19 - Von Vorwürfen und Wiedersehen

Mein Herz fährt Achterbahn, als ich langsam auf die Haustür meines Elternhauses zugehe. Je näher ich den beiden Löwenskulpturen komme, die den Eingang flankieren, umso mehr Unwohlsein wallt in meinem Inneren auf.

Der Mut verlässt mich und schafft Platz für die Angst, die sich wie eine zweite Aura um meine Gestalt legt.

Bin ich ein Feigling, wenn ich doch noch einen Rückzieher mache? Ich bin mir einfach nicht sicher, ob ich mental stark genug dafür bin, meine Erzeuger wiederzusehen.

Sechs Jahre sind eine verdammt lange Zeit.

Ich schlucke schwer. Mein Blick wandert dabei wie von selbst zu Lens Auto zurück.

Es hat sich gut und richtig angefühlt, Len zu küssen. Nicht nur, weil mich seine Worte in eine rosarote Wolke gehüllt haben, sondern auch, weil ich endlich den Schmetterlingen in meinem Magen nachgeben konnte.

Dieser eine Kuss hat mir unheimlich viel Kraft verliehen. Egal, was gleich passiert, ich weiß, dass Len hinter mir steht und für mich da sein wird.

Immer!

Ein paar Sekunden verstreichen, bis Len meinen verunsicherten Blick auffängt. Sofort zupft ein sanftes Lächeln an seinen Mundwinkeln, das mir Hoffnung spendet.

Len glaubt an mich. Das verrät mir die liebevolle Art, wie er mich ansieht.

Jetzt muss nur noch ich selbst an mich glauben ...

Tiefe Atemzüge verlassen meinen Mund und flattern danach wie winzige Vögel zum Horizont empor. Ich spüre, wie sich mein Herzschlag reguliert und Ruhe in meinem Körper einkehrt.

„Ich schaffe das", murmele ich leise zu mir selbst, bevor ich meine Schultern straffe und die letzten Meter, die mich von der Haustür trennen, überbrücke. Meine Finger zittern wie Espenlaub, als ich schließlich die Klingel, auf der in schnörkeligen Buchstaben Conell geschrieben steht, betätige.

Daraufhin erfüllt ein schriller Ton, den ich als Kind gehasst habe, die Luft.

Jetzt wird es ernst. Zum ersten Mal seit sechs Jahren werde ich meine Erzeuger wiedersehen.

Irgendwie fühlt es sich falsch an, dass nicht mal ein minimaler Funke Vorfreude in meinem Herzen entfacht wird. Wut, Enttäuschung und Angst sind derzeit die einzigen Emotionen, die sich wie ein Lauffeuer in meinem Körper ausbreiten.

Mehrere Sekunden verstreichen. Mein Herzschlag wird schneller und meine Gedanken werden lauter.

Was, wenn meine Erzeuger gar nicht zuhause sind? Ich bin mir nicht sicher, ob ich es eine weitere Nacht schaffen würde, unser Wiedersehen aufzuschieben. Schon heute hat es mich all meine Kraft gekostet, Len die Adresse meines Elternhauses zu nennen und während der Fahrt nicht aus dem Auto zu springen.

Das Karussell meiner Gedanken wird gestoppt, als plötzlich polternde Schritte im Inneren des Hauses ertönen. Noch bevor ich mich mental darauf vorbereiten kann, meinen Erzeugern gegenüberzustehen, öffnet sich die Haustür.

Für einen Moment bleibt die Zeit stehen. Die Welt hört auf, sich zu drehen und verschluckt alle Farben.

Eisblaue und saphirblaue Augen treffen wie bei einem Autounfall aufeinander.

Der Blick meines Erzeugers schlägt wie eine Bombe in meiner Seele ein und lässt mich schockiert die Luft anhalten.

Das ist er. Das ist Georg Conell. Mein Erzeuger.

Er sieht noch genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung habe: Ein schlaksiger großer Mann, der sich selbst in den frühen Abendstunden nicht von seinem Anzug trennen kann. Die grauen Haare sind ordentlich zurückgelegt, der Bart fein säuberlich gestutzt. Ein paar Falten, die seinem Alter zu verschulden sind, bohren sich in seine Haut, aber ansonsten hat sich nichts an seinem Aussehen verändert.

Es schockiert mich, dass mein Gegenüber wie der Mann aussieht, der mir als Kind Geschichten erzählt und im Wohnzimmer Höhlen aus Decken und Kissen mit mir gebaut hat.

„Entschuldigung, kann ich Ihnen irgendwie weiterhelfen?" Die Stimme meines Erzeugers klingt tief und rauchig. Außerdem schwingt Kälte in ihr mit, die mich zusammenzucken lässt.

Er erkennt mich nicht wieder. Mein eigener Erzeuger, der mich 16 Jahre lang großgezogen hat, hat keine Ahnung, wer ich bin.

Ohne es kontrollieren zu können, bilden sich Tränen der Enttäuschung in meinen Augen. Gleichzeitig zerbricht mein Herz in Millionen kleine Splitter, sodass ich bezweifele, die Scherben jemals wieder zusammensetzen zu können.

Was soll ich meinem Erzeuger jetzt antworten? „Hey, ich bin's ... Deine Tochter, die du vor sechs Jahren verstoßen hast" oder vielleicht doch lieber „Ganz schön traurig, dass du dein eigen Fleisch und Blut nicht erkennst"?

Ich weiß es nicht. Wirklich nicht!

Vor lauter Überforderung strömen immer mehr Tränen über meine Wangen. Sie verschleiern mir so sehr die Sicht, dass ich meine Brille absetzen und mir einmal über die nassen Lider wischen muss.

War ich meinem Erzeuger eigentlich jemals wichtig? Hat er mich überhaupt geliebt?

Plötzlich stelle ich meine ganze Kindheit in Frage.

Bis zu dem Tag, an dem Heather ihre Diagnose bekommen hat, habe ich mich immer sicher und geborgen gefühlt. Vor allem mein Erzeuger war mein großer Held, dem ich täglich nacheifern wollte.

Mittlerweile bin ich mir leider nicht mehr sicher, ob er damals mir zuliebe so viel Zeit mit mir verbracht hat oder nur, um sein Ansehen in der Stadt und vor allem bei seinen Kollegen in der Staatsanwaltschaft zu verbessern.

Fakt ist: Ich konnte nie die Tochter sein, die er sich gewünscht hat.

„Miss ...?"

Langsam hebe ich meinen Blick. In dem Moment, in dem sich unsere Pupillen ineinander verhaken, lichtet sich der Nebel in dem Kopf meines Erzeugers.

„Piper?" Ungläubigkeit, Überraschung und Angst schwingen in seiner Stimme mit. Ich kann ihm ansehen, dass er noch etwas sagen möchte, doch meine Erzeugerin, die gerade den Flur betritt, kommt ihm zuvor. „Georg, wer ist denn da an der Tür? Das Essen wird kalt!"

Keiner sagt etwas. Mein Erzeuger nicht, meine Erzeugerin nicht und auch ich nicht.

In dieser Sekunde fühlt es sich an, als würde der Schmerz der vergangenen sechs Jahre auf uns alle niederprasseln. Wir drei sind gefangen in der Vergangenheit, umgeben von dunklen Dämonen und Schicksalsschlägen.

Meine Erzeugerin ist die Erste, die sich aus ihrer Starre löst. Mit schnellen Schritten und ausgebreiteten Armen kommt sie zu mir geeilt.

„Pips, mein Schatz! Wie schön, dich zu sehen", begrüßt sie mich entgegen meinen Erwartungen mit einer stürmischen Umarmung. „Ich habe dich ja so schrecklich vermisst, mein Engelchen. Und wie hübsch du geworden bist ... Wahnsinn! Du musst mir alles erzählen. Von deinem Studium und deinem Leben. Hast du denn mittlerweile einen Freund gefunden? Wenn ja, solltet ihr am Sonntag unbedingt zum Stadtfest kommen. Dann können wir euch Georgs Arbeitskollegen aus der Staatsanwaltschaft vorstellen. Du studierst doch Jura, oder?"

Im ersten Moment bin ich so überrumpelt von dieser Begrüßung, dass ich die Umarmung schweigend über mich ergehen lasse. Erst nach ein paar Minuten realisiere ich, was für ein krankes Spiel meine Erzeugerin mit mir spielt, und stoße sie wütend von mir weg.

Was bildet sie sich eigentlich ein? Meine Erzeugerin hat keinen blassen Schimmer, wer ich bin. Für sie bin ich eine Fremde.

Eine Fremde mit demselben Blut.

„Komm doch rein, Liebes. Es gibt Seelachs und Kartoffeln. Das magst du doch so gerne, richtig?"

‚Nein!', schreie ich in Gedanken. ‚Ich hasse Seelachs!' Schon als Kind habe ich lieber eine Schale Müsli, statt diesen überteuerten Fisch, der nach Abfall riecht, gegessen.

„Oh man, es ist echt toll, dass du wieder da bist." Meiner Erzeugerin scheint es total egal zu sein, dass ich sie von mir gestoßen habe und nun abwehrend die Arme vor der Brust verschränke. „Georg, ruf schnell Annelise an und lade sie zum Abendessen ein. Dann kann sie Pips kennenlernen und ihr ein Praktikum in der Kanzlei organisieren."

Das reicht! Ich habe genug Schwachsinn gehört!

„Ist das dein Ernst, Mutter?!", fauche ich meine Erzeugerin zornig an. Normalerweise ist es überhaupt nicht meine Art, laut zu werden, doch meine Gegenüber lässt mir gerade keine andere Wahl. „Du redest davon, dass du mich vermisst hast, dabei kennst du mich nicht mal. Du hast keine Ahnung, wer ich bin und was ich alles deinetwegen durchmachen musste. Die kleine Piper von damals, die alles getan hat, um es dir recht zu machen, gibt es nicht mehr. Sie ist vor sechs Jahren gestorben!"

Mein Oberkörper hebt und senkt sich viel zu schnell. Das Feuer der Wut, das in meiner Brust pulsiert, gewinnt immer mehr an Größe.

Kurz habe ich Mitleid mit meinen Erzeugern, weil sie mich total entsetzt aus ihren aufgerissenen Augen anschauen, doch sobald ich mich wieder an ihre Taten erinnere, kocht neuer Zorn in mir hoch.

„Es ist übrigens ziemlich traurig, dass ihr mich wie eine Heilige empfangt, aber kein einziges Mal nach Heather fragt. Sie ist ebenso wie ich eure Tochter!"

„Piper, hör zu-", setzt mein Erzeuger an, allerdings lasse ich ihn nicht aussprechen. Auf seine manipulativen Worte kann ich nämlich gut verzichten.

„Nein! Jetzt hört ihr mir mal zu!", kreische ich fast schon hysterisch.

Jahrelang habe ich mich nicht getraut, meinen Erzeugern oder anderen Menschen in meinem Umfeld meine Meinung zu sagen. Obwohl ich schon immer wusste, dass mich das innerlich zerstört, haben es erst Len und seine Worte geschafft, mir Kraft für die Wahrheit zu verleihen.

Dank Len fühle ich mich gerade stark und selbstbewusst. Vielleicht sogar ein kleines bisschen unbesiegbar.

„Die letzten sechs Jahre waren die absolute Hölle für mich! Ihr habt keine Ahnung, wie oft ich aufgeben und mein Leben einfach wegwerfen wollte!", schreie ich unter Tränen. „Ich war noch ein Kind, das die High School beenden musste. Während alle anderen Teenager ihre Freizeit genießen konnten und zuhause von ihren Familien aufgefangen wurden, musste ich mehrere Selbstmordversuche meiner Schwester mitansehen!"

Der Schmerz bohrt sich wie eine Schwertklinge in mein Herz und zwingt mich dazu, auf die Knie hinabzusinken.

Niemand weiß, wie hilflos und allein ich mich in den letzten sechs Jahren gefühlt habe. Auch wenn Heather mein Licht in der Dunkelheit war, hätte ich meine Eltern gebraucht – dringender denn je.

„Wo wart ihr, als Heather auf der Intensivstation lag? Oder als ich von einem Auto angefahren wurde? Oder als wir eine Woche hungern mussten, weil wir kein Geld mehr hatten?" Meine Stimme wird mit jedem Wort leiser und schwächer, bis sie schließlich von meinen Tränen verschluckt wird. „Euer Ansehen in der Stadt stand für euch immer an erster Stelle. Hättet ihr Heathers Therapie nicht frühzeitig abgebrochen, dann wäre sie vielleicht schon längst geheilt worden. Ihr seid schuld daran, dass Heather und ich jeden Tag um unser Überleben kämpfen müssen!"

„Pips ..." Meine Erzeugerin schaut mich mitleidig aus ihren katzengrünen Augen an. Da sie schon immer eine perfekte Maske aufrechterhalten konnte, bin ich mir nicht sicher, ob ihre Gefühle gerade bloß gespielt sind oder nicht. „Dein Vater und ich lieben dich. Du hättest jederzeit zu uns zurückkommen können."

Ich fasse es nicht! Das meint sie doch nicht wirklich ernst, oder?!

Ein spöttisches Schnauben entflieht meinen Lippen, bevor ich wütend zische: „Ihr habt auch noch eine andere Tochter, die eure Liebe genauso verdient hat, wie ich! Heather ist der beste Mensch, den ich kenne. Ihr seid Idioten, dass ihr sie aus eurem Leben verbannt habt!"

Während sich der Blick meines Erzeugers zu einem reumütigen Schleier wandelt, zeigt meine Erzeugerin keine Emotionen mehr. Ihr Blick ist so leer wie ihr Herz.

„Heather ist nicht normal. Sie ist krank", sagt sie mit einem Hauch von Ekel in der Stimme. „Es wäre das Beste, sie endlich in eine Jugendeinrichtung abzuschieben."

Vor lauter Entsetzen schnappe ich nach Luft.

Was für ein herzloses Monster muss man sein, um solch eine Aussage über die eigene Tochter zu tätigen? In diesem Moment ist meine Erzeugerin endgültig für mich gestorben.

Ich möchte nichts mehr mit ihr zu tun haben und sie nie wieder sehen.

Ab heute existiert Cornelia Conell nicht mehr für mich!

Bevor ich von diesem grausamen Ort flüchten und die beiden Menschen, die mein Leben in einen Albtraum verwandelt haben, hinter mir lassen kann, muss ich ihnen eine letzte Frage stellen. „Ihr wisst also nicht, wo sich Heather aktuell befindet?", erkundige ich mich unsicher bei ihnen.

Kurz flammt Hoffnung in mir auf, als sich meine Erzeuger einen Blick zuwerfen, doch dieser Funke erlischt nur wenige Sekunden später. „Nein, das wissen wir nicht", antwortet meine Erzeugerin. „Und jetzt komm bitte mit rein, Pips. Ich möchte alles über dein Jurastudium erfahren."

Obwohl ich bereits damit gerechnet habe, dass meine Erzeuger keinen Anhaltspunkt bezüglich Heather haben, bricht mein Herz vor lauter Enttäuschung auseinander.

Die beiden waren meine letzte Chance. Jetzt werde ich Heather vermutlich nie wieder in meine Arme schließen können.

„Ich studiere kein Jura, Mutter!", fauche ich meine Erzeugerin verärgert an, während ich mir die Tränen von den Wangen streiche. „Für mich gibt es keinen Grund, meinem Vater nachzueifern. Ihr zwei seid absolut beschissene Eltern, die sich einen Scheißdreck für ihre Kinder interessieren! Ich wünschte, Heather und ich wären in einer anderen Familie aufgewachsen!"

Ich kann sehen, dass sich meine Worte wie giftige Pfeilspitzen in die Herzen meiner Erzeuger fressen. Vor allem meine letzte Aussage lässt einen Tornado aus negativen Gefühlen durch ihre Körper wirbeln.

Noch vor wenigen Tagen hätte ich mich für meine Wortwahl entschuldigt, doch jetzt gerade ist es mir egal. Meine Erzeuger haben es verdient, denselben Schmerz zu spüren, den ich jahrelang ertragen musste.

„Lebt wohl! Auf Nimmerwiedersehen!"

Das sind meine letzten Worte an meine Erzeuger, bevor ich sie endgültig aus meinem Leben streiche.

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