15 - Von Nasen und Neuanfängen
In den nächsten drei Tagen fühle ich mich nicht wie ich selbst.
Obwohl ich auf das Geld angewiesen bin, melde ich mich am Wochenende für meinen Job im Restaurant krank, um mich stattdessen weinend unter der Bettdecke zu verstecken. Ich blättere alte Fotoalben durch und schaue mir Videos von Heather und mir auf dem Handy an.
Es tut furchtbar weh, das glückliche Strahlen meiner Schwester zu sehen. Auf jedem Bild und in jedem Video sieht sie losgelöst und befreit aus. So, als würde sie ihr Leben in vollen Zügen genießen.
Ich wünschte, in der Realität wäre es genauso, doch die Wahrheit ist, dass ich keine Ahnung habe, wo sich Heather aktuell befindet.
Die Polizei meldet sich nicht bei mir und auch die Vermisstenmeldungen scheinen ihren Zweck nicht zu erfüllen. Anastasias Handy ist weiterhin ausgeschaltet und auch sonst gibt es keine Neuigkeiten zu ihrem Verschwinden.
Mir ist bewusst, dass es grausam klingt, aber innerlich versuche ich mich schon mal auf das Allerschlimmste einzustellen: Heathers Tod.
Als ich am Montagmorgen meine Wohnung verlasse, um mich notgedrungen zur Uni zu schleppen, liegen dunkle Schatten unter meinen Augen. Mein Gesicht ist eingefallen, mein Blick emotionslos und mein Körper beinahe so dürr wie ein Strohhalm.
Auch wenn ich heute nicht gefrühstückt habe, ist mir speiübel. Am liebsten würde ich zurück in mein Bett kriechen und eine Auszeit von meinem Leben nehmen, doch tief in mir schlummert die Hoffnung, dass mich die Vorlesungen von meinem Kummer ablenken können.
Len hat mir zwar auch mehrere Nachrichten geschrieben, in denen er gefragt hat, ob er etwas für mich tun könne, allerdings habe ich jedes Mal verneint. Ich brauchte einfach Zeit für mich selbst, um mich mit meiner Trauer auseinanderzusetzen.
„Hey Piper", werde ich schließlich von Josies Stimme in die Realität zurückgerissen.
Da ich so sehr in meinen Gedanken versunken war, zucke ich einmal zusammen, bevor ich den Blick hebe.
Eigentlich dachte ich, dass ich schlimm aussehen würde, doch Josies Anblick ist mindestens zehnmal grausamer.
Ihr rechtes Auge ist blau unterlaufen, ihre Nase angeschwollen und aus ihrer Unterlippe tropft Blut.
Seit ich Josie und Mike vor ungefähr einer Woche im Krankenhaus besucht habe, habe ich sie nicht mehr gesehen. Am Wochenende habe ich immer wieder überlegt, nach ihnen zu schauen, aber letztendlich haben mich meine Tränenfluten im Bett gefangen gehalten.
Jetzt, wo ich sehe, wie zugerichtet Josies Gesicht ist, meldet sich sofort mein schlechtes Gewissen zu Wort.
Hätte ich vielleicht verhindern können, dass ihr diese Schmerzen zugefügt werden?
„H-Hey", stammele ich nach einer Weile überfordert. „Wa-Was ist pa-passiert?"
Josie seufzt einmal. Sie wirkt kraftlos und erschöpft. Fast schon so, als hätte sie keine Lust mehr, jeden Tag weiterzukämpfen.
„Ein kleines Willkommen-zurück-und-denk-bloß-daran-deine-Schulden-zu-bezahlen-Geschenk von Devin."
Mehr muss Josie gar nicht sagen.
Ich spüre, wie sich ein Feuer der Wut in meinem Magen zusammenbraut. Wie von selbst balle ich meine Hände zu Fäusten und beiße die Zähne aufeinander.
Devin ist für mich ein Unmensch.
Natürlich habe ich nicht vergessen, was für eine grausame Vergangenheit er im Kinderheim erlebt hat, aber das rechtfertigt noch lange nicht seine Taten.
Es ist die eine Sache, Drogen und Alkohol zu konsumieren, aber eine ganz andere, gewalttätig zu werden und Drohungen auszusprechen.
Mittlerweile fällt es mir zunehmend schwerer, zu verstehen, wie sich Len freiwillig mit Devin abgeben kann.
Jemand, der einen anderen Menschen so übel zurichtet, sollte allein auf dieser Welt sein. Hoffentlich wird Devin irgendwann wie Abfall von den Shadows fallengelassen.
„Es ist gut, dass ich dich gerade treffe", spricht Josie nach ein paar Minuten des Schweigens weiter. „Ich wollte nämlich sowieso bei dir klingeln und mit dir reden."
Ohne es verhindern zu können, versteife ich mich am ganzen Körper.
Ob Josie wohl etwas von Heather gehört hat? Vielleicht wurde sie ja von irgendeinem Kriminellen entführt, der nun Lösegeld für meine Schwester fordert.
Seit ich weiß, wie unberechenbar Devin ist, traue ich Kriminellen alles zu.
„Wo-Worum geht es denn?" Auch wenn ich mich bemühe, kann ich das Zittern in meiner Stimme nicht verbergen.
Ich habe Angst. Vielleicht sogar Panik.
„Mike und ich ..." Josie stockt kurz. „Wir haben uns dazu entschieden, uns freiwillig der Polizei zu stellen."
„Was?!", entfährt es mir sogleich entsetzt. Im ersten Moment denke ich, dass mir meine Ohren einen Streich spielen, doch Josies ernster Gesichtsausdruck überzeugt mich vom Gegenteil. Es ist die pure Wahrheit, die aus ihr spricht.
Sobald ich realisiere, dass mir Josie keinen verspäteten April-Scherz spielt, schaue ich sie schockiert an.
Ich habe mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass sich Josie und Mike der Polizei stellen möchten.
Die beiden Punks leben schon genauso lange in diesem Wohnkomplex wie Heather und ich. Seit ich denken kann, haben sie mit Drogen gedealt oder andere illegale Aktivitäten ausgeführt.
Nie stand es auch nur ansatzweise zur Debatte, der Kriminalität zu entfliehen. Egal, wie oft ich mit Josie darüber gesprochen habe - meistens, wenn sie mir angetrunken im Flur begegnet ist - sie hat keinen Ausweg aus diesem dunklen Loch gesehen.
Woher kommt also plötzlich der Sinneswandel?
„Ich habe keine Ahnung, wie lange wir hinter Gittern sitzen werden, aber es ist unsere einzige Möglichkeit, uns von Devin und den Dead Devils loszureißen", erklärt mir Josie mit Tränen in den Augen. „Mike wäre fast gestorben und ich ..."
Josie bricht ab. Die Schluchzer verschlucken ihre Stimme und setzen ihren Körper einem Erdbeben aus.
Sofort eile ich zu ihr und schließe sie fest in meine Arme. Wie eine Ertrinkende, die hilflos nach Halt sucht, klammert sich Josie an mich.
Ich kann ihren Schmerz spüren, als wäre es mein eigener.
„Wir ... Wir liefern die Dead Devils der Polizei aus", bringt Josie nun zwischen mehreren Schluchzern hervor. „Vielleicht fällt unser Urteil dann milder aus."
Das hoffe ich!
Josie und Mike sind nämlich keine schlechten Menschen. Ich weiß, dass sie nicht freiwillig in die Kriminalität abgerutscht sind. Sie waren jung, naiv und manipulierbar.
„Wenn wir irgendwann wieder auf freiem Fuße sind, werden wir ganz weit weggehen und nie wieder nach Black County zurückkehren. Mike und ich brauchen einen Neuanfang. Ohne Drogen und illegale Boxkämpfe im Untergrund. Diesen Schritt hätten wir schon viel eher wagen sollen und nicht erst jetzt, wo unsere beiden Leben in Gefahr schweben."
Dieses Mal bin ich diejenige, die sich an Josies Oberkörper festkrallt.
Auch wenn ich sie und Mike nie zu meinen Freunden gezählt habe, werde ich die beiden vermissen. Auf ihre eigene Art und Weise haben sie es geschafft, sich einen Platz in meinem Herzen zu erkämpfen.
Für immer.
„Ich hoffe wirklich, dass Heather bald wieder auftaucht", murmelt Josie leise, während sie sich aus meinen Armen löst. Tränen tanzen über ihre Wangen und spiegeln ihre innere zerbrochene Gefühlswelt wider. „Ich wünsche euch nur das Beste, Piper! Sieh zu, dass ihr endlich aus diesem Höllenloch hier verschwindet."
Im Einklang mit ihren Worten entfernt sich Josie zwei Schritte von mir. Sofort wird mir bewusst, dass der ewige Abschied immer näher rückt.
„Ich bin stolz auf euch!" Das ist alles, was ich sagen kann, bevor meine Stimme von Schluchzern davongetragen wird.
Ab heute werde ich jeden Tag für Josie und Mike beten, denn sie haben es verdient, irgendwann ein besseres Leben zu führen.
„Danke, Piper." Josies Lächeln sieht traurig aus. „Len ist übrigens wirklich ein Guter. Bitte hilf ihm dabei, sich ebenfalls von Devin zu lösen, ja?"
Ich nicke. „Versprochen!"
„Gut."
Ein letztes Mal winkt mir Josie zu, ehe sie begleitet von ihren Tränen im Treppenhaus verschwindet. Keine Sekunde später stürme ich zu der riesigen Fensterfront und beobachte Josie dabei, wie sie an der Eingangstür nach Mikes Hand greift.
Beide werfen einen sehnsuchtsvollen Blick zurück auf das Wohnhaus, in dem sie sechs Jahre lang meine Nachbarn waren, bevor sie den ersten Schritt in ihr neues Leben wagen.
Ein Leben, das in der Zukunft hoffentlich ganz viele schöne Momente für sie bereithält.
Da ich emotional noch total aufgewühlt bin, bleibe ich mehrere Minuten regungslos im Flur stehen. Mein Herz hämmert unkontrolliert gegen meinen Brustkorb und mein Körper zittert.
Es dauert eine Weile, bis die Tränen versiegen und ich mich auf den Weg zur Uni mache.
Josie und Mike tun das Richtige. Auch wenn wir uns wahrscheinlich nie wiedersehen werden, bin ich stolz auf sie, dass sie ihre Fehler begleichen wollen und erkannt haben, dass ihnen ein besseres Leben zusteht.
Sobald ich eine halbe Stunde später das Universitätsgebäude erreicht habe, schleicht sich Alex' haselnussbrauner Lockenkopf in mein Sichtfeld. Eigentlich möchte ich mich vor ihm verstecken, doch es ist zu spät.
Seine mintgrünen Augen bohren sich geradewegs in meine Pupillen.
Oh nein! Jetzt werde ich mich wohl oder übel erneut seiner Date-Frage stellen müssen.
„Hey Piper", begrüßt mich Alex lächelnd, als er vor mir zum Stehen kommt. „Schön, dich zu sehen. Wo warst du am Freitag? Ich habe am Eingang auf dich gewartet."
„T-Tut mir leid, ich-"
Alex lässt mich nicht ausreden. „Wie findest du eigentlich meine Nase? Die ist ein bisschen zu krumm, oder? Ich war am Samstag in einer Schönheitsklinik und habe mich dort beraten lassen. Wer ein perfektes Auto fährt, muss ja auch perfekt aussehen, nicht wahr?"
Bei dem Wort Klinik zuckt ein Blitz durch meinen Körper. Auf einmal bin ich hellwach und stehe unter Adrenalin.
In diesem Moment könnte ich Alex wegen seiner Eitelkeit um den Hals fallen, aber natürlich tue ich das nicht. Stattdessen murmele ich ein „Ich muss los, sorry" und sprinte danach aus dem Gebäude. Mit schnellen Schritten haste ich über den Campus, bis ich wenig später außer Atem den Skatepark erreiche.
Zu meinem großen Bedauern ist der Park leer. Von den Shadows fehlt jede Spur.
„Verdammt!", fluche ich leise.
Auch wenn es mir überhaupt nicht ähnlichsieht, ein weiteres Mal die Vorlesungen zu schwänzen, muss ich unbedingt zu Len und mit ihm reden.
Neue Hoffnung, die mir zuflüstert, dass ich Heather noch nicht aufgeben darf, keimt wie ein Schmetterling in mir auf.
Ein paar Minuten stehe ich unentschlossen vor dem Eingang des Skateparks, ehe ich mich wieder in Bewegung setze und die Hauptstraße ansteuere.
Dieses Mal habe ich mehr Glück, denn tatsächlich treffe ich Len in seinem dunkelblauen Golf an. Es sieht süß aus, wie er mit offenem Mund auf dem Fahrersitz hockt und schläft.
Mir ist bewusst, dass es egoistisch ist, Len aus dem Land der Träume zu reißen, doch ich klopfe trotzdem gegen die Fensterscheibe. „Len? Wach auf!"
Es dauert keine drei Sekunden und schon schlägt der Shadow seine Lider auf. Müde schaut er sich in seinem Auto um, bis sich sein Blick mit dem meinen verwebt. Überraschung und ein Fünkchen Besorgnis spiegeln sich daraufhin in seinen verschiedenfarbigen Iriden wider.
„Piper? Was machst du hier? Ist alles okay?", begrüßt mich Len überfordert, nachdem er die Autotür geöffnet hat.
Ich weiß, dass ich Len Antworten schuldig bin, doch die Nervosität pulsiert gerade so schmerzhaft in meinem Herzen, dass kein einziges Wort meine Lippen verlässt.
„Rede mit mir", fleht mich Len nach wenigen Sekunden verzweifelt an. „Du machst mir ehrlich gesagt Angst."
Statt Lens Bitte nachzukommen, umrunde ich seinen Wagen und lasse mich auf dem Beifahrersitz nieder. Danach ziehe ich mein Handy aus der Hosentasche und gebe eine Adresse in Google Maps ein.
Wortlos zeige ich Len mein Display.
„Eine neue Idee, wo Heather sein könnte?"
Ich nicke.
Eigentlich hätte ich selbst darauf kommen können, doch meine Trauer hat mich so sehr geblendet, dass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Umso erleichterter bin ich nun, dass mich das Schicksal an diesem Montagmorgen in Alex' Arme geführt hat.
Nur seinetwegen gibt es einen neuen Anhaltspunkt, wo sich meine Schwester befinden könnte.
„Okay." Len reibt sich einmal über die müden Augenlider. „Ich hole uns beim Bäcker etwas zum Frühstücken und dann geht es los."
Meine Dankbarkeit gegenüber Len nimmt immer mehr an Größe zu. Ich schätze es sehr, dass er mich nicht mit Fragen löchert und mir stattdessen seine bedingungslose Unterstützung anbietet.
Len ist ein Mensch, der vermutlich alles für mich tun würde.
Umgekehrt ist es genauso.
Nachdem Len fünf Käsebrötchen beim Bäcker gekauft und den Tank neu aufgefüllt hat, fädelt er sich in den Verkehr auf der Autobahn ein.
Fast zwei Stunden dauert es, bis wir unser Ziel erreichen.
Je näher wir diesem besonderen Ort kommen, umso aufgeregter werde ich. Einerseits spüre ich Hoffnung in meinem Herzen auflodern, andererseits nistet sich ein Bienenschwarm der Angst auf meiner Seele ein.
Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie ich reagieren werde, wenn wir Heather auch hier nicht finden können.
So langsam erträgt es mein Herz nicht mehr, von meiner geliebten Schwester getrennt zu sein.
„Sind wir hier richtig?", möchte Len skeptisch wissen, als er den Motor ausschaltet. Seine Augen richten sich zuerst auf das riesige Gebäude, das sich vor uns bis in die Wolkenspitzen erstreckt, danach auf mich.
Noch immer bin ich so nervös, dass ich es nicht schaffe, Len mit Worten zu antworten.
„Ist wirklich alles in Ordnung, Piper?" Der Shadow greift vorsichtig nach meiner Hand. Ein paar Sekunden zögert er, doch dann streichelt er sanft über meine Haut. „Warum stehen wir vor einer Klinik?"
Ganz einfach: Um Heather nach Hause zu bringen!
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