20 - Von Entsetzen und Geständnissen
Es ist ein Gefühl der Freiheit, sowohl meine Erzeuger als auch mein Elternhaus hinter mir zu lassen. Endlich konnte ich ihnen sagen, was ich denke und fühle, wodurch eine riesige Last von meinen Schultern gefallen ist.
Georg und Cornelia Conell gehören zwar meiner Vergangenheit an, doch die Gegenwart und Zukunft werde ich ohne sie bestreiten. Ab sofort lasse ich nur noch Menschen in mein Leben treten, die mir guttun und mir loyal zur Seite stehen.
Menschen wie Len zum Beispiel.
Je näher ich dem dunkelblauen Golf komme, umso schneller schlägt mein Herz. Die Wut weicht aus meinem Körper, sodass nur noch die Enttäuschung wie ein Feuer auf meiner Seele lodert.
Auch wenn es unheimlich weh tut, muss ich mir endlich eingestehen, Heather verloren zu haben.
Sie ist schon viel zu lange weg. Falls die Polizei tatsächlich nach meiner Schwester suchen sollte, was ich ehrlich gesagt stark bezweifele, dann werden sie vermutlich bloß ihre Leiche finden.
Warum sonst ist Heather spurlos verschwunden, wenn sie nicht tot ist?
Ich hätte besser auf sie aufpassen müssen.
Heather bedeutet mir auf dieser Welt am meisten. Ich weiß nicht, wie ich es schaffen soll, ohne sie weiterzuleben.
Brennende Tränen bilden sich in meinen Augen und kämpfen sich wenig später einen Weg an die Freiheit. Schluchzer entfliehen meinen Lippen, mein Körper zittert und mein Herz verkrampft vor lauter Schmerz.
Ich kann nicht mehr! Ich bin am Ende! Ich habe keine Kraft mehr!
Meine Umgebung verschwimmt zu einer trüben Masse und beginnt, sich zu drehen. Ich spüre, wie meine Beine unter meinem Gewicht nachgeben und ich zu Boden falle. Innerlich rechne ich jeden Moment mit einem harten Aufprall auf dem Asphalt, aber stattdessen schlingen sich zwei starke Arme um meinen Körper, die mich auffangen.
Unmittelbar strömt der Geruch von Pfefferminze und Vanille in meine Nase und vernebelt meine Sinne.
„Piper!", nehme ich Lens Stimme wie durch Watte gedämpft wahr. „Es ist okay. Lass all deinen Schmerz raus!"
Wie eine Ertrinkende, die vergeblich nach Halt sucht, kralle ich mich in Lens Pullover fest. Mein Gesicht verstecke ich in seiner Halsbeuge, um meinen Tränen Zugang an die Freiheit zu gewähren.
Es fühlt sich gut an, die Seele und das Herz auszuspülen. Die Dämonen meiner Vergangenheit werden durch die Tränenfluten beseitigt und ein für alle Male aus meinem Kopf verbannt.
Ich spüre, dass die Zeit gekommen ist, um nicht mehr nach hinten, sondern nur noch nach vorne zu schauen.
Meine Erzeuger sind Geschichte. Jetzt muss ich mich auf das fokussieren, was wirklich wichtig ist.
Ganz langsam löse ich mich aus Lens Armen. Statt jedoch komplett von ihm abzulassen, lehne ich meine Stirn gegen seine und murmele dann leise: „Danke. Danke, dass du mich dazu ermutigt hast, meine größte Angst zu besiegen."
Len lächelt mich sanft an. Seine Fingerspitzen, die ein angenehmes Kribbeln unter meiner Haut entfachen, fangen die Tränen von meinen Wangen auf. „Es tut mir leid, dass deine Erzeuger so uneinsichtig sind. Heather und du habt bessere Menschen in eurem Leben verdient. Ich bin mir sicher, dass ihr schon bald eure eigene Familie finden werdet."
Überrascht von diesen Worten schaue ich in Lens glänzende Augen. Während seine braune Iris mit Mitleid gefüllt ist, erkenne ich in der grünen Iris einen Schleier der Zuversicht.
Endlich verstehe ich, warum sich Len nicht von Devin lösen kann.
Devin hat Len in seiner dunkelsten Zeit aufgefangen. Er stand ihm zur Seite, hat ihn beschützt und alles dafür getan, dass es ihm gutgeht.
Devin und die anderen Shadows wurden zu der Familie, die Len sich immer gewünscht, aber nie bekommen hat. Len hat sich mit Menschen umgeben, die ihn lieben und auf die er sich selbst in seinen schlimmsten Phasen blind verlassen kann.
Auch wenn Devin keine weiße Weste trägt und vielen Menschen das Leben zur Hölle macht, sieht Len nur das Gute in ihm. Er versucht ihm so lange aus der Finsternis zu helfen, bis es ihm gelingt.
Das ist ähnlich wie bei Heather und mir. Ich würde meine Schwester nämlich auch nie aufgeben, nur weil sie nicht perfekt ist oder sich in Schwierigkeiten verstrickt.
Wenn ich meine Zukunft mit Len verbringen möchte, dann muss ich seine spezielle Bindung zu Devin akzeptieren. Selbst wenn das bedeutet, dass ich mein letztes Versprechen an Josie brechen muss.
Solange Devin Len nicht schlecht behandelt und ihm weiterhin eine wichtige Stütze ist, ist es okay für mich, dass er ein Teil von Lens Leben ist.
„Na komm, Piper", reißt mich Len schließlich aus meinen Gedanken in die Realität zurück. „Lass uns nach Hause fahren. Hier haben wir nichts mehr zu suchen."
Ich nicke, denn Len hat Recht. Je eher wir von diesem Ort verschwinden, umso besser.
Auf wackeligen Beinen führt mich Len zu seinem Auto. Netterweise öffnet er mir sogar die Tür und hilft mir danach beim Einsteigen.
Nur drei Herzschläge später sitzt Len neben mir auf dem Fahrersitz. Sein Blick, der noch immer mit Mitleid gefüllt ist, verweilt für ein paar Sekunden auf mir, ehe er sich dem Navi zuwendet.
Gerade als Len den Motor starten möchte, klopft es an seinem Fenster.
Wie vom Blitz getroffen drehe ich meinen Kopf zur Seite und kann meinen Augen nicht trauen.
„Ist das ein Traum?", wispere ich so leise, dass sich meine Stimme in der Luft verliert. Len scheint mich trotzdem verstanden zu haben, denn er schüttelt überfordert den Kopf. „Nein, ich denke nicht."
Mit zittrigen Fingern kurbelt Len das Autofenster hinunter, sodass ein eisiger Windzug durch das Innere des Wagens peitscht.
Tatsächlich steht meine Erzeugerin vor dem Auto und schaut mich verzweifelt an. Ich hätte es nie für möglich gehalten, jemals ihre schwache und verletzliche Seite zu sehen, doch in diesem Moment wirkt sie total hilflos und überfordert. Die Tränen, die in ihren Augen schimmern, lassen sie plötzlich wie eine zerbrochene Frau ohne Hoffnung erscheinen.
„Pips ..." Meine Erzeugerin schluckt schwer. Ich kann sehen, dass es sie all ihre Kraft kostet, die Tränen zurückzuhalten. „Du hast Recht: Seit Heathers Diagnose bin ich keine gute Mutter für euch gewesen. Ich wusste einfach nicht, wie ich mit Heathers Persönlichkeitsstörung umgehen sollte. Es war mir wichtiger, den Anschein einer perfekten Familie zu wahren, anstatt Heather zu helfen. Ich war egoistisch, ich weiß."
Vor lauter Überraschung halte ich die Luft an. Es ist das erste Mal seit vielen vielen Jahren, dass meine Erzeugerin ihre Maske fallen lässt und ehrlich zu mir ist.
„Deinem Vater ging es genauso. Er hatte gute Chancen, berufsmäßig aufzusteigen. Da blieb einfach keine Zeit für eine psychisch beeinträchtige Tochter."
Die Wahrheit tut weh.
Meine Erzeuger haben sich also bewusst dafür entschieden, Heather fallen zu lassen. Dass sie damit nicht nur ihr Leben, sondern auch meins zerstört haben, war ihnen entweder nicht bewusst oder schlichtweg egal.
„Es tut mir leid, dass wir nicht für euch da waren, als ihr uns gebraucht habt", fährt meine Erzeugerin schluchzend fort. „Vor ein paar Wochen hat Heathers Chef bei mir angerufen. Er hat mir erzählt, dass Heather ihren Job in der Werkstatt gekündigt hat. Das war die perfekte Chance, um dir zu einem Neuanfang zu verhelfen. Ich habe den Kontakt zu Anastasia aufgenommen und sie gebeten, gemeinsam mit Heather hierherzukommen."
Was?! Ich bin so perplex, dass ich nicht antworten kann.
Zwar wusste ich, dass meine Erzeugerin die Nummer von Anastasia hat – warum auch immer – aber ich habe noch nie mitbekommen, dass sie im Austausch mit Heathers Pflegerin stand.
„Ich dachte, es wäre besser für dich, wenn Heather nicht mehr da ist, Pips. Ich wollte doch nur, dass du ein unbeschwertes Leben führen kannst, ohne ständig Rücksicht auf deine kranke Schwester nehmen zu müssen. Nur deshalb habe ich Anastasia angerufen."
Die Gedanken in meinem Kopf überschlagen sich. Da prasseln gerade so viele neue Informationen auf mich hinab, dass ich keine Ahnung habe, wie ich diese Puzzleteile sortieren soll.
„Anastasia und Heather sind noch am selben Nachmittag zu uns gekommen. Ich habe ihnen erzählt, dass du deinen Freiraum brauchst und Heather nicht mehr bei dir haben möchtest, weil sie dich zu sehr ablenkt. Erst wollte mir Anastasia nicht glauben, doch nachdem ich ihr eine gefakte Nachricht von dir gezeigt habe, konnte ich sie überzeugen." Der Blick meiner Erzeugerin füllt sich zunehmend mehr mit Reue. „Anastasia hat daraufhin ein neues Diensthandy von mir bekommen. Ich habe ihr ausdrücklich verboten, dich anzurufen oder anderweitig Kontakt zu dir aufzunehmen. Ich wollte, dass dich sowohl Anastasia als auch Heather aus ihrem Leben löschen."
Um ehrlich zu sein fühle ich mich wie in einem falschen Film. Ich kann nicht glauben, was mir meine Erzeugerin gerade erzählt.
Wie kann sie bloß so dämlich sein und denken, dass mir Heather zur Last fallen würde? Ich liebe meine Schwester und würde alles tun, damit sie glücklich und in Sicherheit ist.
„Die beiden leben aktuell bei Tante Susanna." Im Einklang mit ihren Worten senkt meine Erzeugerin den Kopf. „Eigentlich wollte ich ihnen eine neue Wohnung suchen, weit weg von dir, aber momentan ist nichts Gutes auf dem Markt zu finden."
Ich bin fassungslos. Worte reichen nicht mal annähernd aus, um das zu beschreiben, was ich gerade empfinde.
„Ich hatte keine bösen Absichten, Pips, das musst du mir glauben! Ich dachte, es wäre das Beste für dich, wenn dir Heather nicht mehr mit ihrer Beeinträchtigung zur Last fallen würde. Du verstehst das wahrscheinlich nicht, aber ich musste diese einmalige Chance einfach ergreifen. Ich möchte doch nur, dass es dir gutgeht."
Verzweiflung spiegelt sich in den Augen meiner Erzeugerin wider. Tränen strömen über ihre Wangen und ihr Körper zittert.
„Ich hatte ja keine Ahnung, wie wichtig dir Heather ist", murmelt sie. „Es tut mir leid, dass dein Vater und ich nicht die Eltern sein können, die ihr verdient habt." Kurz hält sie inne, ehe sie hinzufügt: „Ich werde nachher mit Anastasia telefonieren und ihr sagen, dass ich sie angelogen habe. Außerdem überweise ich ihr und natürlich auch dir eine hohe Geldsumme als Entschädigung."
Es kostet mich all meine Kraft, meine Emotionen hinter dicken Gitterstäben zu verbergen, als ich unterkühlt sage: „Ich möchte dein Geld nicht haben. Georg und du habt nichts mehr in unserem Leben verloren. Danke, dass du gerade so ehrlich zu mir warst, aber das macht die Vergangenheit leider auch nicht ungeschehen. Ich bin nicht dazu bereit, euch zu verzeihen."
Meine Erzeugerin nickt. Schmerz flackert in ihren Pupillen auf, während sie sich langsam von Lens Auto entfernt. „Ich hoffe, dass ihr glücklich werdet. Heather und du. Ihr beide!" Mit diesen Worten macht sie auf dem Absatz kehrt und eilt zu meinem Erzeuger, der unverändert im Türrahmen steht, zurück.
Ich schaue den beiden noch so lange nach, bis die Haustür ins Schloss fällt und ein lauter Knall mein Herz erzittern lässt.
Nie im Leben hätte ich mir ausmalen können, wie skrupellos meine Erzeugerin ist. Nicht mal in meinen schlimmsten Albträumen habe ich sie als eine Hexe angesehen. Zwar glaube ich ihr, dass sie nur mein Bestes wollte, aber würde sie mich wirklich kennen, dann wüsste sie, wie viel mir Heather bedeutet.
Ein paar Minuten schweigen sich Len und ich noch an, bis der Lockenkopf irgendwann von mir wissen möchte: „Geht es dir gut, Piper?"
„Ganz ehrlich?" Ich seufze frustriert. „Keine Ahnung."
Das alles war zu viel für mich und mein armes Herz. Ich bin einfach nur heilfroh, meine Erzeuger endlich für immer hinter mir lassen zu können.
Außerdem bin ich furchtbar erleichtert, dass Heather lebt und in Sicherheit ist.
Als wir klein waren, haben wir oft Tante Susanna in ihrem Schneewittchen-Haus besucht. Sie hat nur wenige Straßen entfernt von uns gewohnt und den besten Marmorkuchen der ganzen Stadt gebacken. Abgesehen von dem Gebäck haben Heather und ich es geliebt, ihr beim Gitarre spielen zuzuhören.
Nach Heathers Diagnose ist der Kontakt zu Tante Susanna abgebrochen. Nicht etwa, weil sie sich von Heather abgewandt hat, sondern weil meine Erzeuger nicht mehr wollten, dass wir sie sehen.
Es sollten so wenige Menschen wie möglich von Heathers Borderline-Persönlichkeitsstörung erfahren.
Je länger ich an meine Schwester und die Vergangenheit denke, umso nervöser werde ich. Ich möchte Heather endlich wiedersehen und sie ganz fest in meine Arme schließen, nur um sie dann nie wieder loszulassen.
Heather und ich waren schon viel zu lange voneinander getrennt. Das muss sich jetzt ändern.
„Lass uns fahren, Len", lächele ich meinen Gegenüber schließlich motiviert an. „Es wird Zeit, meine Schwester nach Hause zu bringen."
Daraufhin nickt Len. Er startet den Motor und rollt ein paar Meter die Straße hinab, ehe er abrupt stehenbleibt und peinlich berührt wissen möchte: „Wo muss ich denn eigentlich hinfahren? Ich habe keine Ahnung, wo eure Tante wohnt."
„Keine Sorge", grinse ich ihn an. „Ich navigiere dich."
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