6 - Von Messern und Einsamkeit

Normalerweise freue ich mich immer auf das Wochenende, weil es bedeutet, dass Heather und ich gemeinsam Zeit miteinander verbringen.

Umso schlimmer ist es am Samstag für mich, allein in der Unibibliothek zu hocken und Texte, die sich um Inklusion in der Grundschule drehen, zu bearbeiten.

Ständig erwische ich mich dabei, wie meine Gedanken zu Heather wandern. Ich habe furchtbare Angst, dass ihr etwas Schlimmes zugestoßen sein könnte und ich sie womöglich nie wieder sehen werde.

Was waren eigentlich meine letzten Worte an sie?

Ich kann mich nicht erinnern.

Vor lauter Verzweiflung bahnen sich die ersten Tränen einen Weg an die Freiheit. Mein Herz fühlt sich in diesem Moment an, als würde es jemand in Benzin ertränken und anschließend in Flammen setzen.

Mit all meiner Kraft kämpfe ich gegen die Dunkelheit an, die an meinem Körper zerrt, aber letztendlich verliere ich diesen Kampf. Begleitet von leisen Schluchzern packe ich meine Unterlagen zusammen und verlasse dann die Bibliothek.

Auch wenn ich ein schlechtes Gewissen habe, die Zeit nicht für mein Studium zu nutzen, so ergibt es keinen Sinn mehr, weiter zu lernen, denn ich kann mich ohnehin nicht mehr konzentrieren.

An Tagen wie diesen, wo jegliche Farbe aus meiner Welt verschwindet, wünschte ich, dass ich eine richtige Familie und Freunde hätte. Menschen, die mir zur Seite stehen und mich auffangen, wenn ich zu fallen drohe.

Leider existieren solche Menschen nicht in meinem Leben. Die einzige Person, die mir wirklich wichtig ist, ist Heather.

Vollkommen in meinen Gedanken versunken, überquere ich den Campus. Obwohl es Samstagnachmittags ist, tummeln sich mehrere Gruppen auf den Wiesen, die gemeinsam auf Decken sitzen und sich angeregt miteinander unterhalten oder lernen.

Ob jemand von ihnen ähnliche Probleme hat, wie ich?

Ich bezweifele es.

Seit sechs verdammten Jahren läuft alles den Bach hinunter. Als wäre Heathers Diagnose nicht schon schlimm genug gewesen, hat ein Schicksalsschlag dem nächsten gefolgt.

Wäre Heather nicht mein Lichtblick in dieser dunklen Zeit gewesen, hätte ich vermutlich schon längst aufgegeben.

Die Erinnerungen an meine Schwester kapseln mich heute so sehr von der Realität ab, dass ich an dem Skatepark vorbeigehe, ohne den Shadows einen Blick zu schenken.

Erst als mein Name ertönt, hebe ich überrascht den Kopf.

Len, der mich mit seinen funkelnden Augen ins Visier genommen hat, springt gerade auf sein Board und rollt dann in meine Richtung. Am Zaun, der den Park umschließt, angekommen, bleibt er stehen und winkt mich mit einer Handbewegung zu sich.

Unschlüssig, was ich jetzt tun soll, verharre ich in meiner Position.

Ich habe mir geschworen, Abstand zu den Shadows zu wahren, denn noch mehr Probleme kann ich echt nicht gebrauchen. Auch wenn Len sympathisch wirkt, weiß ich nicht, was sich hinter seiner Fassade verbirgt.

Jeder andere Mensch, der meine Gedanken teilt, würde vermutlich weitergehen und Len ignorieren, aber leider kann ich das nicht mit meinem Gewissen vereinbaren. Das ist auch der Grund, weshalb ich mich zögerlich in Bewegung setze und wenig später den Zaun erreiche, der mich körperlich von Len trennt.

Heute sieht Len schon wesentlich fitter aus als noch vor ein paar Tagen. Die Kratzer auf seinen Wangen verheilen und der Verband an seiner rechten Hand ist weg. Dort befindet sich jetzt nur noch eine kleine Schürfwunde.

„Hey", lächelt mich Len schließlich freundlich an. Obwohl seine Augen glasklar aussehen, rieche ich eine Brise Alkohol, die ihn wie eine zweite Aura umgibt.

Irgendwie enttäuscht es mich, dass Len wieder zur Flasche gegriffen hat. Vor allem, wenn man bedenkt, dass er noch vor wenigen Tagen mit einem Rettungswagen ins Krankenhaus eingeliefert werden musste.

Hat er denn gar nichts dazu gelernt?

Am liebsten würde ich Len mit meinen Vorwürfen konfrontieren, aber stattdessen sage ich mit einem gezwungenen Lächeln: „Hallo, Len. Wie ich sehe, geht es dir schon besser."

Daraufhin runzelt der Angesprochene misstrauisch seine Stirn. Für ein paar Sekunden mustert er mich bloß, ehe er murmelt: „Tut mir leid, das so offen zu sagen, aber du siehst leider nicht so aus, als würde es dir gut gehen, Piper."

Lens Worte treffen mich unmittelbar im Herzen und lösen dort eine Explosion der Verzweiflung aus.

Ich war noch nie gut darin, über meine Gefühle zu sprechen, geschweige denn sie anderen Menschen zu zeigen. Umso unangenehmer ist es mir nun, dass mich ein fremder Mann scheinbar wie ein offenes Buch lesen kann.

Hoffentlich verlangt er keine Erklärung für die Regenwolken, die über meinem Kopf schweben.

„Hier." Len steckt eine Packung Taschentücher durch den Zaun. „Du brauchst sie vermutlich dringender als ich."

Um ehrlich zu sein habe ich keine Ahnung, was ich jetzt tun soll. Ich möchte einfach nur nach Hause und mich in meinem Bett verkriechen.

Blöd nur, dass Len gerade meinen Plan durchkreuzt und ich in etwa vier Stunden zu meinem Nebenjob aufbrechen muss.

„D-Danke." Meine Hände zittern, als ich die Taschentücher annehme. „Es war nett, dich zu sehen, aber ich muss jetzt weiter." Unwohl trete ich von dem einen Bein auf das andere. Die Art und Weise, wie mich Len aus seinen verschiedenfarbigen Augen anschaut, bereitet mir eine unangenehme Gänsehaut.

Er soll mich in Ruhe lassen. So, wie er es zuvor auch immer getan hat.

„Okay", erwidert Len leise. „Ich möchte dich nicht aufhalten. Ich möchte dich nur noch einmal daran erinnern, dass du jederzeit zu mir kommen kannst, wenn du meine Hilfe brauchst, okay?"

Ich nicke schwach. Zwar würde ich mich gerne mit Worten bedanken, doch meine Überraschung würde es nicht zulassen, dass ich einen sinnvollen Satz von mir gebe.

Warum ist es Len so wichtig, mir zu helfen?

Denkt er etwa, er würde in meiner Schuld stehen und sich zwingend revanchieren müssen?

Bevor ich noch mehr Zeit als nötig mit meinem Gedankensturm verschwende, hebe ich zum Abschied die Hand und eile dann schnellen Schrittes zu den S-Bahnen. Lens intensiven Blick spüre ich dabei wie ein loderndes Feuer in meinem Rücken.

Den ganzen Tag kann ich nicht aufhören an Len zu denken. Auf der Arbeit lasse ich sogar einmal das Tablett fallen, weil ich so sehr in Gedanken versunken bin, dass ich geradewegs gegen einen Gast stolpere.

Zum Glück sind meine Kollegen so nett und helfen mir beim Aufwischen dieser Schnitzel-Pommes-Ketchup-Sauerei.

Ich bin wirklich mehr als nur erleichtert, als wir das Restaurant um ein Uhr nachts schließen und ich mich auf den Heimweg machen kann. Wie jeden Samstag begegne ich vielen zwielichtigen Gestalten, die entweder mit Drogen dealen oder mir irgendwelche anzüglichen Sachen nachrufen, aber Gott sei Dank schaffe ich es unversehrt in meine Wohnung.

Von Heather fehlt immer noch jede Spur.

Langsam schwindet auch ihr lieblicher Geruch aus der Wohnung, sodass ich immer mehr vergesse, wie sie riecht.

Kurz bete ich noch, dass meine Schwester bald wohlauf zu mir zurückkehren wird, ehe ich mich unter meine Bettdecke kuschele und die Augen schließe. Tränen brennen unter meinen Lidern und mein Herz schmerzt.

Es ist mal wieder die reinste Tortour, den Weg ins Land der Träume zu finden, doch irgendwann schaffe ich es, in einen unruhigen Schlaf zu fallen.

Geweckt werde ich erst von einem schrillen Schrei, der wie ein Blitz durch meinen Körper zuckt.

Vor lauter Schock setze ich mich senkrecht in meinem Bett auf und knipse die kleine Lampe auf meinem Nachttisch an. Ein flüchtiger Blick auf den Wecker verrät mir, dass es halb vier in der Nacht ist.

Was war das für ein Schrei? Habe ich etwa geträumt?

Ein paar Sekunden schaue ich mich noch ängstlich in meinem Schlafzimmer um, aber als ich nichts Außergewöhnliches erkennen kann, schalte ich das Licht wieder aus.

Kaum habe ich mich in meinem Kissen zurückgelehnt, schwirrt erneut ein Schrei, der in Schmerz und Verzweiflung getränkt ist, durch die Luft.

Dieses Mal bin ich mir sicher, dass ich nicht bloß geträumt habe.

In Blitzgeschwindigkeit springe ich aus dem Bett, schlüpfe in meine Hausschuhe und betrete danach das Treppenhaus. Ich erkenne noch so gerade, wie drei schwarz maskierte Männer die Treppen hinunterstürmen, bevor eine aufgewühlte Josie in den Flur tritt.

Ihr Make-up ist verlaufen, ihre Haare stehen wirr in alle Richtungen ab und dicke Tränen der Angst kullern über ihre Wangen.

Erst nach ein paar aufgeregten Herzschlägen fällt mir auf, dass sich Blut an ihren Händen und ihrer Kleidung befindet.

„Oh Gott, Josie!", entfährt es mir panisch. „Was ist passiert?"

Sofort eile ich zu ihr und stelle fest, dass ihre Wohnungstür aufgebrochen wurde – jedenfalls sieht es so aus.

„Josie ..."

Ich weiß nicht, was ich tun soll. Josies Schluchzer klingen so verzweifelt, dass es mir das Herz zerreißt. Hinzu kommt ihr furchtgetränkter Blick, der mir einen eiskalten Schauder über das Rückgrat tanzen lässt.

„Wo ist Mike?"

Josie schafft es nicht, mir zu antworten. Ihre Schluchzer werden lauter und unkontrollierter.

Da ich mir nicht anders zu helfen weiß, greife ich vorsichtig nach Josies Handgelenk und ziehe sie in ihre Wohnung zurück. Die kaputte Tür lasse ich so gut es geht, ins Schloss fallen.

Obwohl es sehr dunkel ist, erkenne ich, dass die gesamte Wohnung verwüstet ist. Überall liegen Gegenstände oder Scherben auf dem Boden. Wenn mich nicht alles täuscht, führt sogar eine Blutspur über die Fliesen.

‚Ach du Scheiße!'

Es kostet mich all meine Kraft, nicht ebenfalls in Tränen zu zerfließen oder vor lauter Entsetzen in meine eigene Wohnung zurückzulaufen.

Josie braucht meine Hilfe. Ich muss mich ihr zuliebe zusammenreißen und Stärke beweisen.

Ich möchte Josie gerade erneut fragen, was passiert ist, da ertönt schon wieder dieser schmerzverzerrte Schrei.

Begleitet von meinem hämmernden Herzen folge ich dem Geräusch und finde wenig später Mike in seinem Bett vor. Sein Gesicht ist blutüberströmt, sein rechtes Auge blau unterlaufen und seine Nase angeschwollen.

Noch schlimmer als dieser Anblick ist jedoch das Messer, das in seinen Rippen steckt.

„P-Piper", keucht Mike qualvoll, als er mich im Türrahmen erkennt. „H-Hilfe!"

Obwohl ich am liebsten wie ein Kartenhaus zusammenbrechen würde, versuche ich meine Angst hinunterzuschlucken und schnappe mir stattdessen das Handy, das neben Mike auf einer kleinen Kommode liegt. Sofort wähle ich den Notruf und lasse einen Krankenwagen kommen.

Während wir auf Hilfe warten, erzählt mir Mike unter Schmerzen, dass er Schulden bei einem Drogendealer habe. Dieser hat ihn heute Nacht aufgesucht und ihm einen sogenannten Denkzettel verpasst.

Hätte er das Messer nur ein paar Zentimeter weiter oben platziert, wäre Mike jetzt tot.

Ich kann nicht glauben, dass sich dieses Blutbad nur wenige Meter von meiner eigenen Wohnung entfernt abgespielt hat.

Wieder mal wird mir bewusst, dass es hier nicht sicher ist. Ich muss unbedingt Heather finden und uns dann eine neue Wohnung suchen. Vermutlich werde ich einen weiteren Nebenjob benötigen, um die Kosten zu decken, aber solange wir in Sicherheit wären, würde ich den zusätzlichen Aufwand gerne in Kauf nehmen.

Es dauert ziemlich lange, bis der Rettungswagen eintrifft. Wie bereits erwartet nehmen sie Mike und Josie direkt mit ins Krankenhaus. Ich hingegen werde von zwei Polizeibeamten zu den Ereignissen dieser Nacht befragt.

Auch wenn ich nicht viel gesehen habe, versuche ich so viel wie möglich über die drei maskierten Männer zu erzählen.

In den nächsten Tagen verbringe ich meine Zeit abwechselnd auf der Polizeiwache und in der Universität.

Einmal werde ich auf dem Revier sogar gebeten, Mikes potenzielle Täter zu identifizieren, aber leider kann ich der Polizei nicht weiterhelfen, schließlich habe ich ihre Gesichter nicht erkannt.

Jedes Mal, wenn ich auf der Wache bin, keimt in mir ein winziger Funken Hoffnung auf, dass es Neuigkeiten zu Heathers Verschwinden gibt. Bedauerlicherweise wird dieser Funken jedes Mal sofort wieder im Keim erstickt.

Fünf Tage hintereinander speisen mich die Polizisten mit denselben Worten ab. „Es tut uns leid, Miss Conell, aber wir haben noch keinen Hinweis gefunden."

Heather und Anastasia scheinen wie vom Erdboden verschluckt zu sein.

Es tut unfassbar weh, nicht zu wissen, wo sich meine Schwester befindet und wie es ihr aktuell geht. Mit jedem Tag, an dem sie nicht zu mir zurückkommt, nimmt meine Angst an Größe zu.

Ich kann nicht mehr schlafen und kaum noch essen. Selbst das Aufstehen fällt mir unheimlich schwer.

In dieser schlimmen Zeit merke ich, dass ich allein bin. Ich habe niemanden, der mich unterstützt oder mir bei der Suche nach Heather hilft.

Sechs Tage nachdem Mike in seiner Wohnung angegriffen wurde und es immer noch keine Hinweise zu Heathers Verschwinden gibt, fasse ich einen Entschluss.

Ich werde meine Schwester selbst suchen!

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top