finde ...
„Ich gehe hier zur Uni", antworte ich Len nach ein paar Sekunden.
„Echt?" Seine Augen nehmen die Größe von Untertassen an. „Dann bist du ja voll schlau!"
Unter anderen Umständen hätten mich seine Worte vielleicht zum Schmunzeln gebracht, aber jetzt gerade zieht sich der Knoten in meinem Magen immer mehr zusammen. Es ist grausam, zu sehen, wie sehr Len in diesem Moment von dem Alkohol gesteuert wird.
Ob er wohl merkt, dass er sich wie ein ganz anderer Mensch verhält?
„Was studierst du denn? Wie-werde-ich-noch-schöner?"
Ohne es verhindern zu können, schießt mir Hitze wie ein Blitz in die Wangen. Zusätzlich breitet sich ein elektrisierendes Kribbeln unter meiner Haut aus.
Len ist der erste Mann, der mich als schön bezeichnet. Und das macht ihn zu etwas Besonderem.
„N-Nein", krächze ich bemüht gleichgültig, obwohl mein Herz Salti schlägt. „Ich studiere Grundschullehramt."
„Ah." Len nickt. „Dann kauf dir mal lieber einen Vorrat an Kopfschmerztabletten. Kleine Kinder können echt anstrengend und laut sein."
Auf diese Aussage weiß ich nichts mehr zu erwidern.
Einerseits ist dieses oberflächliche Geplänkel mit Len ganz nett, aber andererseits fühle ich mich zunehmend unwohler. Das Wetter trägt auch nicht gerade dazu bei, dass ich mich entspanne. Der Regen peitscht mir ins Gesicht und der Wind verwandelt meinen Körper in einen Eisklotz, sodass ich zu zittern beginne.
Ich kann von Glück reden, wenn ich morgen mit keiner Erkältung aufwache ...
Warum ich überhaupt zu Len hingegangen bin? Vermutlich nur, weil ich nicht als unfreundlich von ihm abgestempelt werden möchte.
„Hast du eigentlich über mein Angebot nachgedacht?", fragt mich Len nun mit lallender Stimme. „Ich möchte dir so gerne helfen, Piper, aber ich glaube, du hast so viel Angst vor mir, dass du dich nicht traust, mich nach meiner Hilfe zu fragen."
Im Einklang mit Lens Worten schiebt sich ein Schleier der Trauer über seine verschiedenfarbigen Iriden. Ob das dem Alkohol zu verschulden ist oder nicht, kann ich nicht sagen.
Tatsache ist, dass ich mich schuldig fühle.
Bisher war Len sehr freundlich zu mir. Wenn ich genauer darüber nachdenke, hat er mir noch keinen einzigen Grund gegeben, ihn zu fürchten.
Vielleicht sollte ich meine Vorurteile fallen lassen und ihm einen kleinen Vertrauensvorsprung geben.
„Na ja, weißt du ..." Ich halte inne.
Was soll ich Len sagen? Dass er recht hat und ich Angst vor ihm habe?
Auf keinen Fall!
Je länger ich die Regentropfen beobachte, die an Lens Kinn abperlen, umso mehr drängt sich ein irrsinniger Gedanke an die Oberfläche meines Bewusstseins.
Womöglich habe ich gerade einen Weg gefunden, unsere beiden Gewissen mit Frieden zu betäuben.
„Kann ich dich etwas fragen, Len?"
Sofort nickt mein Gegenüber enthusiastisch. Scheinbar ist diese Bewegung aber ein bisschen zu hektisch für sein alkoholisiertes Hirn, denn er fasst sich danach stöhnend an die Schläfe.
„Hast du zufällig ein Auto und einen Führerschein?", möchte ich begleitet von meinem rasenden Herzschlag von Len wissen.
Kaum ist meine Frage laut ausgesprochen, ohrfeige ich mich innerlich dafür. Len ist eigentlich der letzte Mensch, den ich um Hilfe bitten sollte, schließlich gehört er einer gefährlichen Gang an.
Vielleicht wäre es besser, über meinen Schatten zu springen und Alex nach seiner Unterstützung zu fragen, denn bei ihm weiß ich zumindest, dass ich nicht entführt werde.
So viel zum Thema Vorurteile ...
„Klar!", reißt mich Lens Stimme in die Realität zurück. „Jeff ist mein ganzer Stolz."
Jeff?
Es dauert ein paar Sekunden, bis ich realisiere, dass er sein Auto meint.
Normalerweise habe ich die Menschen immer belächelt, die ihrem Auto einen Namen geben, aber bei Len ist das irgendwie süß. Er überrascht mich immer wieder aufs Neue und zeigt mir somit, dass er überhaupt nicht in das Bild eines kriminellen Gangmitgliedes passt.
Ob er eventuell dazu gezwungen wird, ein Shadow zu sein?
Bei dieser Überlegung breitet sich eine eisige Gänsehaut auf meinem Rückgrat aus. Fast gleichzeitig ertönt ein ohrenzerreißendes Donnergrollen, das mich zusammenzucken lässt.
Es wird allerhöchste Zeit, endlich den Heimweg anzutreten – auch wenn ich sowieso schon bis auf die Unterhose durchnässt bin.
„Okay." Ich atme einmal tief durch. „Wenn du mir wirklich helfen möchtest, dann brauchen wir morgen dein Auto."
„Warum?", hakt Len direkt nach.
Insgeheim habe ich gehofft, dass er keine weiteren Fragen stellen würde, aber natürlich rammt mir das Schicksal mit großer Freude ein Messer in den Rücken.
Je weniger Len weiß, umso besser.
„Ich muss meine Schwester finden", murmele ich schließlich eine vage Antwort. „Hilfst du mir dabei?"
Vor lauter Angst überschlägt sich mein Herz. Mir wird abwechselnd heiß und kalt und meine ganze Umgebung beginnt sich wie bei einer Karussellfahrt zu drehen.
Schon wieder bereue ich es, Len nach seiner Hilfe gefragt zu haben.
Ich sollte Abstand zu ihm wahren und ihn nicht noch tiefer in mein Leben eintauchen lassen.
„Natürlich!", strahlt mich Len an, sobald sich der Nebel in meinem Kopf gelichtet hat. „Ich dachte schon, du würdest mich nie nach Hilfe fragen."
Während Len wie der glücklichste Mensch auf der ganzen Welt wirkt, zieht sich mein Magen unangenehm zusammen. Habe ich gerade wirklich einen Shadow gefragt, mir bei der Suche nach meiner Schwester zu helfen?
Oh Gott ... Das wird bestimmt in einem Desaster enden! Ich sollte Len sofort sagen, dass ich es mir nochmal anders überlegt habe.
Ich möchte gerade meinen Mund öffnen, um meine Gedanken auszusprechen, da kommt mir Len zuvor. „Wann sollen wir uns denn morgen treffen?"
Verdammt! Bei diesem vorfreudigen Funkeln, das in seinen Pupillen tanzt, kann ich ihm unmöglich wieder absagen. Das kann ich nicht mit meinem Gewissen vereinbaren.
„Ähm." Ich kratze mich unsicher am Hinterkopf. „Wie wäre es mit vier Uhr am Nachmittag?"
Ohne großartig darüber nachzudenken, nickt Len. Dann sagt er: „Du weißt ja, wo du mich findest."
Ein letztes Mal lächele ich Len misstrauisch zu, ehe wir uns voneinander verabschieden und ich schlussendlich den Weg zur S-Bahn-Station antrete.
Ob ich gerade den größten Fehler in meinem Leben begangen habe?
Ich weiß es nicht!
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