13 - Von Pizzen und Unwettern
Als Len das Auto auf dem Wanderparkplatz zum Stehen bringt, werde ich von einer inneren Unruhe heimgesucht. Mein Herz schlägt mehrere Salti, meine Atmung beschleunigt sich und meine Hände beginnen wie Espenlaub zu zittern.
Ich gebe es nicht gerne zu, aber ich habe Angst. Angst davor, dass wir Heather auch hier nicht finden werden.
Mit jedem Tag, der verstreicht und an dem meine Schwester nicht zu mir zurückkehrt, schwindet gleichzeitig meine Hoffnung, sie jemals wiederzusehen.
Mir ist bewusst, dass ich positive und optimistische Gedanken verfolgen sollte, aber stattdessen spielen sich täglich Sequenzen von einer toten Heather, die irgendwo außerhalb von Black County in einem Straßengraben gefunden wird, vor meinem inneren Auge ab.
Da ich merke, wie sich die ersten Tränen einen Weg an die Freiheit erkämpfen wollen, schnalle ich mich schnell ab und steige dann aus dem Wagen. Sofort werde ich von einem kühlen Windzug umhüllt, der mein Herz zu Eis gefrieren lässt.
Wie gut, dass ich heute so schlau war und eine Jacke mitgenommen habe – wobei ich natürlich auch nichts gegen Lens Jeansjacke einzuwenden hätte ...
„Und? Erkennst du etwas wieder?" Len stellt sich neben mich und schaut mich neugierig von der Seite an. Auch wenn es verrückt klingt, habe ich das Gefühl, dass sich seine verschiedenfarbigen Iriden durch die Eisschicht in meinem Herzen bohren und diese schmelzen lassen.
Len tut mir gut. Das spüre ich. Erneut.
Am liebsten würde ich meinen Kopf nach rechts drehen, um in Lens Augen zu ertrinken, doch stattdessen zwinge ich mich dazu, ihm zu antworten. „Ja", murmele ich leise. „Es ist genauso wie früher."
Dass Heather und ich erst im vergangenen Herbst hier waren, behalte ich für mich.
„Der quietschgelbe Mülleimer ... Der Schotterparkplatz, der mehr als nur einen Kratzer in dem Auto meiner Erzeuger hinterlassen hat ... Und der schmale Pfad, der geradewegs auf den Gipfel des Berges führt ... Nichts hat sich verändert."
An diesem Ort haben Heather und ich viele schöne Stunden miteinander verbracht. Jedes Mal, wenn wir hier sind, habe ich das Gefühl, als würden wir in die Vergangenheit reisen und könnten Heathers Erkrankung ungeschehen machen.
Leider ist das aber bloß ein Gefühl und nicht die Realität ...
Begleitet von einem bitteren Beigeschmack, der sich wie ein Lauffeuer auf meiner Zunge ausbreitet, gehe ich auf den quietschgelben Mülleimer zu. Ein paar Sekunden lasse ich meinen Blick über das verbogene Blech schweifen, bis ich ein kleines Herz, in dem sich ein Für-immer-Zeichen befindet, entdecke.
Automatisch schleicht sich ein Lächeln auf meine Lippen, denn dieses Symbol ist wie Balsam für meine Seele.
„Als Heather und ich noch klein waren, haben wir dieses Herz auf den Mülleimer gemalt", erzähle ich Len, der mir gefolgt ist. „Unsere Erzeuger haben uns eigentlich verboten, den Mülleimer zu verunstalten, aber wir haben es trotzdem heimlich gemacht. Wir mussten uns ja schließlich an unserem Lieblingsort verewigen."
Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Len nickt. Ebenso wie ich muss auch er lächeln.
„Eine schöne Idee", grinst er mich wenig später an. „Wenn wir Heather gefunden haben, dann-"
Ein lautes Donnergrollen übertönt Lens Stimme und lässt ihn innehalten.
Synchron wandern unsere Blicke zum Himmelszelt. Schwarze Wolken schmücken den Horizont und brauen sich direkt über unseren Köpfen zu einer Einheit des Grauens zusammen. In der Ferne durchschneiden Blitze die Dämmerung, die von lauten Himmelsexplosionen begleitet werden.
Das gibt es doch nicht!
Ich möchte gerade den Wettergott für sein mieses Timing verfluchen, da prasseln auch schon dicke Regentropfen, die sich binnen eines einzigen Herzschlages in Hagelkörner verwandeln, auf mich nieder.
Nein, nein, nein! Das ist ein schlechter Scherz, oder?!
Vor lauter Frustration stampfe ich einmal wütend auf den Boden. Dass sich die Hagelkörner währenddessen wie Messerstiche in meine Haut bohren, versuche ich zu ignorieren.
Im Gegensatz zu mir scheint Len weniger Erfolg damit zu haben, die weißen Körner auszublenden, denn er greift nach meinem Handgelenk und zieht mich danach in die Richtung seines Autos. „Komm schon, Piper! Wir müssen uns unterstellen!"
Widerwillig folge ich Len durch das Unwetter. Hagel, Blitze, Donner und Windböen verfolgen uns so lange, bis wir schließlich außer Atem in Lens dunkelblauem Golf sitzen.
„Oh man ..." Der Shadow schüttelt sich einmal vor Kälte. „Wir hätten uns vorher den Wetterbericht durchlesen sollen."
Obwohl ich weiß, dass Len bloß versucht, die angespannte Stimmung zwischen uns aufzulockern, bleibt mein verärgerter Gesichtsausdruck bestehen.
Ich kann nicht glauben, dass das Wetter ausgerechnet heute einem Weltuntergangsszenario aus einem Actionfilm Konkurrenz leisten muss.
Mehrere Minuten, in denen Len und ich schweigend in seinem Auto hocken und uns aufwärmen, streichen an uns vorbei. Innerlich habe ich die Hoffnung, dass das Unwetter jeden Moment verschwindet, aber leider trifft das Gegenteil zu: Es wird immer schlimmer.
Die Hagelkörner haben mittlerweile die Größe von Tischtennisbällen angenommen und der Wind heult so laut wie eine Polizeisirene. Hinzu kommt das Donnergrollen, das sich anhört, als würde unmittelbar neben uns eine Bombe explodieren.
So langsam verstehe ich immer mehr, was die Menschen mit dem Spruch „Der April macht, was er will" meinen ...
„Es tut mir echt leid, Piper, aber bei diesen Wetterbedingungen können wir unmöglich den Berg erklimmen", traut sich Len nach einer Weile das auszusprechen, was ich mir bereits gedacht habe.
Auch wenn mir bewusst ist, dass Len Recht hat, lösen sich vereinzelte Tränen der Enttäuschung aus meinen Augen.
Was, wenn Heather irgendwo auf dem Wanderweg ist und in Gefahr schwebt? Bei diesem Unwetter können schneller Unfälle passieren, als man denkt.
Im Einklang mit dem rasenden Karussell, dass sich nonstop in meinem Kopf dreht, wird mein Herz schwer wie Blei. Zusätzlich kämpft sich die Angst einen Weg zurück in meinen Körper.
Ich darf jetzt nicht dem Pessimismus zum Opfer fallen. Ich muss daran glauben, dass sich Heather in der kleinen Hütte auf dem Berggipfel in Sicherheit gebracht hat.
Ich bin so sehr in meinen Gedanken vertieft, dass ich zusammenzucke, als ich plötzlich Lens warme Finger an meinen Wangen spüre. Zärtlich wischt er mir die Tränen von der Haut und schenkt mir danach ein aufmunterndes Lächeln.
„Alles wird gut, Piper", haucht er so leise, dass sich seine Stimme in dem Unwetter verliert. „Am besten übernachten wir heute hier und suchen dann morgen früh nach deiner Schwester, okay?"
Morgen früh?
Ich halte inne. Morgen ist Mittwoch. Ein ganz normaler Wochentag, an dem ich mehrere Vorlesungen und Seminare in der Uni besuchen muss.
Ich kann dort doch nicht einfach fehlen, oder?
In den zwei Jahren, in denen ich nun schon Grundschullehramt studiere, habe ich noch keine einzige Veranstaltung verpasst. Selbst mit Fieber und einer Magendarmerkrankung habe ich mich jedes Mal in die Universität geschleppt.
Ich bin abhängig von meinem Stipendium und kann es mir nicht erlauben, dieses zu verlieren.
Len scheint zu bemerken, dass ich innerlich einen Kampf ausfechte, denn er fügt hinzu: „Wir können in meinem Auto schlafen. Glaub mir, Jeff ist bequemer, als er aussieht. Wenn ich die Rücksitze umklappe, haben wir beide genug Platz. Im Kofferraum sind noch Kissen und zwei Decken."
Bei Lens Worten wandelt sich mein Unbehagen zu Überraschung.
Ob er wohl schon öfter in seinem Auto geschlafen hat?
Ohne meine Frage laut aussprechen zu müssen, gibt mir Len einen Herzschlag später eine Antwort darauf. „Als mich meine Erzeugerin damals aus dem Kinderheim geholt hat, habe ich Devin von ihrem Alkoholproblem erzählt. Er hat mir dann irgendwann Jeff geschenkt, um mir einen Rückzugsort zu bieten. Seitdem habe ich schon ziemlich oft hier geschlafen. Eigentlich immer dann, wenn meine Erzeugerin und ihr Lebensgefährte so viel Alkohol getrunken haben, dass sie nicht mehr Herr ihrer Sinne waren."
Direkt wird eine Flamme des Mitleids in meinem Körper entfacht.
Len hatte keine einfache Vergangenheit. Niemand sollte in einem Auto schlafen müssen, nur weil die eigene Mutter mal wieder zu tief ins Glas geschaut hat.
Es tut mir furchtbar leid, dass es für Len zur Normalität geworden ist, sein Bett gegen umgeklappte Rücksitze einzutauschen.
Ob sein Leben wohl eine andere Richtung eingeschlagen hätte, wenn seine Mutter keine Alkoholikerin wäre?
Vermutlich schon ...
Meine Gedanken springen von Lens Mutter zu Devin über. Es verwundert mich ehrlich gesagt, dass er Len ein Auto geschenkt und sich scheinbar Sorgen um ihn gemacht hat.
Mike hat vor einigen Tagen behauptet, dass Devin gefährlich sei, und ich glaube ihm.
Ob die Shadows also wirklich Devins Schwachpunkt sind?
Statt eine Antwort auf diese Frage zu erlangen, bleiben meine Gedanken bei Mike und Josie haften.
Ohne es verhindern zu können, meldet sich mein schlechtes Gewissen zu Wort.
Eigentlich wollte ich Mike und Josie heute mit zwei kaltgestellten Bierflaschen in ihrer Wohnung empfangen, aber leider werde ich unser Wiedersehen vertagen müssen. Hoffentlich sind sie nicht allzu enttäuscht, wenn sie aus dem Krankenhaus zurückkehren und ich nicht zu Hause bin.
„Ich kann verstehen, dass du deine Zweifel hast, mit mir auf engstem Raum zu übernachten, aber ich habe wirklich keine bösen Absichten, Piper", durchbricht Lens Stimme wie ein Vorschlaghammer die Mauer meiner Gedanken. Wie es scheint, hat er mein Schweigen falsch interpretiert und als Angst gedeutet. „Wenn du möchtest, kann ich auch auf dem Fahrersitz schlafen. Ich würde alles tun, damit es dir gutgeht und damit du dich in meiner Gegenwart wohlfühlst."
Mein Herz schwillt an und wird von angenehmer Wärme umhüllt. Außerdem spüre ich, wie sich ein Schleier aus Sicherheit und Geborgenheit über meine Gestalt legt.
Len möchte mir helfen und das weiß ich sehr zu schätzen. Es ist nämlich nicht selbstverständlich, dass er zwei Stunden zu einem Berg mit mir fährt und dann auch noch anbietet, unsere Suche aufgrund des Wetters auf den kommenden Morgen zu verschieben.
„Danke!" Ich versuche all meine Dankbarkeit in dieses eine Wort zu legen. „Du glaubst gar nicht, was für eine große Hilfe du mir bist, Len."
Da sind noch so viel mehr Dinge, die ich meinem Gegenüber gerne sagen würde, doch ich traue mich nicht. Über Gefühle zu sprechen, ist mir noch nie leichtgefallen.
„Schon gut", winkt Len mit hochroten Wangen ab. „Was hältst du davon, wenn wir in den Nachbarort fahren und uns dort eine Pizza holen? Auf dem Hinweg habe ich dort einen kleinen Italiener gesehen. Danach mache ich dann Jeff für die Nacht startklar."
Mehr als ein Nicken bringe ich nicht zustande, denn ich bin mal wieder überrascht, wie fürsorglich Len ist.
Die Fahrt in den Nachbarort dauert wegen des Unwetters eine halbe Stunde länger als gewöhnlich. Sobald Len den Wagen auf einem Parkplatz abstellt, sprinten wir durch den Regen zu der Pizzeria und wärmen uns im Inneren auf, während wir auf unsere Bestellung warten.
Weil Len unser Essen schon beim letzten Mal bezahlt hat, bestehe ich darauf, die Kosten für die Pizzen zu übernehmen. Zum Glück startet der Shadow keine Diskussion und lässt mich zahlen.
Nachdem wir die Pizzen aufgegessen haben, fahren wir zurück zu dem Wanderparkplatz. Wie besprochen klappt Len die Rücksitze um und bereitet unser Nachtlager vor. Da die Decken sehr dünn sind und es draußen kalt ist, rutsche ich möglichst nah zu Len.
Auch wenn sich unsere Körper nicht berühren – das traue ich mich nicht – springt seine Wärme unmittelbar auf mich über.
Ich bin nervös und erwische mich ständig dabei, wie ich zu Len hinüberluge. Im Gegensatz zu mir hat er seine Lider geschlossen und wirkt relativ entspannt.
Es ist merkwürdig, dass ich Len erst seit ein paar Tagen kenne, mich in seiner Gegenwart allerdings pudelwohl fühle. Er zeigt mir, dass ich ihm vertrauen kann, und das tue ich auch.
Fast sogar blind.
„Len?", durchbricht meine zittrige Stimme irgendwann das Schweigen.
Draußen ist es schon dunkel. Noch immer treibt das Unwetter sein Unwesen und bringt das Auto ab und zu zum Schwanken.
Als Len nach einigen Sekunden nicht antwortet, denke ich, dass er bereits schläft, doch dann gibt er ein müdes „Hm?" von sich.
Direkt beschleunigt sich mein Herzschlag und meine Gedanken fahren Achterbahn. Blitze aus Kälte zucken durch meine Blutbahnen und verwandeln meinen Körper in einen Eisklotz.
Einerseits habe ich Angst davor, Len meine Frage zu stellen, aber andererseits sehne ich mich nach Gewissheit.
Mehrere hektische Atemzüge flattern noch wie winzige Schmetterlinge aus meinem Mund, ehe ich all meinen Mut zusammennehme und wissen möchte: „Warum hilfst du mir eigentlich?"
Lens Antwort lässt nicht lange auf sich warten. „Am Anfang wollte ich mich bloß bei dir revanchieren, aber mittlerweile helfe ich dir, weil ich sehr gerne meine Zeit mit dir verbringe, Piper. Du bist eine starke junge Frau, die ebenso wie ich immer wieder von ihrer Vergangenheit eingeholt wird. Keine Ahnung, ob das kitschig klingt, aber vielleicht schaffen wir es ja, uns gegenseitig zu heilen."
Ich bin sprachlos, denn mit so einer Antwort habe ich nicht gerechnet.
Es ist schön, zu hören, dass Len meine Anwesenheit genießt, schließlich ergeht es mir genauso.
Len ist seit einer gefühlten Ewigkeit der einzige Mensch, der mir neben Heather etwas bedeutet.
Vermutlich wäre das der perfekte Zeitpunkt, um Len zu sagen, dass ich ihn auch sehr gerne in meiner Nähe habe, aber stattdessen murmele ich leise: „Fühl dich bitte nicht dazu gezwungen, mir zu helfen, okay? Du bist mir nichts schuldig, Len. Außerdem hast du bestimmt auch noch andere Dinge zu tun, als meinen persönlichen Chauffeur zu spielen."
Daraufhin ist es ein paar Sekunden mucksmäuschenstill in dem Auto. Ich höre Lens Seufzen, bevor er sein Gesicht plötzlich in meine Richtung dreht, sodass sich unsere Nasenspitzen ganz leicht berühren. Trotz der Finsternis, die uns umgibt, erkenne ich seine funkelnden Augen, die sich wie Edelsteine auf meiner Seele festbrennen.
Lens Blick ist so intensiv, dass ich die Luft anhalte.
In diesem Moment wird mir zum ersten Mal bewusst, dass ich Len nie wieder aus meinem Leben gehen lassen möchte. Ich brauche ihn wie die Luft zum Atmen, denn er gibt mir Halt und Stärke. Ohne ihn fühle ich mich nicht mehr wie ich selbst.
„Du bist das Licht und ich bin die Dunkelheit. Dass wir voneinander abhängig sind, ist dir bewusst, oder?"
Lens Atem kriecht schauernd über meine Lippen. In Kombination mit seinem eindringlichen Blick schaffe ich es bloß, schwach zu nicken.
Wir sind voneinander abhängig. Nicht wie ein Süchtiger von seinen Drogen, sondern wie der Tag von der Nacht.
Und ganz ehrlich?
Das gefällt mir.
„Wir sollten jetzt schlafen", wispert Len wenige Sekunden später. „Träum süß, Piper." Kaum sind diese Worte verklungen, beugt sich Len noch weiter zu mir hinüber und haucht mir einen federleichten Kuss auf die Stirn.
Damit ist es endgültig: Ich habe soeben einen großen Teil meines Herzens an Len Forster verloren.
Bleibt nur noch abzuwarten, ob er diesen Teil in Ehren halten oder mit Füßen treten wird ...
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