12 - Von Dates und Kinderheimen
Am nächsten Tag kann ich es kaum erwarten, aus der Unibibliothek zu stürmen und den Skatepark aufzusuchen.
Auch wenn Len und ich meine Schwester gestern nicht bei dem Ferienhaus finden konnten, gebe ich die Hoffnung nicht auf. Ich bin mir sicher, dass mich das Band unserer Liebe früher oder später zu Heather führen wird.
Sobald ich aus dem alten Universitätsgebäude trete, werde ich von Nieselregen und Windböen in Empfang genommen. Schnell setze ich meine Kapuze auf und eile dann mit flinken Schritten in Richtung Skatepark.
Len hat mir versprochen, heute zu dem Berg zu fahren, den Heather so gerne mag.
Vielleicht klingt es verrückt, doch Len ist in dieser dunklen Zeit mein einziger Lichtschimmer. Nur seinetwegen bin ich noch nicht wie ein Kartenhaus in mir zusammengefallen.
Am liebsten wäre ich schon in den frühen Morgenstunden zu dem Berg aufgebrochen, allerdings kann ich mein Studium nicht vernachlässigen. Da ich auf mein Stipendium angewiesen bin, muss ich zumindest meine Pflichtveranstaltungen besuchen.
Ich habe gerade den Eingang des Skateparks erreicht, als plötzlich eine japsende Männerstimme hinter mir ertönt.
„Piper! Warte mal kurz!"
Oh nein, bitte nicht ...
Wie schon vor einigen Tagen eilt mir Alex hinterher und sucht das Gespräch mit mir. Dass ich überhaupt keine Zeit und Lust darauf habe, mich mit ihm zu unterhalten, scheint ihm egal zu sein.
Vermutlich sollte ich Alex' Ruf ignorieren, doch mein schlechtes Gewissen zwingt mich zum Stehenbleiben. Langsam drehe ich mich um und warte dann darauf, bis Alex bei mir angekommen ist.
Seine Wangen sind gerötet und einzelne Schweißperlen vermischen sich mit den Regentropfen auf seiner Stirn.
Wenn mich nicht alles täuscht, ist mir Alex nachgelaufen. Oder eher gesagt nachgesprintet.
„Hey Piper", begrüßt er mich eine Sekunde später außer Atem. „Erinnerst du dich noch an dein Versprechen?"
Im ersten Moment bin ich so überrumpelt von dieser Frage, dass ich mit dem Kopf schüttele. Noch bevor Alex weitersprechen kann, lichtet sich jedoch der Nebel in meinem Gedächtnis.
Ich habe Alex versprochen, ein Gespräch mit ihm zu führen. Unter vier Augen. An einem ruhigen Ort.
Wahrscheinlich möchte er dieses Versprechen genau jetzt in die Tat umsetzen.
„Es tut mir wirklich furchtbar leid, Alex, aber gerade ist ein schlechter Zeitpunkt", versuche ich mich bei meinem Kommilitonen zu entschuldigen. „Lass uns doch einfach morgen in der Mittagspause reden, okay? Dann habe ich auf jeden Fall Zeit für dich."
Es zerreißt mir das Herz, Alex' enttäuschten Blick zu sehen. Er bemüht sich zwar, seine selbstbewusste Fassade nicht bröckeln zu lassen, doch ich erkenne einen Funken der Trauer in seinen Augen.
Einerseits habe ich Mitleid mit Alex, weil ich ihn immer wieder versetze, aber andererseits muss ich pausenlos an Len und Heather denken.
Ganz egal, wie egoistisch es klingt: Meine Schwester hat Vorrang!
„Nein!", zerschneidet Alex' Stimme auf einmal wie eine Schwertklinge meine Gedanken. „So lange kann ich nicht mehr warten. Ich werde dir meine Frage einfach jetzt stellen, sonst platze ich noch."
Ohne es verhindern zu können schießt mein Herzschlag wie bei einer Achterbahnfahrt in die Höhe. Ich merke, wie ich mich anspanne und gleichzeitig zu zittern beginne.
Hoffentlich hat Alex bloß eine Frage zu irgendwelchen Lehrinhalten ...
Dass mein Gedanke total naiv ist, wird mir keine fünf Sekunden später verdeutlicht.
„Würdest du mal mit mir ausgehen, Piper?"
Alex' Worte schlagen wie eine Bombe in meinem Körper ein und entfachen ein Feuer der Fassungslosigkeit auf meiner Seele. Meine Augen weiten sich, mein Mund klappt auf und ich halte vor lauter Entsetzen die Luft an.
Habe ich mich etwa verhört oder möchte Alex tatsächlich mit mir ausgehen?!
Ein Blick in seine leuchtenden Augen genügt, um zu wissen, dass mir meine Ohren leider keinen Streich gespielt haben.
Oh Gott ... Was soll ich denn jetzt machen? Ich hatte überhaupt keine Ahnung, dass Alex mehr als nur eine Kommilitonin in mir sieht.
Verdammt!
Am liebsten würde ich mir die Haare raufen, doch ich schaffe es gerade noch so, meine Arme neben meinem Körper baumeln zu lassen.
Ich kann nicht mit Alex ausgehen. Auf keinen Fall!
Aber wird mein Gewissen es verkraften können, einen anderen Menschen zu verletzen? Vermutlich nicht!
Ich bin in einer Zwickmühle gefangen. Egal, wie ich das Blatt wende und drehe: Es gibt keinen Ausweg.
Während Alex geduldig auf meine Antwort wartet, überlege ich fieberhaft, wie ich auf seine Frage reagieren soll.
Ich möchte dem Date gerade zustimmen – verflucht sei mein schlechtes Gewissen – da taucht plötzlich Len wie aus dem Nichts vor mir auf.
„Hey Piper", strahlt er mich fröhlich an. Alex schenkt er keine Beachtung. „Da bist du ja endlich. Ich dachte schon, ich müsste einen Suchtrupp losschicken."
Len grinst und ich erwidere es.
In diesem Moment bin ich so unfassbar dankbar, dass er mir wieder einmal zur Rettung eilt – wenn auch unbewusst. Seinetwegen werde ich nämlich vorerst verschont, Alex eine Antwort auf seine Date-Frage geben zu müssen.
„Wollen wir dann los?" Len schaut mir tief in die Augen. So tief, dass sich ein angenehmes Kribbeln unter meinem Herzen entfacht.
Seit gestern hat sich etwas zwischen uns verändert.
Ich weiß jetzt zu 100 Prozent, dass ich Len vertrauen kann und dass er ein guter Mensch ist. Ich verbringe gerne Zeit mit ihm und bin froh, dass er mir bei der Suche nach Heather zur Seite steht.
Es war die richtige Entscheidung, Len in mein Leben eintauchen zu lassen.
„Sorry, Mann, aber Piper und ich unterhalten uns gerade", faucht Alex Len verärgert an. Wie auch schon bei ihrem ersten Aufeinandertreffen bedenkt Alex den Shadow permanent mit abfälligen Blicken. „Außerdem bezweifele ich, dass eine Frau wie Piper ihre Zeit freiwillig mit einem Loser wie dir verbringen würde!"
Sofort krampft sich mein Magen unangenehm zusammen, denn ich habe Angst, dass Len Alex glauben könnte.
Zum Glück scheint er das aber nicht zu tun, denn Len erwidert selbstbewusst: „Soweit ich weiß, sind Piper und ich um 16 Uhr verabredet. Da es schon kurz nach vier ist, müssen wir jetzt echt los, Mann. Scheint so, als würde Piper ihre Zeit lieber mit einem Loser, statt einem abgehobenen Arschloch verbringen."
Oh je ... Mit dieser Wortwahl heizt Len bloß die Wut in Alex' Herzen weiter an. Hoffentlich bespringen sich die beiden Männer gleich nicht wie wilde Raubkatzen, um einander die Augen auszubeißen.
Da weder Len noch Alex Anstalten machen, ihre bedrohlichen Blicke fallen zu lassen, greife ich vorsichtig nach Lens Hand. Dann sage ich an Alex gewandt: „Tut mir leid, aber die Zeit drängt. Wir sehen uns in der Uni, Alex."
Auch wenn es mir unheimlich schwerfällt, so unfreundlich zu sein, ziehe ich Len von Alex weg. Einerseits möchte ich nicht länger von Alex' Argusaugen durchbohrt werden und andererseits habe ich Angst, dass sich Len und Alex tatsächlich zu einer Schlägerei hinreißen lassen könnten.
Ohne nochmal zurückzuschauen, laufen Len und ich zur Hauptstraße, wo sein dunkelblauer Golf bereits auf uns wartet. Sobald Len sein Auto aufgeschlossen hat, nehme ich erschöpft auf dem Beifahrersitz Platz.
Es fällt mir schwer, zu realisieren, was gerade passiert ist.
Alex hat mich nach einem Date gefragt, verdammt! Wäre Len nicht rechtzeitig aufgetaucht, hätte ich aus Mitleid sogar zugesagt.
Oh man ... Ich muss unbedingt lernen, meine eigene Meinung zu vertreten und es nicht immer meinen Mitmenschen recht machen zu wollen.
Leider ist das einfacher gesagt als getan.
Ein paar Minuten sitzen wir schweigend im Auto, ehe Len leise murmelt: „Hoffentlich ist dieser Idiot nicht dein Freund."
Direkt weiß ich, dass die Rede von Alex ist.
„Alex studiert genauso wie ich Grundschullehramt", seufze ich. „Er ist bloß mein Kommilitone."
„Ein äußerst ätzender Kommilitone", verbessert mich Len, woraufhin wir beide schmunzeln müssen.
Glücklicherweise lassen wir das Thema Alex danach fallen und kehren zum Wesentlichen zurück: Heather.
Ich nenne Len die Adresse des Wanderparkplatzes und schon fädelt er sich in den Stadtverkehr ein. Im Gegensatz zu gestern müssen wir dieses Mal fast zwei Stunden fahren.
Da ich mich von meinen kreisenden Gedankenfetzen ablenken möchte, erzähle ich Len mehr über Heathers Borderline-Persönlichkeitsstörung.
Ich erkläre ihm, dass Impulsivität, instabile zwischenmenschliche Beziehungen, schnelle Stimmungswechsel und ein schwankendes Selbstbild zu den typischen Symptomen einer Borderline-Störung zählen.
„Heather führt ein Leben wie auf einer Achterbahn. Ihre Gefühle, Gedanken und Einstellungen sind meistens instabil und inkonstant."
Danach berichte ich Len von den fehlgeschlagenen Therapieversuchen. „Zwar haben die Selbstverletzung und die Suizidgedanken nachgelassen, doch Heather wird noch immer von Halluzinationen und der Angst, verlassen zu werden, heimgesucht."
Es tut weh, zu realisieren, dass meine Schwester vermutlich nie ein normales Leben führen wird. Anastasia und ich werden sie auch dann noch im Alltag begleiten müssen, wenn ihre Borderline-Persönlichkeitsstörung als geheilt angesehen wird.
Hoffentlich wird es Heather trotzdem irgendwann möglich sein, ihr Leben zu lieben.
Nachdem ich meine Erzählung beende und Len keine weiteren Nachfragen stellt, werden wir von einem Schleier des Schweigens umhüllt. Mit jeder Sekunde, die verstreicht, wächst in mir der Drang, mehr über Len und seine Vergangenheit zu erfahren. Vor allem sein Alkoholkonsum nagt wie ein Parasit an meiner Seele.
Es dauert noch ein paar Minuten, bis ich mich schließlich traue, meiner Neugierde nachzugeben und Len zu fragen: „Sei mir bitte nicht böse, Len, aber ist es normal für dich, so viel Alkohol zu trinken, bis der Rettungswagen kommen muss?"
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Len seine Stirn in Falten legt. Scheinbar hat er nicht mit dieser Frage gerechnet.
„Ich bin kein Heiliger, Piper", räuspert er sich leise. „Alkohol ist im Laufe der Jahre wie Wasser für mich geworden. Es war nicht das erste Mal, dass mich ein Rettungswagen wegen einer Alkoholvergiftung ins Krankenhaus bringen musste."
Ich schlucke schwer, denn ich habe mir definitiv eine andere Antwort gewünscht.
Warum wirft Len sein Leben so leichtfertig weg? Mit einer Alkoholvergiftung ist nicht zu spaßen!
„Bis zu meinem 15. Lebensjahr habe ich in einem Kinderheim gelebt. Dort habe ich auch die Shadows kennengelernt. Bis heute sind sie die einzige Familie, die ich jemals hatte."
Lens Augen füllen sich mit Tränen. Ich kann ihm ansehen, dass es ihm unfassbar schwerfällt, weiterzusprechen.
„Meine Erzeugerin war erst 17 Jahre alt, als sie mich zur Welt gebracht hat. Scheinbar war ich ihr nicht wichtig genug, denn sie hat mich einfach abgeschoben. Erst vor sechs Jahren ist sie wieder in mein Leben getreten, indem sie mich aus dem Heim geholt hat", spricht Len mit zittriger Stimme weiter.
Am liebsten würde ich ihm sagen, dass er diesen schrecklichen Abschnitt seiner Vergangenheit nicht mit mir teilen muss, doch ein riesiger Kloß in meinem Hals hindert mich daran.
Es zerreißt mir das Herz, zu wissen, dass Lens Kindheit nicht von Glück und Spaß geprägt war. In jungen Jahren wurden Narben auf seine Seele gebrannt, die niemals richtig verheilen können.
„Sie und ihr aktueller Lebensgefährte trinken regelmäßig Alkohol. Keine Ahnung, wie sie es überhaupt geschafft haben, dass ich bei ihnen leben darf." Um seine Worte zu unterstreichen, zuckt Len einmal mit den Schultern. „Manchmal habe ich Flaschen aus ihrem Vorrat geklaut und sie heimlich zu den Treffen mit den Shadows geschmuggelt. Wir haben Gefallen daran gefunden, uns zu betrinken, und so sind wir ziemlich schnell in die Abhängigkeit gerutscht. Nur ein Jahr später kamen dann auch Drogen dazu. Und nein, meine Erzeugerin hat das nicht interessiert."
Mit jedem Wort, das Lens Lippen verlässt, zieht sich der Knoten in meinem Magen enger zusammen.
„Ich weiß, wie schädlich Alkohol ist, aber ich bin schon zu tief darin ertrunken, als dass ich mich noch von dem Rauschgift befreien könnte."
Plötzlich wirkt Len total verzweifelt. In seinen glasigen Augen spiegeln sich Angst und Ungewissheit wider.
Eigentlich brennen noch unzählige Fragen auf meiner Zunge, doch ich zwinge mich dazu, sie allesamt hinunterzuschlucken. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um Lens Psyche noch mehr zu foltern.
„Weißt du was?" Mein Mund handelt schneller als mein Verstand. „Wenn du möchtest, werde ich dir dabei helfen, von dem Alkohol wegzukommen."
Es dauert keine zwei Sekunden und schon richtet Len seinen intensiven Blick auf mich. Zweifel säumen seine Iriden und werden von den herunterhängenden Mundwinkeln bestärkt.
„Das ist mein Kampf, Piper. Den muss ich allein austragen."
„Nein!", widerspreche ich ihm. „Manchmal muss man auch stark genug sein und Hilfe annehmen."
Statt nun eine Antwort zu erhalten, schweigt Len. Mit gerunzelter Stirn blickt er auf die Straße und konzentriert sich auf den Verkehr.
Hoffentlich denkt er über meine Worte nach, denn ich würde ihm sehr gerne aus der Dunkelheit helfen.
Nicht nur, weil mir Len ebenfalls seine Hilfe anbietet, sondern viel mehr, weil ich Len ein erfülltes Leben ohne Probleme wünsche.
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