23 - Von Abschieden und Vergebungen
Am nächsten Morgen herrscht eine traurige Stimmung am Frühstückstisch. Obwohl es niemand laut ausspricht, ist uns allen bewusst, dass der Abschied kurz bevorsteht.
„Seid ihr sicher, dass ihr nicht bleiben möchtet?", fragt Tante Susanna zum wiederholten Male, während sie Rosenrot ein Stückchen Salami zuwirft. „Mein Haus ist groß genug für uns alle. Ich würde dich auch jeden Morgen mit dem Auto zur Uni fahren, Piper."
Dieses Angebot weiß ich sehr zu schätzen, aber leider kann ich es nicht annehmen.
Unser Leben spielt sich in Black County ab. Heather und ich haben uns dort von unseren Erzeugern abgekapselt und eine Welt erschaffen, die wir nicht aufgeben möchten. Unser Ziel ist es, bald in eine neue Wohnung zu ziehen und dann in ein besseres Leben zu starten.
Natürlich gemeinsam mit Len.
Trotz der Entfernung werden wir Tante Susanna und ihre süßen Fellnasen ab jetzt regelmäßig besuchen kommen. Neben Heather ist sie das einzige Familienmitglied, das das Herz am rechten Fleck trägt. Ein weiteres Mal möchte ich die Märchenliebhaberin nicht in meinem Leben missen müssen.
„Du weißt, dass das nicht geht", bringe ich die Traumblase meiner Tante mit diesen Worten zum Platzen. „Aber keine Sorge, Susi, an den Wochenenden kommen wir gerne zu dir. Lange hält es Heather ohne ihren Pinocchio sowieso nicht aus."
Im Einklang mit meiner Aussage schauen mich meine Schwester und der Schäferhund unschuldig aus ihren großen Augen an. Wie mir Anastasia heute Morgen verraten hat, sind die beiden in den letzten Wochen ein richtiges Dreamteam geworden.
Vielleicht sollten wir uns zuhause in Black County ebenfalls einen Hund anschaffen, denn es scheint Heather gutzutun, eine Aufgabe zu haben und sich um ein Lebewesen zu kümmern. Am besten vereinbare ich direkt für nächsten Montag einen Termin mit Heathers Ärztin, um dieses Thema zu besprechen.
Ganz egal, wie viele zusätzliche Nebenjobs ich annehmen müsste: Um Heather zu helfen, würde ich alles tun.
Mit einem sanften Lächeln auf den Lippen schaue ich erneut zu meiner Schwester hinüber, die Pinocchio gerade sanft über den Kopf streichelt.
Es zerbricht mir das Herz, dass sie in jungen Jahren sexuell missbraucht wurde und seitdem ihr Leben aus den Fugen geraten ist. Heather hat diesen Schmerz nicht verdient. Sie war doch bloß ein kleines Mädchen, das noch die ganze Zukunft vor sich hatte.
Es kostet mich all meine Kraft, die Tränen zurückzuhalten.
Wenn ich könnte, würde ich sofort in die Vergangenheit reisen und Heathers Platz einnehmen. Das Glück meiner Schwester ist in meinen Augen viel mehr wert als mein eigenes.
Ich zucke zusammen, als Len plötzlich unter dem Tisch nach meiner Hand greift. Besorgnis und Angst spiegeln sich in seinen Augen wider. „Ist alles okay?", flüstert er so leise, dass nur ich ihn verstehen kann.
Im ersten Moment überlege ich, zu nicken, doch dann entscheide ich mich für die Wahrheit und schüttele den Kopf. „Ich möchte endlich zur Polizei gehen und dieses perverse Schwein anzeigen!", raune ich verbittert. Während ich das sage, ballen sich meine Hände wie von selbst zu Fäusten.
Frederic hat nicht nur den Shadows das Leben zur Hölle gemacht, er hat ebenfalls die Seele und das Herz meiner Schwester zerstört.
Dafür wird er bezahlen! Und zwar so einen hohen Preis, dass er sich wünschen wird, niemals das Licht der Welt erblickt zu haben.
„Lass uns eben noch zu Ende frühstücken, Piper. Dann fahren wir, okay?" Len drückt aufmunternd meine Hand. Wie immer spendet er mir die nötige Kraft, damit ich nicht den Verstand verliere.
„Okay."
Es vergeht noch ungefähr eine Stunde, bis Heather, Anastasia, Len und ich das Schneewittchen-Haus von Tante Susanna verlassen. Gemeinsam mit ihren Hunden steht meine Tante im Türrahmen und winkt uns traurig zum Abschied zu.
Die Tatsache, dass wir schon in zwei Wochen wiederkommen, um gemeinsam den Jahrmarkt zu besuchen, scheint sie aktuell zu verdrängen. Andernfalls würden nämlich nicht so viele Tränen über ihre Wangen kullern.
„Machts gut, ihr Lieben, und kommt sicher zu Hause an!"
Ein letztes Mal winkt uns Tante Susanna zu, ehe sie die Tür schließt und im Inneren des Hauses verschwindet. Das ist unser Signal, um Anastasia zu ihrem Auto zu begleiten und uns dort auch von ihr zu verabschieden.
„Ist es wirklich okay, wenn ich mir eine Woche freinehme?", möchte Anastasia verunsichert von mir wissen. Ein Ausdruck der Schuld verschleiert ihre Augen, obwohl es keinen Grund dazu gibt.
Anastasia ist eine tolle Pflegerin. Sie kümmert sich total liebevoll um Heather und ist so etwas wie ihre beste Freundin geworden.
In all den Jahren, in denen sie Heather nun schon zur Seite steht, hat Anastasia oft genug auf ihre eigenen Bedürfnisse verzichtet. Jetzt ist es an der Zeit, dass sie endlich ihre Eltern, die auf einem anderen Kontinent leben, besucht und auf sich selbst achtet.
Die letzten Wochen waren für niemanden von uns einfach. Ich kann also gut verstehen, dass Anastasia eine kurze Auszeit von ihrem Leben braucht.
„Natürlich ist das in Ordnung", lächele ich meine Gegenüber ehrlich an. „Wir erwarten aber eine Postkarte von dir, okay?"
Sofort nickt Anastasia.
Obwohl sie schon über 30 Jahre alt ist, erinnert sie mich in diesem Moment an ein junges Mädchen. Das unbeschwerte Funkeln in ihren Augen lässt sie viel jünger aussehen, als sie eigentlich ist.
„Gut." Anastasia umarmt mich einmal zum Abschied. „Melde dich bei mir, wenn ihr bei der Polizei wart."
Dieses Mal liegt es an mir, zu nicken.
Anastasia drückt auch noch einmal schnell Heather und Len an sich, bevor sie in ihr Auto steigt und in Richtung Flughafen verschwindet.
Hoffentlich kann sie die freie Zeit dazu nutzen, um abzuschalten und sich zu entspannen. In einer Woche geht der stressige Alltag dann in Black County – weit weg vom Strand und Meer – weiter.
So lange wie Anastasia bei ihren Eltern ist, wird sich Len um Heather kümmern. Er hat mir versprochen, sich zusätzlich nach einer Entzugsklinik umzuschauen und Bewerbungen für eine Ausbildung zum Tischler zu schreiben.
Ich bin mir sicher, dass Lens Zukunft große Pläne für ihn bereithält.
„Kommt ihr?", unterbricht Heather auf einmal meinen Gedankenschwall. „Ich möchte endlich nach Hause."
Das lassen sich Len und ich nicht zweimal sagen. Mit schnellen Schritten führen wir Heather zu Lens Auto und steigen alle ein. Wie erwartet ist meine Schwester sofort in Jeff verliebt und löchert Len auf dem Rückweg mit mehreren Fragen.
So wie es sich anhört, möchte Heather bald auch ihren Führerschein machen und sich dann so ein ähnliches Auto wie Len kaufen. Bis es allerdings so weit ist, wird sie noch ein paar Geldbündel zur Seite legen müssen.
Die Fahrt nach Black County vergeht wie im Flug. Während sich Heather und Len über Oldtimer unterhalten, beobachte ich die Landschaft und male mir bereits in Gedanken aus, wie Frederic und Devin im Gefängnis Zellengenossen werden.
Ob sie ihre Streitigkeiten aufgrund ihres Schicksals vielleicht sogar fallen lassen würden?
Meine Schadenfreude löst sich in Luft auf, als Len seinen Wagen auf einem Parkplatz zum Stehen bringt und wenig später den Motor ausschaltet. Sein Blick landet kurz auf mir, bevor er zu Heather weiterspringt und Len besorgt von ihr wissen möchte: „Fühlst du dich stark genug, um gegen Frederic auszusagen? Wenn nicht, ist das auch kein Problem. Dann kommen wir einfach wann anders wieder."
Daraufhin schließt Heather ihre ozeanblauen Augen. Ich kann sehen, dass ihr Körper zittert und dass sie innerlich auseinanderreißt.
Zu meiner großen Überraschung verliert sie sich aber nicht in Selbstzweifeln und Angst, sondern nickt. „Ich bin bereit!"
Das ist unser Stichwort, um das Auto zu verlassen und die Polizeiwache anzusteuern. Um ehrlich zu sein bin ich schon total gespannt, wie sich die Polizisten herausreden werden, denn eigentlich war es ihre Aufgabe, meine Schwester zu finden.
Ob sie überhaupt mit der Suche nach ihr angefangen haben? Irgendwie bezweifele ich das.
Von Len und Heather flankiert trete ich auf das Polizeirevier zu. Gerade als Len die Eingangstür öffnet und mir mit einer Handgeste den Vortritt lässt, schweift mein Blick wie magnetisch angezogen zur Seite.
Ausgerechnet Alex sitzt dort auf einer Bank und schaut niedergeschlagen auf seine Schuhe.
Das ist meine Chance! Ich habe es gestern geschafft, mich meinen dunkelsten Dämonen zu stellen, dann werde ich mich heute auch mit Alex auseinandersetzen können. Ich muss endlich den Mut finden und einen Schlussstrich zwischen uns ziehen.
„Könnt ihr kurz auf mich warten?", wende ich mich mit zittriger Stimme an Heather und Len. Während mich meine Schwester bloß verständnislos anschaut, folgt Len meinem Blick. Sobald er Alex erkennt, legt er seine Stirn in tiefe Furchen und spannt seinen Kiefer an.
„Was willst du denn von diesem arroganten Wichtigtuer?" Len sieht unglücklich aus.
Unter anderen Umständen wäre ich jetzt vermutlich weitergegangen, um Lens Gefühle nicht zu verletzen, doch dieses Mal muss ich mir meinen Mut zum Vorteil nehmen. Wer weiß, wann ich mich das nächste Mal trauen würde, Alex meine ehrliche Meinung zu sagen ...
„Ich muss das tun, Len", versuche ich meinem Gegenüber zu erklären und drücke dabei seine Hand. „Alex sollte wissen, dass ich in einer glücklichen Beziehung bin und ich ab sofort etwas Abstand zu ihm brauche."
Bei meinen Worten verschwinden die Gewitterwolken aus Lens Gesicht. Stattdessen nickt er und lächelt mir aufmunternd zu.
Ich atme noch einmal tief durch, ehe ich den Abstand zwischen Alex und mir überbrücke. Kaum komme ich vor ihm zum Stehen, hebt Alex seinen Blick.
„Piper ...", murmelt er überrascht meinen Namen. „Du glaubst nicht, was passiert ist. Jemand hat mir den Autospiegel abgefahren und dann Fahrerflucht begangen. Ich-"
Auch wenn es mir überhaupt nicht ähnlichsieht, unterbreche ich Alex. Ein letztes Mal kratze ich meinen ganzen Mut zusammen, bevor ich Alex all das sage, was ich ihm schon seit zwei Jahren an den Kopf werfen möchte.
„Du kennst mich nicht, Alex. Ich führe kein perfektes Bilderbuchleben. Ich wohne zusammen mit meiner Schwester in einer winzigen Wohnung, die in einer kriminellen Gegend liegt. Einen Teil der Miete zahlen meine Erzeuger, zu denen ich seit sechs Jahren keinen Kontakt mehr habe. Den Rest finanziere ich durch meinen Nebenjob in einem Restaurant. Das Studium kann ich mir nur deshalb leisten, weil ich ein Stipendium bekommen habe."
Alex' mintgrüne Augen weiten sich überrascht. Ob ich das positiv oder negativ deuten soll, weiß ich noch nicht.
„Was das Thema Autos angeht: Es ist mir total egal, wie viel PS ein Auto hat und wie modern es ist. Ich selbst habe nicht mal einen Führerschein", gestehe ich. „Ich habe keine Ahnung, warum du immer die perfekte Frau mit dem perfekten Leben in mir gesehen hast, aber das bin ich nicht. Seit gestern habe ich einen Freund, der Mitglied von den Shadows ist. Ich weiß, dass du viele Vorurteile gegenüber dieser Gang hast, aber Len ist der tollste Mensch, den ich jemals kennenlernen durfte!"
Kurz schweift mein Blick zum Eingang der Polizeiwache hinüber, wo Len und Heather auf mich warten. Die beiden unterhalten sich gerade angeregt miteinander und scheinen mich gar nicht wahrzunehmen.
„Es tut mir leid, dass ich dir das jetzt erst sage, Alex, aber wir zwei sind einfach nicht auf derselben Wellenlänge. Mit deiner ständigen Angeberei und deinen vielen Wertgegenständen kann ich absolut gar nichts anfangen. Nimm es mir bitte nicht böse, aber ich brauche jetzt erstmal Abstand von dir."
Vorsichtig hebe ich den Blick. Auch wenn es unfassbar guttut, endlich meinen Gedanken freien Lauf zu lassen, habe ich Angst davor, Alex zu verletzen.
Innerlich rechne ich damit, dass sich mein Kommilitone nun freiwillig von mir abwenden wird, weil ich ihn jahrelang belogen habe, aber stattdessen schaut er mich schuldbewusst aus seinen mintgrünen Augen an.
„Mir tut es auch leid, Piper", murmelt Alex mit gebrechlicher Stimme. „Ich wollte dir nicht das Gefühl geben, dass du dich in meiner Nähe verstellen musst. Ich dachte, es würde dir imponieren, wenn ich von meinem Leben, das übrigens gar nicht so perfekt ist, wie ich es immer darstelle, erzähle. Ich wollte doch nur, dass du mich magst."
Tatsächlich löst sich eine Träne aus Alex' linkem Auge, die er schnell mit dem Ärmel seines Hemdes wegwischt.
„Vielleicht können wir ja irgendwann nochmal einen Neustart wagen?!"
Ich schlucke schwer, denn um ehrlich zu sein habe ich nicht damit gerechnet, dass mir Alex die ganze Zeit imponieren wollte. Wäre ich von Anfang an aufrichtig zu ihm gewesen, hätten wir vielleicht sogar richtig gute Freunde werden können.
„Einverstanden." Ein ehrliches Lächeln zupft an meinen Mundwinkeln. „Wir sehen uns dann nächste Woche in der Uni, okay?"
Sofort nickt Alex. Die Trauer ist mittlerweile aus seinem Gesicht gewichen und macht Platz für ein erleichtertes Strahlen.
„Bis dann." Alex hebt zum Abschied die Hand. Ich möchte gerade auf dem Absatz kehrtmachen, um zu Heather und Len zurückzulaufen, da lässt mich Alex' Stimme noch einmal innehalten. „Piper?"
Im Einklang mit meinem Namen drehe ich mich zu ihm um. Ein freches Grinsen, das ich überhaupt nicht von ihm kenne, ziert Alex' Gesicht.
„Sag deinem Freund, dass er ein cooles Board hat", zwinkert er mir zu. „Und dass er dich gut behandeln soll! Ansonsten muss ich meinen Reichtum raushängen lassen und ihn mit meinem Auto überfahren."
Das erste Mal ist mein Lachen in Alex' Anwesenheit nicht gekünstelt, sondern kommt aus tiefstem Herzen.
Auch wenn es die letzten beiden Jahre sehr anstrengend mit Alex war, bin ich optimistisch, dass wir vielleicht doch noch so etwas wie Freunde werden können.
Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen lasse ich Alex schließlich hinter mir und gehe stattdessen zu Heather und Len.
Als ich bei ihnen ankomme, greift Len sofort nach meiner Hand und drückt mir einen liebevollen Kuss auf die Stirn.
„Alles okay?"
Ich nicke. Danach verflechte ich meine Finger mit denen von Heather und grinse vorfreudig: „Lasst uns endlich das erste Kapitel unserer gemeinsamen Geschichte beginnen!"
Und genau das tun wir dann auch.
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