5 - Von Zweifeln und Überraschungen

Die nächsten zwei Tage sind die absolute Hölle für mich. Heather und Anastasia sind noch immer wie vom Erdboden verschluckt und auch die Polizei scheint keine Hinweise zu ihrem Aufenthaltsort zu finden, denn sie versuchen nicht, mich zu kontaktieren.

Jeden Abend schlafe ich mit Tränen in den Augen ein und jeden Morgen wache ich mit nassen Wangen auf.

Mein Leben verwandelt sich zunehmend mehr in einen Kampf, dessen Ausgang ich leider noch nicht kenne.

Ein paar Mal überlege ich sogar, meine Erzeuger anzurufen, aber letztendlich verwerfe ich diesen Gedanken immer wieder. Sie haben damals deutlich gemacht, dass sie nichts mehr von Heather und mir wissen möchten.

Auch wenn ich mich am liebsten so lange in meinem Bett verkriechen würde, bis Heather wieder bei mir ist, zwinge ich mich dazu, weiterhin die Vorlesungen und Seminare in der Uni zu besuchen. Einerseits kann ich es mir finanziell nicht erlauben, mein Stipendium aufs Spiel zu setzen und andererseits schaffen es die vielen Lehrinhalte, mich zumindest für ein paar Stunden von meinem Kummer abzulenken.

Selbst über Alex' Monologe freue ich mich heute, da ich mich dank ihnen nicht mehr ganz so allein auf dieser Welt fühle.

Gemeinsam mit Alex, der mir in jeder freien Minute am Rockzipfel hängt, verlasse ich am späten Nachmittag das Universitätsgebäude. Leider ist das Wetter nicht mehr so sommerlich wie noch vor ein paar Tagen, weshalb ich meine Jacke enger um meinen Oberkörper schlinge, sobald mich ein eisiger Windzug umhüllt.

Würde es jetzt noch regnen oder gewittern, dann würde sich das Wetter ganz offiziell meiner turbulenten Gefühlswelt anpassen.

„Ich habe meinen Wagen gestern noch vollgetankt. Hast du Lust auf eine kleine Spritztour?", reißt mich Alex' euphorische Stimme in die Realität zurück.

Obwohl ich ihm dankbar bin, dass er mich unbewusst von meinen Gedanken an Heather ablenkt, möchte ich außerhalb der Uni keine weitere Zeit mit ihm verbringen. Wir befinden uns meiner Meinung nach einfach nicht auf derselben Wellenlänge.

„Ich kann dich auch in ein Restaurant ausführen, wenn du möchtest", bietet Alex an. „Natürlich nur in einen Fünf-Sterne-Laden."

Bei diesem Vorschlag bleibt mir nichts anderes übrig, als schwer zu schlucken. Alex mag vielleicht einen hohen sechsstelligen Betrag auf dem Konto haben, aber ich könnte mir in einem solchen Restaurant vermutlich nicht mal ein Glas Wasser leisten.

Alex und ich leben in zwei verschiedenen Welten - wenn nicht sogar manchmal auf zwei verschiedenen Planeten.

„Was hältst du davon, Piper, hm?" Alex schaut mich so erwartungsvoll aus seinen mintgrünen Augen an, dass sich mein schlechtes Gewissen kreischend zu Wort meldet. Zwar möchte ich meine Freizeit nicht mit Alex verbringen, aber gleichzeitig soll er auch nicht meinetwegen enttäuscht werden.

Verdammt! Was soll ich denn jetzt machen?

Als würde irgendeine höhere Macht spüren, dass ich gerade in einer Zwickmühle gefangen bin, ertönt plötzlich eine rauchige Männerstimme, die eindeutig nicht Alex gehört, neben mir.

„Bist du Piper Conell?"

Ohne es verhindern zu können, zucken elektrisierende Blitze unter meiner Haut, ein Kribbeln breitet sich in meinem Magen aus und eine Gänsehaut überzieht meinen ganzen Körper. Hinzu kommt mein rasender Herzschlag, der Wellen der Nervosität durch meine Blutbahnen schickt.

Es kostet mich all meine Kraft, ruhig zu bleiben und langsam den Blick zu heben.

Was ich sehe, raubt mir kurzzeitig den Atem.

Der blonde Lockenkopf mit den tätowierten Armen, der vor wenigen Tagen blutend in meinem Schoß lag, steht vor mir. An seinem Kopf und an seiner rechten Hand befindet sich jeweils ein Verband. Von den Pflastern, die vermutlich die tiefen Kratzer auf seinen Wangen versteckt haben, sind nur noch vereinzelte Klebereste übrig.

Ich schlucke schwer, denn es ist dem jungen Mann deutlich anzusehen, dass er in den vergangenen Tagen gelitten hat.

Obwohl mein Gegenüber einen athletischen Körper hat, wirkt er kraftlos und ausgelaugt.

Da ich mich schlecht fühle, den Shadow wie eine Zirkusattraktion von oben bis unten zu mustern, zwinge ich mich dazu, unsere Blicke miteinander zu verweben.

Sobald unsere Augen aufeinandertreffen, bleibt die Welt für einen kurzen Moment stehen.

Alles um mich herum verblasst zu einer trüben Masse und auch die vielen Geräusche verstummen. Plötzlich ist da nur noch Len, der mich mit seinem intensiven Blick gefangen hält.

Ich würde es niemals laut aussprechen, aber noch nie zuvor haben mich Augen so sehr fasziniert wie die von meinem Gegenüber. Während die Iris von Lens rechtem Auge schokoladenbraun leuchtet, schimmert seine linke Iris in einem Moosgrün.

„Wow", raune ich leise.

Wenn ich könnte, würde ich mich nie wieder von diesen bezaubernden Augen lösen, doch leider reißt mich die missbilligende Stimme von Alex in die Realität zurück.

„Gegenfrage", zischt er verärgert. „Bist du nicht einer dieser Freaks, die immer in dem Skatepark herumlungern und sich das Hirn wegsaufen?"

Empört von Alex' Wortwahl ziehe ich die Luft ein. Es ist die eine Sache, schlecht über einen Menschen zu denken, aber eine ganz andere, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen.

Das, was Alex gerade gemacht hat, gehört sich nicht.

Jeder Mensch sollte genug Anstand haben, seine Mitmenschen mit Respekt zu behandeln. Vor allem jemand, der in naher Zukunft mit Kindern zusammenarbeiten möchte, muss ein anderes Verhalten an den Tag legen.

Mir ist bewusst, dass ich Alex bezüglich seiner hirnrissigen Frage meine Meinung sagen sollte, doch ich traue mich nicht. Wie immer bleibe ich lieber ruhig, statt geradewegs in die Arme einer Konfrontation zu laufen.

Dass das der falsche Weg ist, weiß ich natürlich, allerdings bin ich leider nicht stark genug, um für meine Gedanken und für mich selbst einzustehen.

„Keine Ahnung, was dein Problem ist, aber ich habe nicht mit dir gesprochen", antwortet Len schließlich mit einer gefährlichen Ruhe in der Stimme. Seine Augen verweilen währenddessen auf Alex' Gesicht und scheinen ihm Angst einzujagen.

Obwohl Alex einen halben Kopf größer als Len ist und nicht gerade einen schlechten Körperbau hat, wirkt er tatsächlich eingeschüchtert.

„Du-" Noch bevor Alex mit weiteren Beleidigungen um sich werfen kann, lenkt Len seine Aufmerksamkeit auf mich und möchte wissen: „Können wir kurz reden?"

Ich bin so überrascht von seiner Frage, dass ich meine Augen aufreiße. Nur mit Mühe und Not kann ich verhindern, dass mir zusätzlich der Mund aufklappt.

Len möchte mit mir sprechen?

Warum?

Ich kenne ihn doch überhaupt nicht.

Außerdem sollte ich dringend Abstand zu den Shadows wahren. Auf noch mehr Drama in meinem Leben kann ich aktuell gut verzichten.

„Bitte, Piper", schiebt Len flehend hinterher, nachdem ich ihm nicht antworte. „Es ist wichtig für mich."

Der Ausdruck, der Lens Pupillen verschleiert, verrät mir, dass er nicht eher gehen wird, bevor er mit mir gesprochen hat.

Überfordert von dieser Situation schaue ich zu Alex hinüber. Er steht nur wenige Zentimeter neben mir und ist am ganzen Körper angespannt. Seine Lippen sind zu einer schmalen Linie zusammengepresst, in seinen Augen lodert ein Feuer des Zorns und er hat seine Hände zu Fäusten geballt.

Scheinbar deutet Alex meinen Seitenblick falsch, denn nur eine Sekunde später behauptet er: „Piper möchte nicht mit dir reden, du Freak!"

„Ach ja?" Len hebt spöttisch seine rechte Augenbraue, in der ein silbernes Piercing funkelt. „Wenn Piper nicht mit mir reden möchte, dann kann sie mir das auch selbst sagen. Ich denke, sie ist schon alt genug, um eigene Entscheidungen zu treffen."

Je länger sich Alex und Len feindselig in die Augen starren, umso mehr lädt sich die Anspannung, die wie ein Blitz durch die Luft flackert, auf.

Ich muss unbedingt in diesen Machtkampf einschreiten, bevor hier gleich die ersten Fäuste fliegen.

Normalerweise hätte ich Alex für keinen gewaltbereiten Menschen gehalten, doch seine Körpersprache beweist mir gerade das Gegenteil. Und Len? Für ihn wäre das sicherlich nicht die erste Schlägerei.

„Schon gut", sage ich möglichst ruhig an Alex gewandt. „Ich bin gleich wieder da."

Dass Alex protestieren möchte, kann ich in seinem Blick sehen. Glücklicherweise scheint ihn Lens messerscharfer Ausdruck aber in letzter Sekunde davon abzuhalten.

Oh man ... Nach dem heutigen Tage sollte ich mich auf jeden Fall von beiden Männern fernhalten, um nicht noch mehr Chaos in meinem Leben zu stiften.

Da ich Len nicht vertraue, folge ich ihm mit einem gewissen Sicherheitsabstand zu einer Bank, die unter einer alten Eiche steht. Auch als wir uns hinsetzen, achte ich darauf, dem Shadow nicht zu nahe zu kommen.

Faszinierende Augen hin oder her: Len ist gefährlich - jedenfalls denke ich das, immerhin ist er ein Mitglied der Shadows.

„Danke, dass du dir kurz Zeit für mich nimmst." Zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten gräbt sich Lens Stimme tief unter meine Haut. Obwohl ich mich dagegen zu wehren versuche, löst sein melodischer Klang ein Erdbeben in meinem Herzen aus. „Ich bin Len Forster."

Mein Gegenüber streckt mir seine Hand, die von mehreren Narben geschmückt wird, entgegen.

Trotz des Knotens, der sich in meiner Magengrube bildet, ergreife ich seine Hand und schüttele diese vorsichtig. „Piper Conell", murmele ich schließlich leise.

Irgendwie ist es mir furchtbar unangenehm, Körperkontakt mit Len zu haben. Auch wenn es keine Anzeichen gibt, dass er mir gegenüber gewalttätig werden könnte, habe ich Angst vor ihm.

Niemand tritt grundlos den Shadows bei. Außerdem konnte ich über ein Jahr lang mit eigenen Augen beobachten, wie sich Len in Alkohol und Drogen ertränkt hat.

Um solche Menschen mache ich grundsätzlich einen riesigen Bogen herum.

Ich muss nur dieses eine Gespräch überstehen und dann ist Len Forster ein kurzes Kapitel meiner Vergangenheit.

„Es freut mich, dich kennenzulernen, Piper." Das Lächeln, das sich bei Lens Worten auf seinen Lippen ausbreitet, wirkt echt. „Dove hat mir erzählt, dass du mich gerettet hast. Dafür möchte ich mich aus tiefstem Herzen bei dir bedanken."

Überrascht schießen meine Augenbrauen in die Höhe.

Um ehrlich zu sein habe ich mit allem gerechnet, aber nicht damit.

Ein Shadow bedankt sich bei mir, dass ich ihm geholfen habe? Meiner Meinung nach passt dieses Verhalten nicht in das Bild eines kriminellen Gangmitgliedes.

„Ähm", stammele ich überfordert. „Ich habe nur getan, was jeder andere in meiner Situation ebenfalls gemacht hätte."

Sofort schüttelt Len seinen Kopf. „Nein!", widerspricht er mir mit eiserner Stimme. „Es ist nicht das erste Mal gewesen, dass jemand von uns Hilfe gebraucht hat. Du warst allerdings die Erste, die diesen Hilferuf auch wirklich ernstgenommen hat, Piper."

Lens Blick, der mich gefangen nimmt, ist so intensiv, dass ich schlucken muss. Immer wieder springen meine Augen zwischen seinen verschiedenfarbigen Iriden hin und her, ohne einen Stillstand herbeizuführen.

„Ich weiß, dass du Angst hast, aber das, was ich jetzt sage, meine ich vollkommen ernst, okay?!"

Ich nicke. Zu mehr bin ich nicht in der Lage.

„Falls du irgendwann mal Hilfe brauchen solltest, ganz egal wobei, dann komm zu mir, Piper. Ich weiß es sehr zu schätzen, was du für mich getan hast und würde mich deshalb gerne eines Tages bei dir revanchieren."

Ich bin mir nicht sicher, ob das möglich ist, aber meine Augen werden noch größer.

Habe ich mich gerade verhört oder hat mir Len tatsächlich seine Hilfe angeboten? Ich werde einfach nicht schlau aus ihm.

Len ist ganz anders als ich ihn mir vorgestellt habe. Trotzdem sollte ich nicht vergessen, dass ich ihn und die Shadows zuvor nicht grundlos gemieden habe.

„D-Danke", zwinge ich mich nach ein paar Sekunden der Stille zu einem Lächeln. „Das ist echt lieb von dir."

Vor lauter Nervosität schaffe ich es nicht, Lens Blick standzuhalten, und muss meinen Kopf senken.

Am liebsten würde ich dieses Gespräch endlich beenden, aber ich möchte nicht unhöflich sein.

Zum Glück scheint Len gute Menschenkenntnisse zu haben und zu merken, dass ich mich zunehmend unwohler fühle, denn er seufzt einmal, ehe er sich von der Bank erhebt und sagt: „Wir sehen uns, Piper. Bis bald!" Mit diesen Worten kehrt er mir den Rücken zu und verschwindet daraufhin in Richtung Skatepark.

Begleitet von meinem rasenden Herzen schaue ich Len so lange hinterher, bis er aus meinem Sichtfeld verschwindet.

Ich kann nicht verhindern, einmal erleichtert nach Luft zu schnappen.

Zwar wirkte Len auf den ersten Blick relativ sympathisch, aber ich fürchte mich dennoch vor ihm und allen voran vor seiner Gang.

Die Shadows sind gefährlich. Ich muss mich von ihnen fernhalten!

„Piper!", durchbricht auf einmal eine aufgewühlte Stimme die Mauer zu meinen Gedanken. „Geht es dir gut? Was wollte dieser Typ von dir? Hat er dich angefasst oder bedroht? Sollen wir eine Anzeige bei der Polizei aufgeben?"

Alex überhäuft mich mit so vielen Fragen, dass sich das Karussell in meinem Kopf immer schneller dreht.

Einerseits ist es nett von Alex, dass er sich um mich sorgt, aber andererseits bin ich - wie Len gesagt hat - alt genug, um meine Angelegenheiten selbstständig zu klären.

Ich brauche keinen Aufpasser!

„E-Es ist alles gut, Alex", versuche ich meinen Kommilitonen mit einem halbherzigen Lächeln zu besänftigen. „Mach dir keine Sorgen, okay?"

Die Zweifel in Alex' mintgrünen Augen sind nicht zu übersehen. Vermutlich spielt er bereits mit dem Gedanken, zu seinen Eltern zu rennen und diese darum zu bitten, Len hinter Gitter zu bringen. Mit Geld ist heutzutage schließlich fast alles möglich.

Ich hätte nie gedacht, dass ich die folgenden Wörter mal laut aussprechen würde, aber um Alex auf andere Gedanken zu bringen, bitte ich ihn: „Erzähl mir lieber noch etwas von deinem neuen Auto, ja?"

Und so rückt Len Forster, der mein Herz nicht nur einmal zum Stolpern gebracht hat, binnen weniger Sekunden in Vergessenheit.

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