14 - Von Narben und Tattoos

Ein elektrisierendes Kribbeln, das seinen Ursprung in meiner rechten Wange zu verorten hat, reißt mich aus dem Schlaf.

Müde öffne ich meine Augenlider und stoße dabei ein herzhaftes Gähnen aus.

Im ersten Moment bin ich verwundert, warum ich nicht zuhause in meinem Bett liege, doch dann fällt mir wieder das Unwetter ein, welches Len und mich dazu gezwungen hat, die Nacht auf den Rücksitzen seines Autos zu verbringen.

Auch wenn Jeff nicht ganz so bequem war, wie Len behauptet hat, habe ich gut geschlafen. Es war das erste Mal, seit Heather verschwunden ist, dass mich keine Albträume geplagt haben.

Ob das wohl an Lens Anwesenheit liegt?

Ich denke schon.

Kaum muss ich an Len denken, wandert mein Blick zu ihm hinüber. Seine verschiedenfarbigen Augen sind weit aufgerissen und ein sanfter Rotschimmer ziert seine Wangen. Die blonden Locken sind vom Schlaf verwuschelt und lassen Len noch niedlicher aussehen, als er es ohnehin schon ist.

„Ich, ähm ...", stammelt Len verunsichert, als sich unsere Pupillen miteinander verweben. „Da, äh, da war eine Wimper auf deiner Wange. Ich wollte dich nicht wecken. T-Tut mir leid."

Irgendwie ist es süß, dass Len gerade so verlegen ist. Vor allem, weil ich anfangs bei seinem äußeren Erscheinungsbild gedacht habe, dass er ein gefühlskalter Mensch ohne Emotionen sei.

Umso schöner ist es nun, dass mir Len täglich das Gegenteil beweist, denn ich mag es, wenn Menschen nicht verstecken, was sie fühlen.

„Schon gut", versuche ich Len schließlich mit einem Lächeln zu besänftigen. Die Tatsache, dass mir seine Berührung gefallen hat, verschweige ich. „Wie hast du geschlafen?"

Nun ändert sich etwas in Lens Gesichtsausdruck. Die Verlegenheit verschwindet und macht Platz für ein freches Grinsen.

„Na ja, abgesehen davon, dass mir ziemlich laut in mein Ohr geschnarcht wurde, habe ich ganz gut geschlafen. Und du?"

Automatisch verdrehe ich die Augen.

Da Heather und ich uns seit fast sechs Jahren ein Bett teilen, weiß ich ganz genau, dass ich nachts kein Schnarchkonzert veranstalte. Len möchte mich bloß ärgern, doch was er kann, das kann ich schon lange!

„Na ja, abgesehen davon, dass mir immer wieder die Bettdecke geklaut wurde und du mich an den Rand gedrängt hast, habe ich auch ganz gut geschlafen. Danke der Nachfrage, Len."

Ich muss zugeben, dass ich überrascht von mir selbst bin. Noch vor wenigen Tagen hätte ich mich niemals getraut, mit Sarkasmus auf eine Frage zu antworten, doch bei Len habe ich nicht das Gefühl, mich verstellen zu müssen.

Seit er mir vor dem Ferienhaus gesagt hat, dass ich ich selbst sein soll, versuche ich seine Bitte zu befolgen.

Um ehrlich zu sein hätte ich nicht gedacht, dass es mir so leichtfallen würde.

Ein paar Minuten albern Len und ich noch herum, ehe wir uns dazu entschließen, aufzustehen und uns für die Wanderung auf den Berggipfel vorzubereiten.

Zum Glück ist von dem gestrigen Unwetter keine Spur mehr. Zwar pfeift noch immer ein eisiger Wind durch die Luft, aber ansonsten ist es trocken. Zwischenzeitlich versuchen sich sogar ein paar vereinzelte Sonnenstrahlen durch die dicke Wolkendecke zu kämpfen.

Ich bin froh, dass mich Len mehr oder weniger dazu überreden konnte, die Nacht in seinem Auto zu verbringen. Auch wenn ich ein schlechtes Gewissen habe, weil ich zum ersten Mal die Vorlesungen in der Uni verpasse, spüre ich, dass ich gerade genau am richtigen Ort bin.

Meine Schwester hat oberste Priorität. Das hatte sie schon immer und wird sie auch immer haben.

„Kann es losgehen?" Len schaut mich mit solch einem Tatendrang in den Augen an, dass ich schmunzeln muss. Es ist süß, wie sehr er sich für Heather und mich ins Zeug legt.

Ohne Len eine verbale Antwort zu geben, marschiere ich los. Der Shadow folgt mir keine Sekunde später.

Da ich gefühlt meine halbe Kindheit auf diesem Berg verbracht habe, kenne ich den Weg, der auf den Gipfel führt, auswendig. Während Len verträumt die Natur beobachtet, halte ich nach Heather Ausschau.

Als wir noch klein waren, haben wir meistens auf dem Weg nach oben Verstecken oder Fangen gespielt. Heather ist es vermutlich nie aufgefallen, doch sie hat jedes Mal dieselben Verstecke gewählt: Dicke Baumstämme, Rosenbüsche und den Graben, der sich an der rechten Seite parallel zu dem Wanderweg erstreckt.

Irgendwie ist es merkwürdig, den Weg heute wie eine normale Bergsteigerin entlangzuwandern.

Wieder einmal wird mir bewusst, wie sehr ich Heather vermisse. Obwohl sie mir in jeder einzelnen Sekunde fehlt, habe ich das Gefühl, dass meine Trauer an unseren gemeinsamen Lieblingsorten mindestens doppelt so schlimm ist.

„Alles gut?", reißt mich Lens besorgte Stimme plötzlich aus meinen Gedanken in die Realität zurück. Ich habe gar nicht mitbekommen, dass ich stehengeblieben und einen verwelkten Rosenbusch ins Visier genommen habe.

Anders als noch vor einigen Jahren befindet sich keine kichernde Heather hinter dem Gewächs.

„J-Ja", versuche ich Len mit einer Notlüge zu beruhigen. „Ich war nur in Gedanken. Entschuldige."

Lens Blick verrät mir, dass er mir nicht glaubt. Er weiß ganz genau, dass mich die Erinnerungen an meine Schwester in einen dunklen Schleier der Sehnsucht hüllen.

Weil ich Angst davor habe, zum wiederholten Male vor Len in Tränen auszubrechen und mich meinem Schmerz vollends hinzugeben, möchte ich schnell das Thema wechseln. Blöderweise ist mein Kopf aber wie leergefegt, sodass ich mich suchend umschaue.

Erst als mein Blick an Lens tätowierten Unterarmen hängenbleibt, atme ich erleichtert auf.

„Haben deine Tattoos eigentlich alle eine Bedeutung für dich?", erkundige ich mich neugierig bei Len.

Um ehrlich zu sein habe ich mir seine Tattoos noch nie aus der Nähe angeschaut. Jetzt, wo ich bewusst auf die Verzierungen achte, erkenne ich hauptsächlich Linien, Schnörkel und mystische Schriftzeichen. Ein gebrochenes Herz und eine dunkle Gestalt kann ich ebenfalls ausmachen.

„Nein." Es ist nur ein einziges Wort und dennoch besitzt es die Kraft, mir eine eisige Gänsehaut über das Rückgrat tanzen zu lassen. „Du musst wissen, dass die Zeit im Kinderheim alles andere als einfach für mich war, Piper."

Len richtet seine Augen auf mich und gewährt mir somit Einblick in seine Seele. Was ich sehe, ist ein verletzter kleiner Junge, der nie die Möglichkeit hatte, mit seiner Vergangenheit abzuschließen.

„Dove, Chester, Marc, Tommy, Devin, Will, Kimberly und ich - also die Shadows - waren damals Außenseiter im Kinderheim. Wir haben uns nicht getraut, uns gegen die Älteren aufzulehnen und uns stattdessen von ihnen wie leblose Puppen herumschubsen lassen", beginnt Len mit zittriger Stimme zu erzählen. „Ein Junge war mit Abstand am schlimmsten. Sein Name ist Frederic."

Len macht eine kurze Pause. Obwohl er noch nicht viel gesagt hat, ist sein ganzer Körper angespannt.

„Frederic war fünf Jahre älter als wir und hatte ein Aggressionsproblem. Für ihn war es keine Seltenheit, andere Kinder zu verprügeln."

Entsetzt halte ich die Luft an.

Ich kann nicht glauben, dass Lens Mutter scheinbar nicht der dunkelste Dämon seiner Vergangenheit ist.

„Die Heimleiter haben jedes Mal weggeschaut, wenn ein Kind blaue Flecken oder ein Veilchen unter dem Auge hatte. Ich habe echt keine Ahnung, warum sie Frederic nicht gestoppt haben. Vielleicht, weil sie selbst Angst vor ihm hatten."

Ich merke, wie Len zu zittern beginnt. Am liebsten würde ich ihn in meine Arme schließen und nie wieder loslassen, aber stattdessen greife ich zögerlich nach seiner Hand. Vorsichtig verflechte ich unsere Finger miteinander und streichele dann möglichst beruhigend über seinen Handrücken.

Ein paar Sekunden schaut Len wie hypnotisiert auf unsere verschlungenen Hände, ehe er seine Erzählung fortsetzt.

„Irgendwann hat Frederic Gefallen daran gefunden, uns Außenseiter zu schikanieren. Indem er uns wehgetan hat, hat er sich erhofft, dass wir zu seinen Marionetten werden und die Drecksarbeit für ihn erledigen. Anfangs hat er uns nur verprügelt - ja, auch die Mädchen - aber als ihm das nicht mehr gereicht hat, hat er uns mit Scherben, Scheren oder Messerklingen Verletzungen zugefügt."

Erneut muss ich scharf die Luft einziehen, weil ich nicht fassen kann, was ich da gerade höre.

Wie konnte solch ein Monster nicht gestoppt werden?

„Meine ganzen Arme sind mit Narben übersäht." Im Einklang mit seinen Worten führt Len meine Hand zu seinem Unterarm, damit ich über seine Haut streichen kann. Sobald ich die ersten Wölbungen spüre, bilden sich Tränen in meinen Augen. „Die Tattoos haben keine Bedeutung für mich. Sie sollen einfach nur den wohl schlimmsten Teil meiner Vergangenheit verstecken."

Das ist grausam. Etwas anderes fällt mir dazu nicht ein.

Hätte ich von Anfang an gewusst, welchem Schicksal die Shadows ausgesetzt waren, hätte ich niemals über sie geurteilt. Auch wenn Drogen und Alkohol der falsche Weg sind, kann ich jetzt zumindest ein bisschen nachvollziehen, warum sie sich ausgerechnet für diesen Pfad entschieden haben.

„Frederic hat uns als Shadows zusammengeschweißt. Fast zwei Jahre lang haben wir seine Schikanen über uns ergehen lassen, bis wir uns gegen ihn verbündet haben. Seitdem sind die Shadows meine Familie."

Eine schauernde Gänsehaut kriecht über meine Wirbelsäule. Auch wenn es nicht meine Vergangenheit ist, über die Len gesprochen hat, kostet es mich all meine Kraft, meine Tränen zurückzuhalten.

Ich kann mir nicht einmal annähernd vorstellen, wie viel Schmerz und Leid Len damals erfahren haben muss. Dass er trotzdem so ein gutes Herz hat, grenzt meiner Meinung nach an ein Wunder.

Da ich mir unsicher bin, inwiefern ich auf Lens Traumata eingehen sollte oder nicht, entscheide ich mich dazu, das Thema auf einen anderen Shadow zu lenken. „Dove ...", murmele ich leise. „Wie geht es ihr?"

Sichtlich überrascht dreht Len seinen Kopf zu mir. Scheinbar hat er nicht mit dieser Frage gerechnet.

„Hör zu, Piper, ich weiß, dass du Dove aus deiner Kindheit kennst, aber sie ist jetzt ein ganz anderer Mensch", versucht mir Len zu erklären. „Dove hat mir von dir erzählt. Du erinnerst sie an ihr altes perfektes Leben, das nie wieder zurückkommen wird. Deshalb meidet sie dich auch. Nicht, weil sie dich nicht mag, sondern weil du alte Wunden in ihrem Herzen aufreißen lässt."

Ich schlucke schwer.

Dove hat mal zu den wichtigsten Menschen in meinem Leben gezählt. Nun zu hören, dass ich Kummer und Schmerz in ihr auslöse, tut weh.

„Du musst Dove gehen lassen. Sie möchte es so!"

Bei diesen Worten kann ich meine Tränen nicht länger zurückhalten. Sie strömen unaufhaltsam über meine Wangen und bringen mein Herz dazu, in Millionen kleine Splitter zu zerfallen.

Ich verstehe das nicht. Dove hatte liebevolle Eltern. Wie konnte es passieren, dass sie im Kinderheim gelandet ist und dort von einem Jungen namens Frederic schikaniert wurde?

Ich brauche Antworten! Dringend!

„W-Was ist mit Do-Doves Eltern?", bringe ich zwischen mehreren Schluchzern hervor.

„Dove und ihre Eltern sind damals umgezogen, weil ihr Vater eine neue Arbeitsstelle angenommen hat. Nach nur zwei Monaten sind ihre Eltern bei einem Brand ums Leben gekommen. Wohlbemerkt bei dem Versuch, Dove aus ihrem Kinderzimmer zu retten", sagt Len mit bedrückter Stimme. „Da Dove bei keinen Verwandten unterkommen konnte, musste sie ins Heim. Sie hat uns, die Shadows, komplettiert."

Es prasseln gerade so viele neue Informationen auf mich nieder, dass ich mich kurz auf den Boden hocken muss, um nicht wie ein Kartenhaus in mir zusammenzufallen.

Ich dachte immer, dass Heathers Schicksalsschlag schlimm wäre, aber offenbar gibt es auch noch andere Menschen, die täglich durch die Hölle gehen mussten.

Menschen, die das nicht verdient haben.

Mehrere Minuten, in denen ich meinen Tränen freien Lauf lasse, streichen an mir vorbei. Irgendwann fühle ich mich endlich wieder stark genug, meine Wangen zu trocknen und gemeinsam mit Len den Rest des Berges zu erklimmen.

Auch wenn wir kein Wort mehr miteinander wechseln, bin ich froh, Len an meiner Seite zu haben.

Nach ungefähr zwei Stunden haben wir unser Ziel, den Berggipfel, erreicht. Eigentlich möchte ich sofort zu dem kleinen Gasthaus stürmen, doch Len hält mich vorsichtig am Handgelenk zurück.

„Piper?"

Ich schaue den Shadow mit rasendem Herzen und kribbelnden Venen an.

„Ganz egal, was gleich passiert: Ich werde immer für dich da sein und dir helfen, wo ich nur kann. Deinetwegen habe ich in den letzten Tagen deutlich weniger Alkohol konsumiert und das ist ein echt schönes Gefühl. Sobald wir Heather gefunden haben, werde ich einen Entzug machen. Dank dir weiß ich jetzt, dass ich stark genug bin, um Hilfe anzunehmen."

Vollkommen überrumpelt von Lens Worten weiß ich nicht, was ich darauf erwidern soll. Es freut mich natürlich, dass ich ihm mit seinem Alkoholproblem helfen kann, aber um ehrlich zu sein kreisen meine Gedanken gerade ausschließlich um Heather.

Vielleicht ist sie nur wenige Meter entfernt von mir und hockt grinsend in der kleinen Hütte.

Ich muss unbedingt nachschauen, ob sie hier ist.

Len scheint meine innere Unruhe zu spüren, denn er greift nach meiner Hand, lächelt mich aufmunternd an und sagt dann: „Lass uns Heather endlich nach Hause bringen!"

Das muss er mir nicht zweimal sagen.

Mit schnellen Schritten eile ich zu dem Gasthaus, reiße die Eingangstür auf und schaue mich danach in dem gut besuchten Saal um.

Männer, Frauen und Kinder hocken auf Holzbänken und unterhalten sich angeregt miteinander. Der Geruch von frischem Kaiserschmarren liegt in der Luft und vermischt sich mit den leisen Musiktönen zu einer Einheit des Glücks.

Auch wenn ich diesen friedlichen Moment gerne länger genießen würde, steuere ich zielstrebig einen Tisch in einer kleinen Nische an. Falls Heather tatsächlich hier sein sollte, dann sitzt sie bestimmt an unserem Lieblingsplatz.

Je näher ich dem Tisch komme, umso schneller schlägt mein Herz. Kalter Schweiß bildet sich auf meiner Stirn, mein Körper verkrampft sich und meine Hände beginnen zu zittern.

Als ich dann auch noch eine junge Frau mit kurzen schwarzen Haaren entdecke, die auf Heathers und meinem Stammplatz sitzt, überwältigen mich meine Emotionen so sehr, dass ich nicht mehr denken kann.

„Heather!", schreie ich unter Tränen, während ich die letzten Meter zu dem Tisch sprinte. „Heather! Ich bin hier!"

Die Frau dreht sich um. Ihre Augen sind geweitet und mit Verständnislosigkeit gefüllt. Der eiskalte Blick trifft mich wie ein Messer im Herzen.

„Nein ..."

Ich sacke in mir zusammen und gleite zu Boden. Mein Herz zerschellt nur wenige Zentimeter neben mir auf dem Parkett.

Das ist nicht Heather.

Meine Schwester ist nicht hier.

Sie ist weg.

Vielleicht sogar für immer ...

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