4 - Von Fragen und Polizisten
Es ist fast halb elf am Abend, als ich außer Atem vor meiner Wohnungstür zum Stehen komme. Da der Aufzug immer noch nicht funktioniert, musste ich mich die vielen Treppenstufen bis ins siebte Stockwerk hinaufquälen und schnappe nun hektisch nach Luft.
Meine Oberschenkel brennen und meine Wangen glühen. In der Kombination mit meiner blutgeträufelten Hose gebe ich bestimmt ein erbärmliches Bild ab.
Ausgerechnet in diesem Moment öffnet sich die Tür von Josies und Mikes Wohnung, sodass mir die beiden Punks wenige Sekunden später gegenüberstehen.
Kurz mustern sie mich von oben bis unten – Mike runzelt sogar misstrauisch seine Stirn – aber zum Glück lassen sie mein Aussehen unkommentiert.
Wahrscheinlich sind sie schon Schlimmeres gewohnt ...
„Hey Piper." Josie strahlt mich freundlich an. „Geht's dir gut? Du siehst aus, als würdest du jeden Moment kollabieren. Die Treppen sind ein Teufelswerk, habe ich Recht?"
Da sich mein Herz noch immer wie auf einer Achterbahnfahrt überschlägt, nicke ich bloß.
„Mike hat heute mit der Vermieterin gesprochen. Angeblich soll morgen jemand kommen, um den Aufzug zu reparieren."
Das sind ausnahmsweise mal gute Nachrichten. Vorausgesetzt, dass sie der Wahrheit entsprechen.
„Na ja", seufzt Josie, nachdem ich meiner Gestik nichts mehr hinzufüge. „Wir müssen dann auch los. Unsere Freunde lassen nicht so gerne auf sich warten." Sie winkt mir noch einmal kurz zum Abschied zu, ehe sie sich bei Mike einhakt und gemeinsam mit ihm im Treppenhaus verschwindet.
Josies High Heels hinterlassen beim Abstieg ins Erdgeschoss so laute Geräusche auf den Fliesen, dass man meinen könnte, Kanonenschüsse würden durch die Luft hallen.
Tatsächlich gab es vor etwa acht Monaten einen Vorfall in diesem Wohnhaus, bei dem ein Mann aus dem ersten Stock seine Frau mit einer Waffe bedroht hat. Dabei hat sich sogar ein Schuss aus der Pistole gelöst.
Das Loch, das die Kugel hinterlassen hat, ist noch immer an der Decke zu erkennen – nur ein paar Zentimeter neben der Wohnungstür.
Seit diesem Ereignis versuche ich die Anwohner dieses Wohnkomplexes so gut es geht zu meiden. Josie und Mike bilden die einzige Ausnahme.
Um ehrlich zu sein fiebere ich sowieso jeden Tag darauf hin, endlich mein Studium zu beenden. Heather und ich brauchen dringend eine größere Wohnung, die nicht in einer kriminellen Gegend verortet ist.
Hier ist es zu gefährlich für uns.
Bis es jedoch so weit ist, dauert es noch ein wenig. So lange muss ich hoffen, dass sich keine weiteren Zwischenfälle in unserem Wohnhaus ereignen werden.
Unwahrscheinlich wäre das allerdings nicht bei den ganzen zwielichtigen Gestalten, die hier leben ...
Da ich jetzt erst realisiere, dass ich immer noch im Flur stehe, schüttele ich meinen Kopf, um die Gedanken zu verbannen, und sperre dann die Wohnungstür auf.
Mit einem Schlag spüre ich die Erschöpfung, die sich wie ein Lauffeuer in meinem Körper ausbreitet. Ich brauche unbedingt eine warme Dusche und danach eine lange Kuscheleinheit mit Heather.
Es ist seltsam, meine Schwester so lange nicht gesehen zu haben. Meistens sind es nur zehn Stunden, die uns voneinander trennen – höchstens zwölf.
Wann wir uns das letzte Mal länger als einen Tag nicht gesehen haben?
Vermutlich als Heather neun Jahre alt war und mit einer Freizeitorganisation für eine Woche campen gefahren ist.
Damals habe ich sie schrecklich vermisst und auch heute fehlt sie mir, wenn ich mehrere Stunden auf ihre Anwesenheit verzichten muss.
Umso schöner ist es nun, sie endlich wiederzuhaben.
„Heather?!", rufe ich vorfreudig. „Ich bin zu Hause!" Wie immer, wenn ich heimkomme, strecke ich meine Arme aus und warte darauf, dass sich Heather an mich kuschelt.
Sekunden verstreichen und verwandeln sich in Minuten, doch die Wohnung bleibt dunkel und still. Es gibt kein Lebenszeichen, dass Heather aktuell hier ist.
‚Bestimmt schläft sie schon', versuche ich optimistisch zu bleiben. ‚Es ist schließlich spät.'
Möglichst leise schlüpfe ich aus meinen Schuhen und schleiche dann auf Zehenspitzen in unser Schlafzimmer.
Im ersten Moment bilde ich mir ein, Heathers Umrisse im Bett zu erkennen, doch sobald ich das Licht einschalte, sehe ich, dass es sich bloß um die zerknüllten Decken handelt.
Von Heather fehlt jede Spur.
Das darf doch wohl nicht wahr sein!
Vermutlich wäre es von Vorteil, nicht sofort in Panik zu verfallen, aber ich kann nicht verhindern, dass sich Tränen der Angst in meinen Augen bilden. Zusätzlich beschleunigt sich mein Herzschlag und meine Atmung geht flach.
Ich fühle mich wie am Vortag: Hilflos, verzweifelt und überfordert.
Wo zum Teufel ist meine Schwester?
Mit tränenverschleierter Sicht irre ich ins Wohnzimmer. „Heather?!", rufe ich aufgewühlt ihren Namen. „Wo bist du?"
Es kommt mir vor, als würde ich ein Déjà-vu erleben. Ich durchkämme alle Räume der Wohnung und schaue unter jeden Gegenstand, doch nirgends ist etwas von Heather zu sehen.
Es scheint, als wäre sie nie hier gewesen. Als hätte sie nie existiert.
Im Gegensatz zu gestern steigt meine Panik nun ins Unermessliche. Ich bin mir nämlich sicher, dass Heather kein weiteres Mal bei Kat übernachtet hat – falls sie überhaupt jemals dort gewesen ist ...
Wieder ist Anastasia meine einzige Chance, allerdings nimmt sie meinen Anruf wieder nicht entgegen.
Ich weiß nicht, was ich tun soll. Die Tränen strömen in Sturzbächen über meine Wangen und stoßen mich in einen Gefühlswirbelsturm der Verzweiflung.
Mehrere Stunden, in denen ich winselnd auf dem Boden hocke und mich meinen dunkelsten Dämonen aussetze, streichen an mir vorbei. Irgendwann muss ich vor lauter Erschöpfung einschlafen, denn als ich meine brennenden Lider das nächste Mal öffne, kämpft sich die Sonne gerade ihren Weg nach ganz oben am Himmelszelt.
Obwohl ich hundemüde bin und mich kraftlos fühle, greife ich nach meinem Handy. Erst versuche ich Anastasia zu erreichen, aber als mir die Stimme ihres Anrufbeantworters entgegenspringt, wähle ich die Nummer von Heathers Arbeitgeber.
Es tutet höchstens dreimal und schon habe ich ihren Chef am anderen Ende der Leitung.
„Ja? Meyer hier! Was kann ich für Sie tun?" Wie jedes Mal, wenn ich seine emotionslose Stimme höre, breitet sich eine unangenehme Gänsehaut auf meinem Körper aus.
Natürlich bin ich dankbar, dass Mister Meyer meiner Schwester einen Job in seiner Werkstatt gegeben hat, aber dennoch finde ich ihn und seine Verhaltensweisen gruselig.
„Guten Morgen", bemühe ich mich um einen halbwegs gefassten Ton. „Mein Name ist Piper Conell. Ich möchte Sie gar nicht lange stören, Mister Meyer, aber haben Sie zufällig etwas von meiner Schwester Heather Conell gehört?"
Mister Meyer weiß zum Glück nicht, dass Heather bei mir wohnt. Alle Dokumente werden an die Adresse unserer Erzeuger geschickt, welche diese dann an uns weiterleiten. Das ist auch der Grund, weshalb ich hoffe, dass meine Frage nicht allzu viel Misstrauen bei Heathers Chef weckt.
„Ihre Schwester hat gestern gekündigt."
„Was?!", entfährt es mir sogleich.
Das ergibt überhaupt keinen Sinn. Heather liebt den Job in der Werkstatt. Sie ist ebenso wie ich überglücklich, dass sie trotz ihrer psychischen Beeinträchtigung einen Arbeitsplatz gefunden hat.
Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass die Worte von Mister Meyer der Wahrheit entsprechen.
„Sie haben richtig gehört, Miss Conell. Heather hat gestern gekündigt. Ihre Pflegerin Miss Martinez war ebenfalls anwesend." Mister Meyer macht eine kurze Pause. „Es tut mir leid, aber ich muss mich jetzt für ein wichtiges Geschäftsmeeting vorbereiten. Auf Wiederhören, Miss Conell."
Ohne mir die Chance zu geben, weitere Nachfragen zu stellen, beendet er das Telefonat. Zurück lässt er einen Haufen unbeantworteter Fragen.
Es fällt mir unheimlich schwer, zu glauben, dass Heather ihren Job gekündigt haben soll. Leider hat sich Mister Meyer aber nicht so angehört, als ob er mir Lügen auftischen würde.
Ich muss dringend mit Anastasia reden, denn sie scheint in diesem Chaos eine der Hauptrollen zu spielen.
Nachdem ich wieder nur die Mailbox von Anastasia erreiche, rufe ich bei ihrer Pflegeagentur an. Dort wird mir wegen Datenschutzgründen allerdings keine weitere Auskunft über sie gegeben.
„Scheiße!" Vor Wut trete ich gegen einen Küchenstuhl. Tränen sammeln sich zeitgleich in meinen Augen und kullern wenig später wie verlorene Hoffnungsschimmer über meine Wangen.
Ich habe riesige Angst davor, was mit Heather passiert sein könnte.
Da ich mir nicht mehr anders zu helfen weiß, schnappe ich mir meine Handtasche und mache mich dann auf den Weg zum Polizeirevier.
Wenigstens einmal scheint das Glück auf meiner Seite zu stehen, denn ich muss nicht lange warten, bis mich eine junge Polizistin in einen kleinen Nebenraum führt.
Sofort erzähle ich ihr von Heathers Beeinträchtigung und ihrem Verschwinden. Auch die Kündigung ihres Jobs und Anastasias ausgeschaltetes Handy lasse ich in meinem Bericht nicht unerwähnt.
Während ich über meine Schwester spreche, lösen sich immer wieder neue Glasperlen aus meinen Augenwinkeln. Zusätzlich geht mein Atem so schnell, dass ich mich mehrfach verschlucke und husten muss.
Die Polizistin, die sich zwischenzeitlich als Christin Stone vorstellt, ist geduldig und hört mir aufmerksam zu.
Als ich meine Erzählung beende, möchte sie von mir wissen: „Haben Sie ein Foto von Ihrer Schwester dabei, Miss Conell?"
Ich nicke. Schnell krame ich mein Portmonee aus der Handtasche und ziehe dort ein Passfoto von Heather, das vor etwas mehr als drei Monaten entstanden ist, hervor.
Ihre ozeanblauen Augen strahlen und ihre Lippen sind zu einem sanften Lächeln verzogen.
Es tut unheimlich weh, Heather auf dem Foto zu sehen, aber in der Realität nicht zu wissen, wo sie sich aktuell befindet.
Die Polizistin stellt mir noch ein paar Fragen, ehe sie mich eine Viertelstunde später wieder entlässt – mit dem Versprechen, sich sofort bei mir zu melden, wenn es Neuigkeiten gibt.
Auch wenn die Angst noch immer tief in meinem Herzen schlummert, bin ich erleichtert, nun nicht mehr auf mich allein gestellt zu sein. Ich vertraue darauf, dass die Polizei ihren Job gut erledigen und meine Schwester schnell wieder zu mir nach Hause bringen wird.
Da mich die letzten Stunden emotional ans Ende getrieben haben, lasse ich mich erschöpft auf einer Bank nieder, die sich gegenüber von der Polizeistation befindet. Eigentlich ist es überhaupt nicht meine Intention, an diesem Ort einzuschlafen, schließlich wartet die Uni auf mich, doch meine Augen flattern wie von selbst zu.
Ich weiß nicht, wie lange ich auf der Bank vor mich hindöse, doch irgendwann werde ich durch ein unsanftes Rütteln an der Schulter geweckt.
Verschlafen öffne ich meine Lider und blicke direkt in karamellfarbene Iriden.
„Geht es Ihnen gut, Miss?" Ein Polizist, der kaum älter als ich selbst aussieht, steht vor mir. In seinem Blick schwimmen Misstrauen und ein Fünkchen Mitleid mit.
„Ich-", setze ich durcheinander an. „Alles gut. Es war nur eine anstrengende Nacht. Ich werde jetzt nach Hause gehen."
Obwohl der Polizist noch immer skeptisch wirkt, hält er mich nicht auf. Das ist auch gut so, denn ein weiteres Mal hätte es mein Herz nicht verkraftet, von Heathers Verschwinden erzählen zu müssen.
Begleitet von der Erschöpfung trete ich den Heimweg zu meiner Wohnung an. Eigentlich sollte ich schon längst in meiner Vorlesung sitzen, aber da ich mich wie eine wandelnde Leiche fühle, beschließe ich, mir zunächst eine warme Dusche zu genehmigen.
Ich möchte gerade um die Ecke biegen, da fällt mein Blick wie von selbst auf die gegenüberliegende Straßenseite. Ein junger Mann mit feuerroten Haaren, Tattoos, zerrissener Kleidung und einem Skateboard unter dem Arm steht vor dem Schaufenster eines Uhrengeschäftes.
Auch wenn ich verwundert bin, ihn in der Innenstadt zu sehen, weiß ich sofort, dass er ein Mitglied der Shadows ist.
Ohne es verhindern zu können, schweifen meine Gedanken zum Vortag zurück. Genau zu dem Zeitpunkt, als ich mit einem halb verblutenden Mann im Schoß auf einen Krankenwagen gewartet habe.
Ob es ihm wohl den Umständen entsprechend gut geht?
Kurz zögere ich, doch dann springe ich über meinen Schatten und wechsele die Straßenseite. Mit schnellen Schritten steuere ich den Shadow an, der sich mittlerweile zu einem Friseursalon vorgearbeitet hat.
„Hey!", versuche ich ihn auf mich aufmerksam zu machen. „Warte mal!"
Tatsächlich bleibt er stehen und dreht sich einen Atemzug später um. Als seine alkoholgetränkten Augen auf mich treffen, hebt er verwundert die Brauen.
Ich bin mir nicht sicher, wie ich seine Reaktion zu deuten habe, aber wenigstens wirkt er nicht aggressiv oder verachtend.
Mit deutlich weniger Selbstbewusstsein als noch zuvor komme ich vor dem Mann zum Stehen.
Oh Gott ... Was habe ich mir bloß dabei gedacht, den Kontakt zu ihm zu suchen?
„Was willst du, Kleine?" Der Shadow mustert mich von oben bis unten. Dabei bleibt sein Blick für meinen Geschmack ein bisschen zu lange an meiner Oberweite hängen. „Falls du neues Zeug brauchst: Ich hab' grad selbst nichts."
Überfordert von dieser Aussage, weil ich definitiv keine Drogen kaufen möchte, schüttele ich den Kopf. Wie es scheint, erkennt mich mein Gegenüber nicht wieder.
„Ich, ähm, ich habe gestern den Krankenwagen gerufen", stottere ich verunsichert. „W-Wie geht es deinem Freund?"
Sofort ändert sich etwas in dem Blick des Shadows. Die Kälte verschwindet und macht Platz für einen winzigen Funken Freundlichkeit.
„Die Ärzte behalten ihn noch zur Überwachung im Krankenhaus, aber es geht ihm gut."
Ich atme erleichtert auf. Wenigstens bei einem Menschen habe ich es geschafft, ihn in Sicherheit zu wiegen. Schade nur, dass es sich dabei nicht um meine Schwester handelt.
„Len wirft so leicht nichts aus der Bahn." Der Mann grinst. „Ich muss jetzt auch weiter, Kleine. Man sieht sich!"
Mit diesen Worten springt er auf sein Skateboard und rauscht schneller als der Wind davon.
Zurück lässt er mein rasendes Herz, das immer nur einen Namen wiederholt: Len.
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