17 - Von Rosen und Erzeugern

Eine ganze Welt bricht für mich zusammen - meine Welt. Ich habe das Gefühl, innerlich zu verbrennen und danach zu Asche zu zerfallen.

Heather ist nicht hier.

Diese vier Wörter geistern so lange durch meinen Kopf, bis ich schluchzend zu Boden sacke. Tränen strömen unaufhaltsam über meine Wangen und stoßen meinen Verstand in ein Meer aus negativen Emotionen.

Mein Körper zittert und mein Herz explodiert in winzige Splitter. All die bunten Farben, die Heather mit ihrem Strahlen in mein Leben gebracht hat, verschwinden und verwandeln sich in eine trübe graue Masse.

Nichts ergibt mehr einen Sinn.

Weder das Leben noch mein Dasein.

Ohne Heather möchte ich nicht weitermachen. Bisher war es immer die Hoffnung, die mich am Leben erhalten hat, doch in diesem Moment erlischt auch das letzte Fünkchen von ihr.

Heather ist schon sehr lange weg. Vielleicht sogar so lange, dass ich sie niemals lebendig wiedersehen werde ...

„Piper!" Ich kann Lens besorgte Stimme hören. Seine Arme schließen sich um meinen bebenden Oberkörper und versuchen mir Halt zu geben. „Ganz ruhig. Konzentriere dich auf meine Stimme. Ich-"

Schluchzend schüttele ich den Kopf.

Len kann sich seine Lügengeschichten für eine andere Person aufheben. Ich bin gerade nicht stark genug, um seinem „Alles wird gut" meinen Glauben zu schenken.

Am liebsten würde ich mich jetzt in meinem Bett verkriechen und für immer dort bleiben.

Wie soll ich es jemals schaffen, glücklich zu werden? Seit sechs Jahren ist Heather der Mittelpunkt meines Lebens. Meine Liebe zu ihr ist so gigantisch, dass ich auf der Stelle sterben würde, um sie zu retten.

„Piper ..." Wieder ist es Lens Stimme, die sich durch die betondicken Mauern meiner Gedanken kämpft.

Ehrlich gesagt möchte ich Len gerade nicht hören, sehen oder spüren. Der Schmerz sitzt so tief, dass ich ihn mit mir allein ausfechten muss.

Len scheint eine andere Meinung zu haben, denn plötzlich legt er seine Hände an meinen Rücken und unter meine Kniekehlen. Ganz vorsichtig hebt er mich auf seine Arme und trägt mich dann im Brautstyle aus der Klinik.

Entgegen meinen Erwartungen tut mir Lens Nähe unheimlich gut. Sein vertrauter Vanilleduft reguliert meinen rasenden Herzschlag und sorgt gleichzeitig dafür, dass meine Tränen versiegen.

Auf einmal fühle ich mich sicher und beschützt. Nicht mehr so allein und hilflos, wie noch vor ein paar Minuten.

Mit dem Kopf an Lens Brust gelehnt, lasse ich mich von ihm über das Außengelände der Klinik tragen. Obwohl Len noch nie hier war - davon gehe ich jedenfalls aus - findet er schon nach wenigen Minuten den kleinen Rosengarten, in dem Heather und ich manchmal mit ihrer Betreuerin saßen und Mensch ärgere dich nicht gespielt haben.

Langsam lässt sich Len auf der Bank nieder, die von bunten Rosen umgeben ist. Schmetterlinge fliegen durch die Luft und tanzen mit den schillernden Libellen um die Wette.

Automatisch spüre ich, wie mein Körper zur Ruhe kommt.

„Weißt du eigentlich, was einer meiner größten Kindheitsträume ist?", durchbricht Len nach einigen Sekunden das Schweigen zwischen uns. Da ich noch immer in seinen Armen liege, schaue ich neugierig zu ihm auf und schüttele den Kopf. „Ich möchte unbedingt mal nach Island fliegen."

Mit dieser Antwort habe ich nicht gerechnet. Das ist auch der Grund, weshalb ich nachhake: „Warum?"

Len lächelt verträumt. „Ich liebe es, in der Natur zu sein. Im Einklang mit den Tieren und Pflanzen ... Die vier Elemente spüren ... Auf Island ist die Natur besonders schön und unberührt", erklärt er mir. „Am liebsten würde ich die ganze Insel zu Fuß erkunden und nachts in einem Zelt übernachten. Einmal die berühmte Ringstraße entlangwandern: Das wäre ein Traum! Mein Traum ..."

„Wow. Das klingt schön", sage ich ehrlich.

Wenn ich so recht darüber nachdenke, dann habe ich keinen Kindheitstraum mehr, den ich auch heute noch verfolge. Zwar wollte ich unbedingt mal Schauspielerin werden, um Leonardo DiCaprio zu treffen, doch diesen Wunsch habe ich schon nach drei Jahren Üben vor dem Spiegel wieder verworfen.

Seit Heathers Diagnose ist es nur noch wichtig für mich, dass es meiner Schwester gut geht.

„Was meinst du, Piper, würde es Heather und dir auf Island gefallen?" Lens Frage trifft mich unvorbereitet. Sie bohrt sich wie eine Pfeilspitze in mein Herz und entfacht dort ein loderndes Feuer.

Ich muss schwer schlucken.

Als Kind hat Heather die Natur geliebt. Zwischenzeitlich war sie sogar mal bei den Pfadfindern.

Auch heutzutage genießt sie es, gemeinsam mit Anastasia oder mir Zeit an der frischen Luft zu verbringen. Vor allem das Ferienhaus im Wald und der Berggipfel, den ich noch vor wenigen Tagen mit Len erklommen habe, zählen zu ihren Lieblingsorten.

Und ich? Ich bin für alles zu begeistern, was meine Schwester glücklich macht.

Ob Len es wohl wirklich ernst meint, seinen Kindheitstraum mit Heather und mir in die Tat umsetzen zu wollen?

„Ja, ich denke schon", beantworte ich Lens Frage nach einigen Minuten der Stille. Kurz vereine ich unsere Blicke miteinander, ehe ich den Kopf wieder hängen lasse. „Bleibt nur noch abzuwarten, ob Heather überhaupt die Chance erhalten wird, jemals nach Island zu fliegen ..."

Ich kann es nicht verhindern, dass im Einklang mit meinen Worten giftige Tränen über meine Wangen kullern.

Ich habe aufgegeben. Nicht nur meine Schwester, sondern auch mich selbst.

„Sag so etwas nicht, Piper!" Len streicht mir zärtlich die Tränen von der Haut. „Wir werden Heather finden. Das habe ich dir versprochen!"

„Tja, manche Versprechen kann man nun mal nicht einhalten ..."

Ich spüre, wie sich Lens Augen auf mich richten. Nur wenige Sekunden später legen sich seine Hände an meine Wangen, um sanft darüber zu streicheln.

Obwohl ich es nicht möchte, hebe ich meinen Blick.

Len sieht entschlossen aus. Im Gegensatz zu mir glaubt er fest daran, dass wir Heather noch finden können. Wohlbemerkt lebendig.

„Du musst optimistisch bleiben, Piper", haucht Len leise. „Denk nochmal ganz in Ruhe nach, ob dir nicht vielleicht doch noch ein Ort einfällt, an dem Heather sein könnte."

Ich nicke. Dann versuche ich meine Gedanken darauf zu konzentrieren, wo Heather damals gerne ihre Zeit verbracht hat.

Aber ganz egal, wie sehr ich mich auch anstrenge, abgesehen von dem Ferienhaus und dem Berggipfel fallen mir keine weiteren Orte mehr ein.

Verzweiflung macht sich in mir breit und befördert neue Tränen an die Freiheit. Mein Körper spannt sich wieder an, bevor er von einem Erdbeben heimgesucht wird.

Bin ich eine schlechte Schwester, weil mir keine Orte mehr in den Sinn kommen, die Heather gerne mag?

Eigentlich sollte ich ihre Vorlieben in- und auswendig kennen. Es ist meine Schuld, dass wir Heather nicht finden können, denn scheinbar weiß ich zu wenig von ihr.

Ob sie vielleicht sogar meinetwegen von zuhause geflüchtet ist?

Dieser Gedankenschnipsel tut so weh, dass mir ein schmerzerfülltes Keuchen entflieht. Mit Tränen in den Augen presse ich meine Hand auf mein Herz und versuche somit den Schmerz in meiner Brust zu lindern.

Vergeblich ...

Ich dachte immer, dass ich Heathers Lieblingsmensch sei, aber was, wenn ich mit dieser Annahme falsch lag?

Bevor ich tiefer in den Strudel meiner Gedankenwirbel gerissen werden kann, schiebt sich Lens Stimme über den dunklen Nebel in meinem Kopf. „Ich weiß, dass du nicht sonderlich gut auf deine Erzeuger zu sprechen bist, aber was hältst du davon, wenn wir ihnen mal einen Besuch abstatten? Vielleicht wissen sie ja etwas von Heather."

Kaum sind Lens Worte verklungen, springe ich von seinem Schoß - ungefähr so, als hätte ich mich an einer Flamme verbrannt.

Voller Entsetzen schaue ich den Shadow an.

Dieser Vorschlag ist hoffentlich nicht ernstgemeint, oder?!

Seit sechs Jahren habe ich keinen Kontakt mehr zu meinen Erzeugern. Unsere einzige Verbindung ist das Geld, das sie mir monatlich für die Wohnung überweisen.

Heather zuliebe habe ich mir geschworen, unsere Erzeuger nie wieder in unser Leben zu lassen. Sie haben so viel Kummer und Leid hinterlassen, dass es noch viele viele Jahre dauern wird, bis alle Narben auf Heathers und meinem Herzen verheilt sein werden.

„N-Nein." Meine Stimme zittert genauso stark wie mein Körper. „D-Das geht nicht." Während ich panisch meinen Kopf schüttele, taumele ich einen Schritt zurück. Dabei verliere ich mein Gleichgewicht und lande wenig später begleitet von einem schmerzhaften Ächzen auf dem Boden.

Sofort kommt Len zu mir geeilt und hilft mir wieder auf die Beine.

„Alles okay?", möchte er besorgt wissen. „Hast du dir wehgetan?"

Ich schüttele meinen Kopf. Der größte Schmerz schlummert derzeit in meinem Herzen, aber leider kann ich diesen nicht bewältigen. Jedenfalls so lange nicht, wie meine Schwester verschwunden ist.

„Okay, gut", atmet Len erleichtert aus. Kurz befürchte ich, dass er erneut das Thema mit meinen Erzeugern ansprechen könnte, aber zum Glück macht er mir einen anderen Vorschlag. „Was sagst du zu einer fettigen Pizza auf Jeffs Rückbank, Piper? Ich lade dich auch ein."

Obwohl ich überhaupt keinen Hunger habe und Essen das Letzte ist, woran ich denken möchte, zwinge ich mir ein schiefes Lächeln auf die Lippen. „Das klingt toll", lüge ich, damit sich Len keine Sorgen um mich macht.

Ich weiß, dass ich in seinen Augen immer noch untergewichtig bin. Mit dieser Annahme hat er auch recht, aber aktuell habe ich einfach keinen Appetit.

Ständig muss ich an Heather denken. Der Kummer macht es mir schwer, regelmäßig Mahlzeiten zu mir zu nehmen.

„Dann mal los!", klatscht Len motiviert in die Hände. „Zu deinem Glück kenne ich die beste Pizzeria in ganz Black County. Du wirst das Essen lieben. Versprochen!"

Mit Len an meiner Seite mache ich mich auf den Rückweg zu seinem Auto. Sobald wir angeschnallt sind, lenkt Len den Wagen von dem Gelände, sodass die Klinik binnen weniger Sekunden zu einem kleinen Punkt in der Ferne verblasst.

Auf der Fahrt nach Black County wechseln wir kaum ein Wort miteinander. Erst als wir es uns mit einer Familienpizza auf der Rückbank von Lens Auto gemütlich gemacht haben, traut sich mein Gegenüber, das Schweigen zwischen uns zu brechen.

„Hast du eigentlich nochmal über meinen Vorschlag nachgedacht?", möchte er von mir wissen.

Da ich keine Ahnung habe, was genau er meint, hebe ich bloß fragend die Augenbrauen.

„Na ja, die Sache mit deinen Erzeugern ... Du weißt schon ...", druckst Len unsicher herum.

Da mir schlagartig der Appetit vergeht, lege ich mein Pizzastück zurück in den Karton. Eigentlich wollte ich auch an diesem Abend nichts essen, aber Len hat mich dazu gezwungen. „Ich möchte nicht, dass du eine Magersucht oder Essstörung entwickelst, Piper", hat er zu mir gesagt. Letztendlich war es dann der traurige Blick, der mich dazu gebracht hat, nach einem Stück Pizza zu greifen.

„Ich würde natürlich auch mitkommen und dir zur Seite stehen", lässt Len nicht locker. „Stell dir mal vor, deine Erzeuger wüssten wirklich, wo Heather ist. Du würdest es dir niemals verzeihen, sie nicht nach deiner Schwester gefragt zu haben."

Damit hat Len Recht. Er kennt mich mittlerweile so gut, dass er ganz genau weiß, wie er mich mit seinen Worten beeinflussen kann.

„Wir können morgen Nachmittag zu ihnen fahren."

Bei Lens Worten bildet sich ein riesiger Kloß in meinem Hals. Zusätzlich breitet sich eine schauernde Gänsehaut auf meinem Rückgrat aus, die Übelkeit in meinem Inneren aufwallen lässt.

Ich bin nicht bereit dazu, meinen Erzeugern gegenüberzutreten.

Sie haben Heather jahrelang wie Abfall behandelt. Ihr eigenes Ansehen war ihnen wichtiger als das Wohl ihrer Tochter.

Ich war gerade mal 16 Jahre alt, als Heather und ich von zuhause ausgezogen sind. Seitdem musste ich mich allein durchs Leben kämpfen und von dem einen Tag auf den anderen erwachsen werden.

Meine Erzeuger haben mir so viel weggenommen, dass es mir unmöglich erscheint, ihnen jemals zu verzeihen.

„Wenn du möchtest, kannst du auch im Auto warten. Dann rede ich mit deinen Erzeugern", bietet mir Len an. Seine verschiedenfarbigen Iriden bohren sich geradewegs in mein Herz und hinterlassen dort eine prickelnde Wärme.

Ich weiß, dass mir Len helfen möchte. Außerdem ist es vielleicht wirklich keine schlechte Idee, bei meinen Erzeugern vorbeizuschauen. Natürlich nicht ihretwegen, sondern nur Heather zuliebe.

Ein letztes Mal atme ich tief durch, ehe ich nachgebe. „Okay", hauche ich mit klopfendem Herzen. „Ich kann aber nicht dafür garantieren, ruhig zu bleiben und meine Fäuste bei mir zu behalten."

Im Einklang mit meinen Worten heben sich Lens Mundwinkel zu einem frechen Schmunzeln. „Dann weiß ich ja, was wir heute Nacht üben werden."

„Ach ja?" Ich hebe irritiert die Augenbrauen. „Was denn?"

„Zuschlagen, ohne sich dabei die Hand zu brechen."

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