2 - Von Tränen und Verzweiflung

Je länger ich durch die Wohnung tigere, umso größer wird meine Verzweiflung.

Mein Herz pulsiert wie ein Maschinengewehr in meiner Brust, ich zittere und ein paar Tränen lösen sich aus meinen Augenwinkeln.

So etwas wie heute ist noch nie passiert.

Jedes Mal, wenn ich spät am Nachmittag von der Uni heimkomme, wartet Heather bereits auf mich. Manchmal kauert sie sogar wie ein kleines Kätzchen vor der Tür, damit sie sich sofort in meine Arme kuscheln kann, wenn ich die Wohnung betrete.

Warum ausgerechnet heute jede Spur von Heather fehlt? Ich weiß es nicht.

Mit den Nerven am Ende eile ich in die Küche zurück, um einen Blick in den Terminkalender zu werfen.

Die Spalte, die mit Heathers Namen und bunten Aufklebern versehen ist, ist leer.

„Mist!", fluche ich leise. „Wo bist du bloß, Heather?"

Mit jeder Sekunde, die verstreicht und in der ich Heathers fröhliche Stimme nicht hören kann, gewinnt meine Panik mehr und mehr an Größe.

Auch wenn meine Schwester nur eineinhalb Jahre jünger ist als ich, kommt sie in dieser schrecklichen Welt außerhalb unserer Wohnung nicht allein zurecht. Sie ist auf Hilfe angewiesen – entweder von mir oder von ihrer Pflegerin Anastasia.

Apropos Anastasia ...

In Blitzgeschwindigkeit ziehe ich mein Handy aus der Hosentasche und wähle Anastasias Nummer. Während der schrille Piepton ertönt, den mein Trommelfell überhaupt nicht gerne wahrnimmt, bete ich zu Gott, dass Anastasia meinen Anruf annehmen wird.

Immer mehr Sekunden streichen quälend langsam an mir vorbei.

Entgegen meinen Hoffnungen rammt mir das Schicksal wieder mal ein Messer in den Rücken, denn nach etwa einer Minute schaltet sich Anastasias Anrufbeantworter ein.

„So eine Scheiße!" Ich raufe mir verzweifelt die Haare und knalle mein Handy danach achtlos auf den Küchentisch.

Insgeheim habe ich bereits damit gerechnet, dass Anastasia nicht abheben würde, da ihre Schicht seit zwei Stunden beendet ist, doch meine Gutgläubigkeit wollte mich vom Gegenteil überzeugen. Blöderweise kenne ich auch nur Anastasias Dienstnummer, weshalb ich sie privat nicht erreichen kann.

„Verdammt!" Ich bin überfordert und habe keine Ahnung, was ich jetzt machen soll.

Heather auf eigene Faust suchen? Zur Polizei gehen? Einfach abwarten?

Irgendwie erscheint mir keine Idee sinnvoll und zielführend zu sein.

Da sich das Gedankenkarussell in meinem Kopf stetig schneller dreht, bleibe ich noch so lange auf dem Küchenstuhl sitzen, bis meine Tränen versiegen und sich der Schleier aus Angst langsam in Luft auflöst.

Ich darf nicht immer so pessimistisch sein. Bestimmt gibt es eine logische Erklärung dafür, warum Heather noch nicht zu Hause ist.

In den letzten Wochen hat sich mein Fokus fast ausschließlich auf die Uni und mein Studium gerichtet. Deshalb könnte es gut möglich sein, dass ich einen Termin von Heather vergessen habe, der heute Abend stattfindet. Das würde auch erklären, warum Anastasia gerade nicht erreichbar ist.

Mit ein bisschen mehr Ruhe im Herzen als noch vor einer Viertelstunde mache ich mich daran, das Abendessen vorzubereiten. Um Heather mit einer Überraschung zu empfangen, koche ich ihr Lieblingsessen: Spinatlasagne und Vanillepudding mit Schokoladenstreuseln als Nachtisch.

Die Zeit schreitet immer weiter voran, bis mein Handy schließlich 20 Uhr am Abend anzeigt und es draußen bereits zu dämmern beginnt.

Die Spinatlasagne steht seit einer Stunde unberührt im Backofen und ist vermutlich schon komplett abgekühlt.

Mit einem Schlag kommt die Angst zurück und breitet sich wie ein Lauffeuer in meinem Körper aus. Die Hoffnung, dass Heather heute noch heimkommt, habe ich mittlerweile hinter meterhohen Mauern aus Zweifeln versteckt.

Meine letzte Chance ist Anastasia. Sie muss endlich an ihr Handy gehen und mich aufklären.

Begleitet von meinem rasenden Herzen wähle ich Anastasias Nummer und warte darauf, dass sie meinen Anruf dieses Mal entgegennimmt.

Vergeblich ... Wieder ertönt der dämliche Anrufbeantworter und wieder weiß ich nicht, welchen Schritt ich als nächstes machen soll.

Die Tränen strömen nun unaufhaltsam über meine Wangen. Immer wieder entfliehen klägliche Schluchzer meinen Lippen, die meinen Körper in ein bebendes Wrack verwandeln.

Ich habe große Angst um meine Schwester, denn ich weiß, dass sie in Gefahr schwebt, wenn sie allein dort draußen in der Dunkelheit herumirrt.

Das fröhliche Mädchen von damals, mit dem ich mir jeden Abend den Sternenhimmel angeschaut habe, existiert nicht mehr. Es ist vor etwas mehr als sechs Jahren gestorben.

Da ich merke, wie die Erinnerungen an die Vergangenheit mein Herz in Kummer und Leid ertränken, schüttele ich schnell den Kopf, um sie beiseitezuschieben. Wenn ich mich nicht schleunigst von meiner Angst ablenke, falle ich womöglich doch noch in ein schwarzes Loch.

Heather ist der einzige Mensch in meinem Leben, den ich über alles liebe. Nicht zu wissen, wo sie sich gerade befindet und ob es ihr gut geht, lässt mich ganz krank vor Sorge werden.

Ich muss sie finden! Und zwar schnell!

Mit einem neuen Plan im Hinterkopf, der nicht auf Anastasias Hilfe abzielt, begebe ich mich in das kleine Badezimmer, um mir kaltes Wasser in das Gesicht zu spritzen. Auch wenn meine rotunterlaufenen Augen Bände sprechen, fühle ich mich danach weniger wie ein Zombie.

Ich trockne noch schnell mein Gesicht mit einem Handtuch ab, ehe ich mir den Wohnungsschlüssel schnappe und dann ins Treppenhaus hinaustrete. Mein Weg führt mich direkt zu der gegenüberliegenden Tür, aus der wie jeden Abend laute Rockmusik dröhnt.

Normalerweise verfluche ich meine Nachbarn für ihren Musikgeschmack, doch in diesem Moment bin ich heilfroh, dass sie zu Hause sind und sich nicht in irgendeiner zwielichtigen Bar herumtreiben.

Josie und Mike, die in der Wohnung gegenüber von Heather und mir leben, sind ungefähr 25 Jahre alt. Soweit ich weiß, verdienen sie ihr Geld mit krummen Drogengeschäften oder anderen illegalen Aktivitäten.

Auch wenn ich selbst ganz andere Normen und Werte als Josie und Mike vertrete, haben die beiden ein gutes Herz. Ich weiß, dass sie nicht freiwillig in die Kriminalität abgerutscht sind – das hat mir Josie mal im angetrunkenen Zustand verraten – doch leider habe ich keine Ahnung, wie ich ihnen helfen könnte.

Es mag egoistisch klingen, aber in erster Linie ist es mir wichtig, dass Heather und ich nicht ebenfalls in ihre Machenschaften verwickelt werden.

Manchmal geht so etwas schneller, als man denkt ...

Mit den Gedanken bei den beiden Punks betätige ich die Klingel. Tatsächlich dauert es auch gar nicht lange, bis mir eine betrunkene Josie die Tür öffnet.

Als wären wir seit Ewigkeiten die besten Freundinnen zieht sie mich zur Begrüßung in eine überschwängliche Umarmung. „Hey Piper", flötet Josie, wobei sie mir eine ordentliche Brise Alkohol ins Gesicht pustet. „Wie schön, dass du vorbeischaust. Wir sehen uns viel zu selten, meine Süße."

Ohne es verhindern zu können, versteife ich mich. Mehr Kontakt als nötig möchte ich nicht zu Josie und Mike pflegen. Zumal mir für so etwas wie eine Freundschaft oder Bekanntschaft sowieso die Zeit fehlen würde.

„Willst du reinkommen? Wir haben gerade das Bier kaltgestellt", plappert Josie munter weiter, ohne mich zu Wort kommen zu lassen. Dass es mir nicht gutgeht, scheint sie überhaupt nicht zu registrieren. Oder es ist ihr egal. „Ach ne, du trinkst ja nicht. Sorry, das vergesse ich immer wieder. Wie wär's dann mit einem Energiedrink?"

Mir tut es wahnsinnig leid, Josie enttäuschen zu müssen, doch ich schüttele den Kopf. Wäre Heather nicht spurlos verschwunden, hätte ich das Getränk aus Anstand angenommen, doch meine Schwester hat gerade oberste Priorität.

„Ein anderes Mal vielleicht", winke ich bemüht freundlich ab. „Sag mal, Josie, hast du heute zufällig Heather oder Anastasia gesehen?"

Sofort runzelt Josie ihre Stirn. Ihre rehbraunen Iriden wandern zur Zimmerdecke, als würde dort die Antwort auf meine Frage stehen.

„Nein, aber Mike hat die beiden gesehen. Er hat danach ununterbrochen über Anastasias gelbes Sommerkleid gesprochen." Sichtlich genervt verdreht Josie ihre Augen.

Seit Tag eins kann sie Anastasia nicht leiden, weil sie sich von ihrem äußeren Erscheinungsbild, das dem eines Models gleicht, bedroht fühlt. Dass ihr Freund Mike so offenkundig für die Pflegerin meiner Schwester schwärmt, macht die ganze Situation natürlich nicht besser.

„Babe! Komm mal her!", brüllt Josie nun gegen den wummernden Bass der Musik an. „Piper braucht deine Hilfe!"

Insgeheim rechne ich damit, dass Mike seine Freundin bei diesem Lärm nicht hört, doch zu meiner großen Überraschung schlurft er nur wenige Sekunden später in den Flur. In seiner rechten Hand hält er eine Bierflasche, in seiner linken Hand eine qualmende Zigarette.

„Hm, was'n los?", lallt Mike in Josies Richtung. „Ich wollte mir gerade ne neue Line ziehen."

„Sei nicht so ein Arsch und hilf Piper", erwidert Josie daraufhin gereizt. „Sie hat gefragt, ob du heute Heather oder Anastasia gesehen hast."

Sofort leckt sich Mike gierig über die Lippen. Zusätzlich schleicht sich ein lüsternes Funkeln in seine Pupillen, das vermutlich dem Gedanken an Anastasias gelbes Sommerkleid zu verschulden ist.

„Klar hab ich die beiden gesehen", grinst mich Mike nun gutgelaunt an. „Ana und ihren heißen Körper kann man ja schlecht übersehen." Für diesen Kommentar fängt sich Mike von seiner Freundin einen verärgerten Seitenhieb in die Rippen ein.

Um ehrlich zu sein kann ich Josie sehr gut verstehen. Ich würde nämlich auch nicht wollen, dass mein Freund – vorausgesetzt ich hätte einen – für andere Frauen schwärmt und diese als heiß bezeichnet.

Damit sich Josie und Mike nicht in einem Streit verzetteln können, mische ich mich schnell in das Gespräch ein, indem ich von Mike wissen möchte: „Weißt du zufällig, wo die beiden hingegangen sind? Und wie viel Uhr war es ungefähr, als sie hier waren? Ist dir sonst etwas aufgefallen?"

„Sehe ich aus, wie die Auskunft, oder was?!" Erneut rammt Josie ihrem Freund den Ellenbogen in die Seite. Kurz flucht Mike, ehe er zerknirscht hinzufügt: „Die beiden waren ungefähr um 15 Uhr hier. Heather hatte einen Rucksack und eine Sporttasche dabei. Wo sie hinwollten, weiß ich aber echt nicht." Um seine Ahnungslosigkeit zu unterstreichen, hebt Mike abwehrend die Hände in die Luft.

Endlich erkenne ich einen Vorteil darin, dass Mike den ganzen Tag am Fenster hockt und dort seine Zigaretten raucht. Ohne seine Informationen wäre ich nämlich genauso planlos gewesen wie zuvor.

„Danke, Mike." Ich lächele meinen Gegenüber freundlich an. „Damit hast du mir sehr geholfen."

„Also kann ich jetzt endlich meine Line ziehen?"

Obwohl ich überhaupt kein Fan von Drogen bin und Mike am liebsten erklären würde, wie schädlich dieses Zeug ist, nicke ich. Ich möchte Mikes Zeit nicht länger in Anspruch nehmen, als es nötig ist.

Auch Josie, die noch immer vor mir steht, soll sich nicht dazu verpflichtet fühlen, sich mit mir zu unterhalten. Sie hat bestimmt Besseres zu tun, als meine Anwesenheit zu ertragen.

Ich möchte mich gerade bei Josie bedanken und mich dann von ihr verabschieden, als sie plötzlich schulterzuckend murmelt: „Vielleicht wissen deine Eltern ja, wo Heather und Anastasia sind."

Automatisch versteife ich mich. Ein riesiger Kloß, der mindestens so groß wie ein Felsbrocken ist, bildet sich in meinem Hals und raubt mir den Atem. Es kostet mich all meine Kraft, die Tränen, die hinter meinen Lidern brennen, zurückzuhalten und mich stattdessen von Josie zu verabschieden.

Meine Eltern, die ich früher über alles geliebt habe, sind genauso wie Heather vor sechs Jahren gestorben. Seitdem sind sie nur noch meine Erzeuger, die mir monatlich Geld überweisen, damit Heather und ich zumindest in einer kleinen Wohnung leben können.

Zwar bin ich froh, die beiden aus meinem Leben gestrichen zu haben, aber es tut dennoch weh, wenn andere Menschen über meine Erzeuger reden.

Vor sechs Jahren haben sie mich so sehr mit ihrem Verhalten verletzt, dass ich bezweifele, ihnen jemals vergeben zu können.

Indem sie Heather aufgegeben haben, haben sie auch mich aufgegeben.

Ich wische mir hastig eine Träne von der Wange, nachdem ich wieder in meiner Wohnung angekommen bin.

Auch wenn mir die Gedanken an meine Erzeuger emotional sehr zusetzen, bin ich erleichtert, dass Heather nicht allein, sondern mit Anastasia unterwegs ist.

Die ganze letzte Woche hat mir meine Schwester aufgeregt von einer Kat erzählt, die sie bei ihrer Arbeit in der Werkstatt kennengelernt hat. Da ich so beschäftigt mit meinem Studium war, habe ich ihr nur mit einem halben Ohr zugehört und somit eventuell vergessen, dass sie heute bei Kat übernachtet.

Ich freue mich sehr für Heather, dass sie endlich Anschluss bei Gleichaltrigen gefunden hat.

Da ihr wegen ihrer psychischen Behinderung schon genug Steine in den Weg gelegt werden, bin ich nun umso glücklicher, dass ihr Leben langsam mehr Normalität annimmt.

Jetzt, wo ich weiß, dass Heather in Sicherheit ist, wärme ich mir einen Teller Spinatlasagne auf und gehe danach schlafen. Eigentlich müsste ich noch ein Kapitel für mein Matheseminar lesen, doch die letzten Stunden waren so aufregend und ereignisreich, dass ich mir meine Kräfte lieber für den morgigen Tag aufspare.

Einen Tag, der hoffentlich ohne Drama und ohne weitere Zwischenfälle verlaufen wird ...

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