3 - Von Schreien und Krankenwagen
Es ist ein merkwürdiges Gefühl, aufzuwachen und weder Heathers Stimme noch ihre körperliche Präsenz wahrzunehmen.
Normalerweise erzählt mir Heather jeden Morgen von ihren Träumen oder philosophiert gemeinsam mit mir über das Leben. In den letzten Jahren ist das zu einer Art Ritual zwischen uns geworden, weshalb es sich nun umso seltsamer anfühlt, sofort aus dem Bett zu klettern und in der Küche zu verschwinden.
Da meine Morgenroutine an Heathers Bedürfnisse angepasst ist, benötige ich heute nur 20 Minuten, statt einer ganzen Stunde.
Viel zu früh mache ich mich also auf den Weg zur Uni, wo ich leider Gottes direkt in die Arme von Alex laufe.
„Nicht so stürmisch, Piper", begrüßt er mich mit einem fröhlichen Grinsen. „Ich freue mich auch, dich wiederzusehen."
Irgendetwas ist heute anders an Alex.
Ich mustere ihn ein paar Sekunden von unten bis oben, bis meine Augen an seinen Haaren hängenbleiben. Anders als sonst hat Alex seine haselnussbraunen Locken mit Gel zurückgelegt, wodurch seine mintgrünen Augen wie leuchtende Smaragde hervorstechen.
Dass Alex gute Laune hat und glücklich ist, ist nicht zu übersehen.
„Hey", murmele ich schließlich leise. „Coole Frisur."
Bei meinen Worten wird Alex' Grinsen noch breiter. Zusätzlich verschleiert ein Funkeln, das ich noch nie zuvor in seinem Blick gesehen habe, seine Pupillen.
„Danke. Ich habe mir heute besonders viel Mühe gegeben. Wer ein schickes Auto fährt, muss ja auch schick aussehen, oder? Außerdem habe ich gelesen, dass Frauen Männer mit gestylten Haaren attraktiver finden. Siehst du das genauso?"
Überfordert kratze ich mich im Nacken, denn unser Gespräch verläuft gerade in eine total falsche Richtung.
Alex sollte es egal sein, was meine Vorlieben bei Männern sind. Wir zwei sind bloß Kommilitonen, die hin und wieder gemeinsam lernen – nicht mehr und nicht weniger.
Das sieht Alex doch genauso, oder?!
„Ich mag alle Frisuren sehr gerne", versuche ich Alex' Frage zumindest ein bisschen auszuweichen. „Es tut mir wirklich leid, aber ich muss noch ein Kapitel für das Matheseminar lesen. Wir sehen uns später, okay?"
Ich hebe bereits meine Hand und möchte Alex zum Abschied winken, da sagt er auch schon euphorisch: „Warte! Ich komme mit!"
Den ganzen Tag weicht mir Alex nicht mehr von der Seite. Einmal begleitet er mich sogar fast auf die Damentoilette, weil er so sehr in seinem Monolog über teure Rolex Uhren versunken ist. Auch in den Vorlesungen und Seminaren textet er mich ununterbrochen von der Seite zu, sodass es mir unheimlich schwerfällt, mich auf die Inhalte der Dozenten zu konzentrieren.
In den nächsten Tagen muss ich unbedingt versuchen, Abstand zu Alex zu wahren, denn so kurz vor den Klausuren kann ich es mir nicht erlauben, mich ablenken zu lassen.
Ich muss gute Noten schreiben, um mein Stipendium behalten zu dürfen.
Gegen 16 Uhr am Nachmittag verabschiedet sich Alex endlich von mir, weil er noch einen Bassverstärker für die Musikanlage in seinem Auto kaufen möchte.
Auch wenn es unfair klingt, bin ich erleichtert, als Alex die Bibliothek verlässt und ich somit konzentriert die Inhalte der heutigen Vorlesungen nacharbeiten kann. Vor allem das Thema in Mathe setzt mir mehr zu als gedacht, weshalb ich mehrere Stunden in Büchern und im Internet lesen muss, bis ich den Sachverhalt zu 100 Prozent verstanden habe.
Als ich aus dem Universitätsgebäude trete, ist es schon dunkel draußen. Ein flüchtiger Blick auf mein Handy verrät mir, dass es fast 21 Uhr ist.
„Oh man", murmele ich leise. Über zwölf Stunden habe ich heute an diesem Ort verbracht, um meinem Traumberuf einen Schritt näherzukommen.
Jetzt reicht es aber mit dem Lernen, denn mein Hirn fühlt sich nur noch wie eine glibberige Masse an. Außerdem muss ich schleunigst nach Hause, um Heather zu begrüßen und sie ganz fest in meine Arme zu schließen.
Mit den Gedanken bei meiner Schwester verschnellere ich meine Schritte und eile über den Campus. Auf dem Außengelände befinden sich kaum noch Studenten. Der Großteil wird vermutlich schon wieder zuhause sein und den Abend mit irgendwelchen Trinkspielen einleiten.
Ich persönlich kann Alkohol überhaupt nichts abgewinnen. Wer sich betrinken muss, um Spaß zu haben, der hat meiner Meinung nach schon längst die Kontrolle über sein Leben und sich selbst verloren.
Kaum ist dieser Gedankengang vollendet, dröhnt hektisches Geschrei zu meinen Ohren hindurch. Wie von selbst versuche ich den Ursprung dieses Lärms zu lokalisieren und drehe wenig später meinen Kopf zu dem Skatepark.
Die Shadows hocken nicht wie sonst auf ihren Boards, sondern wuseln wild durcheinander. Immer wieder zerspringen Alkoholflaschen auf dem Asphalt, die sich mit lauten Schreien zu einer Einheit des Schreckens vermengen.
Je länger ich zu den Shadows blicke, umso unwohler fühle ich mich.
Die Hektik, die sie an den Tag legen, macht mir Angst. Was, wenn sie auf der Suche nach Streit sind oder bereits eine gewalttätige Auseinandersetzung hinter sich haben?
Eine schauernde Gänsehaut kriecht über mein Rückgrat.
Ich werfe unsicher einen Blick über meine Schulter, doch ich bin ganz allein hier draußen. Falls mich die Shadows also angreifen sollten, befindet sich niemand in unmittelbarer Nähe, der mir helfen könnte.
Ich möchte gerade zu einem kurzen Zwischensprint ansetzen, um aus dem Visier der Shadows zu fliehen, da erfüllt plötzlich eine panische Männerstimme die Luft.
„Hilfe! Wir brauchen Hilfe!"
Wie erstarrt bleibe ich stehen. Vor lauter Entsetzen wage ich es nicht einmal, Luft zu holen.
Haben die Shadows gerade tatsächlich nach Hilfe gerufen?
Obwohl ich dringend stärkere Brillengläser benötige, kneife ich meine Augen zusammen und versuche den Skatepark etwas genauer ins Visier zu nehmen.
Die Shadows laufen noch immer wie wild gewordene Tiere durcheinander, allerdings fällt mir erst jetzt auf, dass sie eine Person, die am Boden liegt, umkreisen. Da es dunkel ist und der Park kaum beleuchtet wird, erkenne ich weder ob der junge Mann atmet noch ob er irgendwo verletzt ist.
„Hilfe!" Wieder durchzuckt mich ein Blitz der Panik. Solch eine hilflose Stimme, die von Angst und Verzweiflung getränkt wird, habe ich schon lange nicht mehr gehört.
Auch wenn ich den Shadows alles zutrauen würde, bezweifele ich, dass es sich gerade um so etwas wie einen Streich handelt.
Ein letztes Mal schaue ich mich um, ob dem jungen Mann vielleicht jemand anderes zur Hilfe eilen könnte, doch als ich niemanden auf dem Campus erkenne, setze ich mich schnellen Schrittes in Bewegung.
Mein Herz hämmert unkontrolliert gegen meine Brust, während ich den Skatepark ansteuere.
Der Mann, der zuvor um Hilfe gerufen hat, richtet nun seinen Blick auf mich und lächelt mich dankbar an.
Er ist ungefähr eineinhalb Köpfe größer als ich und wirkt wegen der vielen Piercings und Tattoos sehr gefährlich auf mich. Vor allem die riesige Schlange, die seinen Hals ziert, jagt mir einen unangenehmen Schauder über den Rücken.
Mit all meiner Kraft verdränge ich meine Vorurteile in die hintersten Ecken meines Kopfes und eile dem Mann entgegen. Je näher ich ihm komme, umso deutlicher erkenne ich die Panik in seinen hellen Augen.
„Was ist passiert?", möchte ich außer Atem wissen, sobald ich vor ihm zum Stehen komme.
Der junge Mann fährt sich verzweifelt durch die zotteligen Locken. Sein Blick springt zwischen mir und dem Horizont hin und her und spiegelt seine innere Unruhe wider.
„Len ... Er ..." Mein Gegenüber bricht ab. Wenn mich nicht alles täuscht, muss er gerade gegen seine aufkeimenden Tränen ankämpfen. „Er hat getrunken. Viel. Dann ist er irgendwann einfach umgefallen. Er ... Er atmet kaum noch. Bitte hilf uns!"
Mit jedem Wort nimmt mein Herzschlag an Geschwindigkeit zu. Ich spüre, wie die Panik ihre Klauen nach mir ausstreckt und mich in einen Schleier der Finsternis hüllt.
Ich fühle mich hilflos und überfordert.
Was soll ich jetzt tun?
Ich möchte Grundschullehrerin werden und keine Ärztin. Demnach habe ich auch überhaupt keine Ahnung, wie ich mich zu verhalten habe.
Nicht mal einen Erste-Hilfe-Kurs habe ich bisher absolviert.
„Komm mit!" Der fremde Mann greift nach meinem Handgelenk und zieht mich in die Richtung der anderen Shadows.
Sofort verdreifacht sich meine Angst.
Er soll mich loslassen! Sofort! Ich möchte das nicht!
Meine Atmung geht immer schwerfälliger, wohingegen mein Herz so brutal gegen meinen Brustkorb hämmert, dass ich befürchte, es jeden Moment in meinen Händen zu halten.
Gedanklich spiele ich mehrere Optionen durch, wie ich mich am besten von dem Mann lösen kann, doch noch bevor ich zu einem Entschluss gelange, kommen wir vor dem am Boden liegenden Shadow zum Stehen, und er lässt mich wieder los.
Ganz langsam weicht die Panik aus meinem Körper und ich höre auf, zu zittern. Stattdessen richtet sich mein Blick nun auf den Asphalt, auf dem sich bereits eine kleine Blutlache gebildet hat.
Der tätowierte Lockenkopf, der am Vortag von seinem Board gefallen ist, liegt dort. Er hat alle Viere von sich gestreckt und seine Augen geschlossen. Ich muss schwer schlucken, als ich die Platzwunde an seinem Hinterkopf erkenne, aus der beinahe ununterbrochen Blut strömt.
Zwar kenne ich mich nicht besonders gut im medizinischen Bereich aus, aber dass er dringend Hilfe von einem Arzt benötigt, steht für mich außer Frage.
Begleitet von der Angst, die sich in den letzten Minuten als mein neuer Wegbegleiter erwiesen hat, hocke ich mich auf den Boden. Kurz zögere ich, doch dann lege ich meine Finger an den Hals des jungen Mannes und suche nach seinem Puls. Es dauert eine Weile, bis ich ihn gefunden habe.
„Er atmet nur noch sehr langsam", murmele ich leise – ob zu den Shadows oder zu mir selbst, weiß ich nicht. „Wir sollten einen Krankenwagen rufen."
Ich bin überrascht, wie klar ich plötzlich wieder denken kann. Ruhe kehrt in meinem Körper ein und gibt mir das Gefühl, die Kontrolle über diese Situation zurückzuerlangen.
Ein Arzt ist aktuell die einzige Person, die dem Mann helfen kann.
Während ich mich ächzend vom Asphalt erhebe, wandert mein Blick zu den Shadows. Sie alle starren mich erwartungsvoll an, weshalb sich mein Magen unangenehm zusammenzieht.
Ich bin keine Heilige, die Wunder vollbringen kann. Das Einzige, womit ich dienen kann, ist ein Handy.
Für ein paar Minuten muss ich noch diese brennenden Blicke auf mir ertragen, bis Dove schließlich die Stille durchbricht. „Okay", raunt sie mit selbstbewusster Stimme, ohne mir dabei in die Augen zu schauen. „Ruf einen Krankenwagen an."
Um ehrlich zu sein fühlt es sich seltsam an, dass mich Dove wie eine Fremde behandelt. Am liebsten würde ich sie nochmal auf unsere gemeinsame Vergangenheit ansprechen, doch ich traue mich nicht. Außerdem hat der am Boden liegende Mann gerade Priorität.
Ein letztes Mal vergewissere ich mich, ob es okay ist, den Krankenwagen zu rufen, ehe ich mein Handy aus der Hosentasche ziehe und dann den Notruf alarmiere.
Eine junge Frau am anderen Ende der Leitung erklärt mir, dass wir auf jeden Fall versuchen müssen, die Blutung zu stoppen. Mehrfach nennt sie den Begriff Druckverband, aber leider weiß ich nicht, was damit gemeint ist.
Sobald die Sanitäterin das Telefonat beendet hat, öffne ich meinen Internetbrowser und überfliege hastig ein paar Zeilen, die sich mit dem Thema Druckverband beschäftigen.
Er wird meistens dazu genutzt, um einen hohen Blutverlust möglichst schnell zu stoppen.
Als ich jedoch lese, dass ein Druckverband nur an den Extremitäten Armen und Beinen angelegt werden soll, halte ich inne.
Habe ich etwa bei dem Telefonat nicht erwähnt, dass sich die Platzwunde am Hinterkopf befindet?
Panik wallt in mir auf und meine Atmung wird hektisch.
Plötzlich weiß ich nicht mehr, was ich der Sanitäterin alles erzählt habe und was nicht.
Verdammt! Was soll ich denn jetzt tun?
Der Krankenwagen wird erst in ungefähr zehn Minuten am Skatepark eintreffen. Bis dahin kann ich den jungen Mann aber unmöglich auf dem Boden liegen lassen und nichts tun, oder?
Ich raufe mir verzweifelt die Haare.
Warum musste ich ausgerechnet heute länger in der Uni bleiben? Wäre ich schon vor zwei Stunden nach Hause gefahren, wäre mir dieses Drama mit den Shadows erspart geblieben.
Da ich mich wegen der Informationen im Internet nicht traue, einen Druckverband am Hinterkopf anzulegen, entscheide ich mich dazu, mich wieder neben den Mann auf den Boden zu hocken. Seinen Kopf lagere ich vorsichtig auf meinen Beinen, um den Blutfluss zumindest ein bisschen zu verringern.
Hoffentlich kommt die Hilfe nicht zu spät, denn der Shadow verliert sehr viel Blut. Wenn mich nicht alles täuscht, wird seine Atmung auch immer schwerfälliger.
Die zehn Minuten, in denen ich gemeinsam mit den Shadows auf den Rettungswagen warte, ziehen sich wie Kaugummi in die Länge. Während ich mit blutverschmierten Händen auf dem Asphalt sitze, laufen die Shadows aufgeregt hin und her.
Obwohl niemand ein Wort sagt, fühle ich mich fehl am Platz.
Ich merke, dass ich hier nicht hingehöre. Das gibt mir vor allem Dove mit ihren abwertenden Blicken zu verstehen.
Als der Krankenwagen schließlich mit quietschenden Reifen vor dem Eingangstor zum Skatepark hält, atme ich erleichtert durch. Mehrere Rettungssanitäter kommen zu mir geeilt und nehmen mir den jungen Mann ab.
Ich selbst befinde mich wie in einer Art Trance, weshalb ich nur am Rande wahrnehme, wie mich ein älterer Mann fragt, ob alles okay sei. Sobald ich nicke, entfernt er sich wieder schnellen Schrittes von mir.
Ich weiß nicht, was genau hier gerade passiert, doch das alles geht so schnell, dass ich fünf Minuten später mutterseelenallein auf dem Boden hocke.
Der Krankenwagen saust mit Blaulicht und ohrenbetäubenden Sirenen in Richtung Krankenhaus davon. Die Shadows schnappen sich daraufhin ihre Boards und versuchen dem Rettungswagen hinterher zu eilen.
Kein „Danke" für mich. Nichts ...
Ich atme noch einmal tief ein und wieder aus, ehe ich mich mit zittrigen Beinen vom blutigen Asphalt erhebe.
Jetzt gibt es nur noch eine Sache, die wichtig ist: Endlich nach Hause fahren und Heather ganz fest in den Arm nehmen!
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