22 - Von Zukunft und Vergangenheit
Es ist weit nach Mitternacht, als Len das Gästezimmer betritt.
Nachdem wir alle gemeinsam gegessen und eine Runde Mensch ärgere dich nicht gespielt haben, wollte Heather unbedingt noch unter vier Augen mit Len sprechen. Ich muss zugeben, dass ich sehr überrascht darüber bin, denn normalerweise fasst meine Schwester nicht so schnell Vertrauen zu fremden Menschen, aber umso mehr freut es mich natürlich, dass sie Len direkt in unserem Leben akzeptiert.
Ich selbst liege bereits im Bett, da mich die ganzen Gefühlsachterbahnen des heutigen Tages total erschöpft haben. Vor etwa zwei Stunden habe ich noch einmal kurz mit Anastasia gesprochen, um ihr von Mike und Josie zu berichten.
Zufälligerweise hat Anastasia einen Freund, der bei der Polizei arbeitet. Sie hat mir versprochen, ihn nach den beiden Punks zu fragen, damit wir sie gegebenenfalls in den nächsten Tagen besuchen können. Mike und Josie haben es verdient, Black County mit der Wahrheit zu verlassen.
Wie diese Wahrheit aussieht?
Anastasia ist lesbisch und hat sich nie für Mike und seine schlechten Flirtversuche interessiert. Viel eher hat sie ein Auge auf die kratzbürstige Josie geworfen.
Ich bin echt gespannt, wie die beiden auf diese Nachricht reagieren werden ...
„Piper?" Lens Stimme, die sich über meine Gedanken schiebt, klingt leise und unsicher. „Bist du noch wach?" Möglichst geräuschlos versucht er sich in der Dunkelheit zurechtzufinden, allerdings scheitert er kläglich, denn nach nur wenigen Sekunden stößt er gegen das Bett und flucht verärgert.
Auch wenn es nicht sonderlich nett ist, kann ich mir ein Kichern nicht verkneifen.
Damit Len nicht noch länger in der Finsternis umherwandeln muss und mein Lachen abklingt, knipse ich die Lampe auf dem Nachttisch an. Sofort wird der Raum von einem hellen Lichtkegel erleuchtet.
„Tut mir leid", murmelt Len schuldbewusst in meine Richtung. „Ich wollte dich nicht wecken."
„Schon gut", winke ich direkt ab. „Ich habe sowieso noch nicht geschlafen. Meine Gedanken überschlagen sich die ganze Zeit und hindern mich daran, endlich das Land der Träume zu besuchen."
Len nickt verständnisvoll. Langsam klettert er zu mir ins Bett und kuschelt sich unter die Decke. Seine Augen bohren sich wie giftige Pfeilspitzen in meine Pupillen, als er sagt: „Ich weiß, was damals mit Heather passiert ist. Sie hat es mir erzählt."
Lens Worte schlagen wie eine Bombe in meinem Herzen ein. Millionen kleine Splitter werden aufgewirbelt und bohren sich danach schmerzhaft durch meine Haut.
Ich habe das Gefühl, nicht mehr atmen zu können.
Tränen bilden sich in meinen Augen, während mein Körper von einem Erdbeben der Angst erschüttert wird.
Jahrelang hatte ich keine Ahnung, wodurch Heathers Borderline-Persönlichkeitsstörung ausgelöst wurde. Auch wenn mich die Ungewissheit täglich an den Rand meiner Verzweiflung getrieben hat, fürchte ich mich noch mehr vor der Wahrheit.
„Soll ich dir erzählen, was passiert ist, oder lieber nicht?", hakt Len besorgt nach. Seine Fingerspitzen streichen mir vorsichtig die Tränen von den Wangen, ehe er unsere Hände miteinander verschränkt.
Ich wünschte, Len wäre auch jetzt mein Ruhepol, aber leider lässt sich mein aufgeregtes Herz nicht beruhigen.
Es kostet mich all meine Kraft, zu nicken. Panik macht sich in meinem Inneren breit und schickt elektrisierende Blitze durch meine Blutbahnen.
Ob ich stark genug bin, die Wahrheit zu ertragen? Vermutlich nicht.
„Erinnerst du dich noch an Frederic?" Lens Augen mustern mich aufmerksam. Ein undefinierbarer Ausdruck verschleiert seine Pupillen und jagt mir eine Gänsehaut über die Wirbelsäule.
„J-Ja."
Frederic ist der Mann, der den Shadows das Leben im Kinderheim zur Hölle gemacht hat. Nur seinetwegen hat sich Len die Arme tätowieren lassen, damit die Narben seiner Vergangenheit unter Tinte begraben werden.
Auch wenn es grausam ist, was Frederic den Shadows angetan hat, verstehe ich den Bezug zu Heather und ihrer Beeinträchtigung nicht.
„Frederic wurde irgendwann adoptiert. Gemeinsam mit einem anderen Jungen hat er bei Louis und Mia Meyer gelebt."
Moment mal ... Meyer wie Heathers ehemaliger Chef?
Gerne würde ich meine Frage laut aussprechen, doch der riesige Kloß in meinem Hals hindert mich daran. Außerdem bezweifele ich, dass ich gerade dazu in der Lage wäre, sinnvolle Sätze von mir zu geben.
„Heather musste ein Referat mit Jacob, dem Adoptivbruder von Frederic, für die Schule vorbereiten. Nachdem sie fertig waren und Heather mit dem Rad nach Hause fahren wollte, wurde sie vor dem Haus von Frederic abgefangen", erzählt Len weiter. Mit jedem Wort, das seine Lippen verlässt, spannt sich sein Körper mehr und mehr an.
Innerlich rechne ich bereits mit dem Schlimmsten.
„Frederic hat Heather in eine Gartenhütte gezerrt und sie dort vergewaltigt. Danach hat er ihr mit dem Tod gedroht, damit sie bloß nicht auf die Idee kommt, zur Polizei zu gehen."
Für ein paar Sekunden ist es mucksmäuschenstill in dem Raum. Dann schreie ich mir meinen ganzen Schmerz von der Seele und lasse qualvolle Schluchzer zur Zimmerdecke aufsteigen.
Mein Herz bricht, mein Körper bebt und meine Gedanken überschlagen sich.
Ich habe das Gefühl, bei lebendigem Leibe zu verbrennen. Scharfe Krallen bohren sich durch meine Haut und zehren an meinem Verstand.
Ich kann nicht glauben, was Len gerade gesagt hat.
Heather ... Sie wurde vergewaltigt?
Immer mehr Tränen strömen über meine Wangen und sorgen dafür, dass ich in meinen eigenen Fluten ertrinke.
Es tut weh. So unheimlich weh!
Begleitet von mehreren Schluchzern schaue ich zu Len hinüber. Auch in seinen Augen spiegeln sich mittlerweile lodernde Glasperlen wider.
„Es tut mir leid, Piper", murmelt er so leise, dass sich seine Worte in der Luft verlieren.
„Vor ein paar Wochen ist Frederic in der Werkstatt aufgetaucht, in der Heather gearbeitet hat. Sein Anblick hat all die verdrängten Erinnerungen zurück an die Oberfläche von Heathers Bewusstsein gespült. Auch wenn sie nicht wusste, was genau Frederic in der Werkstatt zu suchen hatte, hat sie sofort ihren Job gekündigt. Ihre Angst vor diesem Monster war einfach zu groß."
Wie hypnotisiert schlucke ich.
Ich wünschte, Heather hätte damals den Mut gehabt, um sich mir anzuvertrauen. Dann hätte ich ihr helfen und dafür sorgen können, dass dieses widerliche Arschloch für immer im Gefängnis verrotten wird.
Um ehrlich zu sein dachte ich bisher, dass Devin der grausamste Mensch der Welt sei, doch soeben wurde er von Frederic abgelöst.
Dass dieser Mann psychische Probleme hat, liegt auf der Hand. Er sollte schleunigst in die Psychiatrie eingewiesen werden, um anderen Menschen nie wieder solche Schmerzen zufügen zu können, wie er es bei den Shadows und meiner Schwester getan hat.
„Heather ist bereit dazu, gemeinsam mit uns zur Polizei zu gehen und Anzeige zu erstatten", spricht Len nach mehreren Minuten der Stille weiter. „Ich werde die Shadows zusammentrommeln, damit wir ebenfalls gegen Frederic aussagen können. Glaub mir, Piper, ich werde höchstpersönlich dafür sorgen, dass dieser Psychopath nie wieder auf freien Fuß kommt! Ich tue alles, was nötig ist, um dich und Heather zu beschützen."
All die neugewonnenen Erkenntnisse schlagen wie Blitze auf meiner Seele ein und hinterlassen dort das reinste Gefühlschaos. Ich habe keine Ahnung, wie ich die Scherben jemals wieder zusammensetzen soll, aber ich bin mir sicher, dass mir Len dabei helfen wird.
Neben Heather ist er momentan der einzige Hoffnungsschimmer in meinem Leben, der mich aus der Dunkelheit führt.
„L-Len?" Meine Stimme zittert und klingt kratzig. „B-Bitte umarme mich u-und lass mich nie wie-wieder los!"
Sofort rückt Len näher zu mir und legt behutsam seine Arme um meinen bebenden Körper. Wie eine verlorene Seele klammere ich mich an ihn und spüle den ganzen Schmerz in Form von Glasperlen aus meinem Innersten.
Mehrere Stunden verstreichen, in denen ich in Lens Armen liege. Die Tränen versiegen irgendwann, sodass nur noch mein Herz Glasperlen der Trauer vergießt. Obwohl Len und ich kein einziges Wort miteinander wechseln, tut mir seine Nähe unheimlich gut.
Len spendet mir Kraft und Stärke. Nur seinetwegen schaffe ich es, nicht wie ein Kartenhaus auseinander zu fallen.
„Wie geht es jetzt weiter?", hauche ich irgendwann in die Stille hinein.
Normalerweise habe ich immer einen Plan für die Zukunft, doch jetzt gerade herrscht gähnende Leere in meinem Kopf. Ich bin überfordert und weiß nicht, was ich tun soll.
Heathers Vergewaltigung ... Mein Studium ... Unsere Erzeuger ... Josie und Mike ... Unsere Bruchbudenwohnung ... Frederic ...
Wo soll ich bloß anfangen? Was hat Priorität und was nicht? Ich habe keine Ahnung!
Im Gegensatz zu mir scheint Len nicht ganz so verloren zu sein, denn er antwortet mir: „Morgen fahren wir gemeinsam mit Heather auf die Polizeiwache und sorgen dafür, dass Frederic eingebuchtet wird. Danach informiere ich mich, wo ich einen Drogen- und Alkoholentzug machen kann. Außerdem würde ich gerne eine Ausbildung als Tischler beginnen, um endlich eigenes Geld zu verdienen. Ich kann nicht ständig negativ über meine Alkoholikerin-Erzeugerin sprechen, aber dann dankend ihr Geld annehmen ..."
Ich bin überrascht von Lens Worten. Es gefällt mir, dass er sein Leben nun selbst in die Hand nehmen und dieses zum Besseren wenden möchte.
„Was ist mit Devin und den Shadows?", traue ich mich nach einigen Sekunden nachzuhaken.
Ich kann spüren, wie sich Len daraufhin am ganzen Körper versteift. Scheinbar war das die falsche Frage ...
„Ich habe selbst gemerkt, dass ich Abstand von den Shadows brauche. Wir steigern uns gegenseitig darein, immer mehr Drogen zu nehmen und immer mehr Alkohol zu trinken", murmelt Len mit erschreckend ruhiger Stimme. „Trotzdem werden die Shadows immer meine Familie bleiben. Wenn sie in Schwierigkeiten stecken oder Probleme haben, bin ich für sie da und werde ihnen helfen. Ist es okay für dich, wenn ich weiterhin in Kontakt mit ihnen bleibe?"
Meine Augen weiten sich und spiegeln vermutlich Ungläubigkeit wider. Ich bin die letzte Person, die Len um Erlaubnis bitten sollte. Er ist alt genug, um eigenständige Entscheidungen zu treffen. Außerdem würde ich ihm niemals vorschreiben, mit wem er sich treffen darf und mit wem nicht.
„J-Ja, natürlich", stammele ich schließlich überfordert.
„Gut." Len entspannt sich wieder. „Was ist mit dir, Piper? Wie stellst du dir dein Leben zukünftig vor?"
Das ist eine extrem gute Frage. Obwohl es mir schwerfällt, die Gedankenfetzen in meinem Kopf zu ordnen, versuche ich Len eine Antwort zu geben. „Ich möchte mein Studium mit Bestnoten beenden und dann als Grundschullehrerin arbeiten. Auch wenn ich kaum Zeit dafür habe, werde ich mir neben dem Kellnern einen weiteren Job suchen, damit Heather und ich schon bald in eine neue Wohnung ziehen können. Wir brauchen dringend einen Neuanfang!"
Len nickt. Dann dreht er mich so in seinen Armen um, dass sich unsere Blicke gegenseitig gefangen nehmen.
„Und was ist mit uns, Piper?", haucht er so leise gegen meine Lippen, dass sich eine schauernde Gänsehaut auf meinem ganzen Körper ausbreitet.
All die Probleme, die in den letzten Wochen wie Staub aufgewirbelt wurden und dunkle Schatten über mein Leben geworfen haben, geraten plötzlich in Vergessenheit. Da ist nur noch mein rasendes Herz, das sich nach Lens Nähe und seinen Berührungen verzerrt.
In meinem Magen flattern die Schmetterlinge aufgeregt durcheinander. Sie schlagen Salti und fordern mich dazu auf, endlich den Abstand zwischen Len und mir zu überbrücken.
Es kostet mich meinen ganzen Mut, die nachfolgenden Worte laut auszusprechen. „Ich möchte dich künftig nicht als einen, sondern als meinen Freund vorstellen können."
Kurz habe ich Angst, Len mit dieser Aussage zu überrumpeln, aber zum Glück schleicht sich ein liebevolles Lächeln auf seine Lippen, das seine verschiedenfarbigen Augen zum Strahlen bringt.
„Das wäre toll", erwidert Len. „Auch wenn es kitschig klingt, kann ich mir aktuell nichts Schöneres vorstellen, als mit dir zusammen zu sein, Piper. Dank dir habe ich zu mir selbst zurückgefunden."
Kaum sind Lens Worte verklungen, schlinge ich meine Arme um seinen Hals und ziehe sein Gesicht langsam zu mir hinunter. Zwei Sekunden schaue ich noch in seine faszinierenden Augen, ehe ich unsere Lippen zu einem leidenschaftlichen Kuss verbinde.
Wie auch schon beim letzten Mal explodiert ein Feuerwerk aus Glücksgefühlen in meinem Magen. Mein Körper fühlt sich schwerelos an und kribbelt angenehm.
Als hätten wir nie etwas anderes getan, bewegen sich Lens und meine Lippen harmonisch aufeinander. Ich spüre eine tiefe Verbundenheit zwischen uns, die sich schon sehr bald in Liebe verwandeln wird.
Ein paar Minuten liebkosen sich unsere Lippen noch gegenseitig, bis wir atembedingt voneinander ablassen.
„Wow", raunt Len sprachlos. „Das war wunderschön."
Sofort nicke ich zustimmend. Nie wieder möchte ich diese Gefühle missen, die Len in mir hervorruft.
„Ich weiß, dass es noch sehr früh dafür ist, aber ich habe mich in dich verliebt, Piper. Schon in dem Moment, in dem ich bewusstlos in deinem Schoß lag, habe ich gespürt, dass du etwas ganz Besonderes bist." Vorsichtig platziert Len einen Kuss auf meiner Stirn. „Ich freue mich riesig darauf, ein neues Kapitel mit dir zu beginnen."
Lens Worte treiben mir Tränen des Glücks in die Augen. So eine süße und gefühlvolle Liebeserklärung habe ich noch nie zuvor erhalten.
„Wenn dir das alles nicht zu schnell geht, könnte ich nach meinem Entzug bei dir und Heather einziehen", überlegt Len nachdenklich. „Dann kannst du in Ruhe dein Studium beenden und ich kümmere mich um Heather. Sie ist übrigens ein richtiges Naturtalent im Skateboardfahren. Spar also schon mal für ein Weihnachtsgeschenk."
Automatisch muss ich grinsen, denn ich kann mein Glück gar nicht fassen.
Lens Vorstellung von der Zukunft klingt perfekt. Genau so möchte ich den Rest meines Lebens verbringen: An der Seite von den zwei Menschen, die ich am meisten liebe.
„Haben wir einen Deal, Piper?" Len schaut mich abwartend an, während er mir die rechte Hand entgegenstreckt.
Ohne zu zögern nicke ich. Statt jedoch seine Hand zu ergreifen, murmele ich: „Als Paar sollten wir unseren Deal anders besiegeln."
„Ach ja?" Len hebt fragend die Augenbrauen. „Und wie?"
„So."
Das ist der Moment, in dem unsere Lippen ein weiteres Mal aufeinandertreffen.
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